Herausforderungen des territorialen Friedens sind Thema an der UNO

Mrz 27, 2020

Von Stephan Suhner

Unvollständiger Friedensprozess betrifft Regionen wie den Bajo Cauca unverhältnismässig stark

Am 27. Februar 2020 waren zwei Vertreter der kolumbianischen Menschenrechtsplattformen, Ana Maria von der Kolumbianischen Juristenkommission und Jairo, Bauernführer aus Antioquia und Delegierter der CCEEU, in Bern zu Besuch. Die beiden waren anlässlich der UNO-Menschenrechtssession in Genf in die Schweiz gekommen. Sie beklagen insbesondere eine unvollständige Implementierung des Friedensabkommens und eine militaristische Schutzpolitik. In Regionen wie dem Bajo Cauca hat das für die Zivilbevölkerung gravierende Folgen. Die ask! organisierte für die beiden Gäste ein Lobbygespräch mit verschiedenen Vertretern der Bundesverwaltung und einen Austausch mit NGOs und führte das nachfolgende Interview. Aus Sicherheitsgründen wird der richtige Name des Vertreters der Koordination Kolumbien Europa USA CCEEU nicht erwähnt.     

Ask: Was sind eure Hauptanliegen für die Menschenrechtssession an der UNO und für eure Lobbytermine?

Ana Maria: Wir haben drei Hauptsorgen. Erstens, die unvollständige Implementierung des Friedensabkommens und die erneute Verschärfung des internen Konfliktes, zweitens die sich verschlechternde Situation der Menschenrechte und drittens, speziell die Risiken mit denen die MenschenrechtsverteidigerInnen konfrontiert sind.

Ask: Was sind die Probleme bei der Implementierung des Friedensabkommens?

Ana Maria: Die Regierung von Präsident Duque implementiert nur Teile, nicht das ganze Abkommen gleichmässig. Beim ersten Punkt des Abkommens, bei der Agrarreform, wird insbesondere in Infrastruktur investiert, wie Erschliessungsstrassen oder Elektrifizierung, aber kaum in Landumverteilung. So wird z.B. zwar die Titulierung der Grundstücke überprüft und wo es noch keine Titel gibt, werden diese formalisiert. Hingegen gibt es noch kaum Ländereien im Bodenfonds, aus dem Landlose Grundstücke erhalten sollten. Auch bei der Wiedereingliederung der ehemaligen FARC-Kämpfer gibt es Probleme, teilweise mit der Finanzierung produktiver Projekte, teilweise mit der Sicherheit. Das Sicherheitsproblem kann so weit gehen, dass die ehemaligen Guerilleros das Reintegrationszentrum in Ituango verlassen müssen, da sie dort keine Garantien haben.

Beim zweiten Punkt, der politischen Partizipation, gibt es z.B. immer noch keine speziellen Parlamentssitze für Opfer von Menschenrechtsverletzungen und Personen aus besonders vom Konflikt betroffenen Gebieten. Die traditionellen Parteien befürchten einen Verlust an Macht und Einfluss. Beim dritten Punkt gibt es einige Fortschritte bei der Bekämpfung oder Auflösung der paramilitärischen Gruppen. So wurde eine Eliteeinheit der Sicherheitskräfte aufgebaut sowie eine Sondereinheit der Staatsanwaltschaft. Noch fehlen aber Resultate.

Ask: Wie steht es um die Menschenrechte und deren Verteidiger?

Ana Maria: Das Nichterfüllen der Verpflichtungen aus dem Friedensvertrag schafft Risiken, die Lebensbedingungen verschlechtern sich und ganze Regionen werden sich selbst überlassen. Das ELN ist wieder präsenter, es gibt Paramilitärs und dissidente FARC-Gruppen. Es kommt zu Vertreibungen, eingeschlossenen Gemeinschaften und Morden. Zudem sind die staatlichen Sicherheitskräfte wieder vermehrt in Menschenrechtsverletzungen wie gewaltsames Verschwindenlassen und sogenannte falsos positivos oder sexualisierte Gewalt verwickelt. Die Vision des Friedensabkommens war, die Regionen von unten zu entwickeln und zu stabilisieren, von der Basis her und mit der Bevölkerung. Duque wählt den gegenteiligen Weg, mit immer mehr Soldaten will er von oben herab die Regionen stabilisieren. Armeepersonal verwaltet quasi diese Regionen.

