« Es wird