Beim Schutz von MenschenrechtsverteidigerInnen werden die im Friedensabkommen vorgesehenen Schutzmechanismen nicht angewendet. Die Regierung stellte den Angepassten Aktionsplan (Plan de Acción Oportuna PAO) vor, wo die Zivilgesellschaft nicht teilhaben kann und auch die internationale Gemeinschaft aussen vor bleiben muss. Es handelt sich um Schutz durch mehr Sicherheitskräfte. Der Dialog mit der Regierung in diesen Themen ist sehr schwierig, wir bekommen kaum Zugang zur Innenministerin, geschweige denn zu Präsident Duque. Dementsprechend werden auch unsere Vorschläge nicht berücksichtigt.

Ask: Aber die Regierung gibt doch vor, Resultate vorweisen zu können, dass sich die Menschenrechtssituation verbessere?

Ana Maria: Die Regierung vergleicht Äpfel mit Birnen. Sie vergleicht die Morde in einem Wahljahr mit dem Jahr ohne Wahlen, und da sind die Zahlen natürlich tiefer, aber das hat nichts mit dem PAO zu tun. Die Regierung schummelt auch bei den Strafuntersuchungen durch die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft priorisiert bei den Nachforschungen die Morde an MenschenrechtsverteidigerInnen seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens, seit November 2016. Das sind 306 Fälle, von denen die Regierung behauptet, gut 50% seien aufgeklärt. Nur 33 Fälle endeten aber mit einer Verurteilung, meist des direkten Täters, der den Abzug betätigte. In vielen Fällen existiert erst ein Verdacht oder allenfalls eine Anklage. Die Gründe für die Morde und die Auftraggeber bleiben sowieso unbekannt. Leider werden durch diese Priorisierung auch die älteren Mordfälle und die anderen Menschenrechtsverletzungen wie Drohungen und so weiter nicht aufgeklärt.

Ask: Du hast vorhin erwähnt, dass Armeepersonal gewisse Regionen verwaltet. Was hat es damit auf sich?

Ana Maria: Die Regierung setzt zwar offiziell auf die Entwicklungspläne mit territorialem Fokus PDETs, versucht aber, verstärkt ihr Modell der Sonderzonen zur integralen Intervention ZEII durchzusetzen und auch die Gelder dahin gehend umzuleiten. Diese Zonen, die neu auch Zonas Futuro genannt werden, werden von einem Armeekommandanten verwaltet, der z.B. auch über die Investitionen und die produktiven Projekte entscheidet. Statt territorialem Frieden wird zuerst über die Militarisierung die Region stabilisiert und danach unter Armeeleitung „entwickelt“. Dieses Modell hatte schon Ex-Präsident Alvaro Uribe durchgeführt.

Ask: Jairo, du vertrittst ja für die CCEEU eine Region. Wie wirken sich die von Ana Maria beschriebenen Probleme auf deine Herkunftsregion Bajo Cauca in Antioquia aus?

Jairo: Unsere Probleme sind gravierend und vielfältig. Wir haben Präsenz des ELN und zwei rivalisierende paramilitärische Gruppen, die Caparrapos und die Autodefensas Gaitanistas, die sich gegenseitig Kämpfe liefern. Zudem ist die Militärpräsenz hoch, ohne dass sich jedoch die Sicherheit verbessern würde. Die bewaffneten Gruppen kämpfen um strategische Korridore und die natürlichen Ressourcen, unter anderem produziert meine Region am meisten Gold in Antioquia, und es gibt viele Kokapflanzungen. Es kommt zu gezielten Tötungen, zu massiven und auch individuellen Vertreibungen etc. Der Bajo Cauca hat die grösste Anzahl Morde pro 1000 Einwohner vom Departement Antioquia, das selber schon zu den gewalttätigsten Departementen Kolumbiens gehört. Zudem gibt es verschiedene Beispiele, wie die staatlichen Sicherheitskräfte mit paramilitärischen Gruppen zusammenarbeiten. So ist der Polizeikommandant von Caucasia wegen Zusammenarbeit mit Paramilitärs verhaftet worden. Die Gaitanisten brüsten sich damit, dass sie zusammen mit der Armee die Caparrapos bekämpft hätten. Und zivile Vertreter der Gaitanistas laden in den Weilern zu zivil-militärischen Aktionstagen mit der Armee ein.

Ask: Was bedeutet das für die Arbeit von euch sozialen Führungspersonen und MenschenrechtsverteidigerInnen?

Jairo: Viele soziale Führungspersonen sind bedroht, einige mussten die Gegend verlassen, es gab auch Morde an Führungspersonen, v.a. im Zusammenhang mit der freiwilligen Kokasubstitution. 2019 wurden 13 Führungspersonen gewaltsam vertrieben, 27 wurden bedroht. Grundsätzlich müssen wir z.B. für Workshops in den Weilern bei den jeweiligen bewaffneten Gruppen um Erlaubnis ersuchen und uns gut überlegen, was wir an den Workshops tun und sagen können, da diese beobachtet werden. Auch die Reisen in der Gegend sind für uns erschwert und mit Risiken verbunden. Aber auch Regierungsfunktionäre, beispielsweise von der Staatsanwaltschaft, müssen für Reisen in die Gegend Erlaubnis bekommen. Kandidaten für das Bürgermeisteramt können nur mit Erlaubnis der illegalen bewaffneten Gruppen Kampagne betreiben.

Das Vorgehen der Sicherheitskräfte und der Strafverfolgungsbehörden ist eher ineffizient. Geschah z.B. ein Mord, nimmt beispielsweise die Polizei einige einfache Mitglieder der Caparrapos fest, und sagt dann, dass unter den Festgenommen der Mörder war. Die Leute wissen aber, dass es nicht stimmt. Zudem erhalten die festgenommenen einfachen Mitglieder keine hohen Strafen, maximal 48 Monate oder Hausarrest (casa por carcel), kommen so rasch wieder frei und beginnen von neuem mit den kriminellen Aktivitäten. Zudem werden die Chefs der Paramilitärs kaum je festgenommen. Es gibt Beispiele, wo die Aufenthaltsorte denunziert wurden, die Sicherheitskräfte aber nichts unternommen haben, wie 2019 als die Verstecke von Alias Cain und Alias Flechas denunziert wurden, aber nichts passierte. Sie behaupten, sie wüssten nicht, wo sich die paramilitärischen Kommandanten aufhalten. Das ist aber eine glatte Lüge.

Ask: Du hast schon die freiwillige Substitution der Kokapflanzungen erwähnt, eines der zentralen Elemente des Friedensabkommens. Wie läuft die Implementierung im Bajo Cauca?

Jairo: Das ist ein weiteres schwieriges Thema. Unsere Bauerngemeinschaften haben sich relativ früh, im April 2017, für eine Teilnahme am nationalen integralen Programm zur Substitution PNIS entschieden. Kurz vor der Unterzeichnung des kollektiven Abkommens wollten die Sicherheitskräfte die Koka mit Gewalt ausrotten. Es kam zu Tumulten, aber die Bevölkerung konnte sich schlussendlich mit der freiwilligen Substitution durchsetzen. Am 1. September 2017 hätten die individuellen Abkommen in den abgelegenen Weilern unterzeichnet werden sollen, aber wegen den Drohungen durch bewaffnete Gruppen mussten sich sogar die Regierungsfunktionäre des PNIS zurückziehen. Gemeinsam beschlossen wir, die Abkommen in den Gemeindehauptorten ohne viel Lärm unterzeichnen zu lassen. 4311 Bauernfamilien und Arbeiter in den Pflanzungen nahmen teil. Speziell ist, dass auch Raspachines (Landarbeiter, die die Kokablätter ernten) teilnehmen können, ihnen werden andere Arbeitsstellen vermittelt.

Das Abkommen sah vor, dass die Familien ihre Koka ausreissen, und dass die Armee die übrig gebliebenen Kokabüsche ausreisst, dies um das Territorium zu schützen. 90% der Koka wurde so freiwillig ausgerottet. Der PNIS sieht dann ja zweimonatliche Zahlungen von zwei Millionen Pesos vor, damit sich die Familien Nahrungsmittel und Güter des täglichen Bedarfs kaufen können. Dann gibt es einmalig 1,8 Millionen Pesos, um kurzfristig Grundnahrungsmittel für den Eigenbedarf anzubauen. Je neun und zehn Millionen gibt es dann für Mittel- und langfristige Projekte zur Einkommensgenerierung. Die Bauern können eigentlich die Projekte selber bestimmen, sollten aber technische Beratung erhalten, es müssen Vermarktungsstudien gemacht und die Böden analysiert werden. Die Bodenfruchtbarkeit hat teilweise durch die chemische Ausrottung oder durch falsche landwirtschaftliche Praktiken abgenommen, so dass nicht überall alles wächst.

Ask: Eine Zwischenfrage: Habt ihr als Bauernorganisation eigene Ideen und Entwicklungspläne, z.B. für die Kokasubstitution?

Jairo: Ja, klar. So schlugen wir vor, dass die 1,8 Millionen-Pesos-Projekte kollektiv durchgeführt werden, im Anbau wie auch in der Nacherntebearbeitung, z.B. bei der Herstellung von Panela (Rohzucker) oder durch eine gemeinsame Dreschmaschine für den Reis. Die Gemeinschaften waren damit einverstanden, die Regierung lehnte aber eine kollektive Umsetzung des kurzfristigen Nahrungsmittelanbaus ab. Wir haben das Gefühl, dass die Regierung uns als Konsumenten erhalten will und wenig Interesse hat, dass wir wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen können. Generell streben wir als Bauernorganisation eine Landwirtschaft an, die den regionalen Markt und nicht nur die Ernährungssicherheit, sondern auch die Ernährungssouveränität berücksichtigt. Bei den längerfristigen Projekten setzten dann recht viele Bauern auf Kakao, die Mehrheit aber entscheid sich für Viehzucht. Da war aber das Problem, dass wegen der unsicheren Lage viele Familien nur auf das Vieh warteten, um es dann zu verkaufen und wegzuziehen.

Generell war die Umsetzung des PNIS schwierig. Von den 4113 Familien haben etwa 1500 noch keine technische Beratung erhalten. Die Regierung bezahlte die zweimonatlichen Subventionen und die 1,8 Millionen für den Nahrungsmittelanbau für den Eigenbedarf, nicht aber die mittel- und längerfristigen Projekte. Die Frist dafür war zwei Jahre, sie lief im September 2019 eigentlich ab. Die Familien im PNIS-Programm stehen unter vielfältigem Druck, teilweise haben sie wirtschaftliche und finanzielle Probleme wegen den nicht erfolgten Zahlungen, nachdem sie die Koka ausgerissen haben. Es gibt auch Fälle von vertriebenen Familien, und mit der Vertreibung oder dem Wegzug unter ökonomischem Druck verlieren sie jeglichen Anspruch im PNIS. Als die bewaffneten Gruppen merkten, dass sie die freiwillige Substitution nicht verhindern konnten, begannen sie, die Bauernfamilien zu erpressen, jede Familie muss 10% der zwei Millionen abgeben. Dabei sind schon zwei Millionen wenig um den Grundbedarf einer Familie für zwei Monate zu decken. Die Regierung warf den Bauernfamilien dann zynischer Weise vor, sie würden mit dem Geld aus dem PNIS den Terrorismus finanzieren.

Obwohl unsere Region für einen PDET priorisiert ist, hat die Armut und Marginalisierung noch nicht abgenommen. Solange sich die Lebensumstände der Bevölkerung nicht verbessern, wird es weiterhin illegalen Goldabbau und Koka geben. Wir haben auch das Gefühl, dass Land von Vertriebenen durch andere, neue Leute zum Kokaanbau genutzt wird. Generell ist das Land im Bajo Cauca extrem umkämpft. Einerseits gibt es Anstrengungen, Land zu restituieren, andererseits sind Tausende Hektaren für Bergbau konzessioniert und die Paramilitärs verteidigen das Land immer noch. Der Weg zu einem umfassenden Frieden ist für uns noch lange!

Ask: Ana Maria und Jairo, vielen Dank für das Interview. Wir wünschen euch viel Erfolg bei den Verhandlungen an der UNO.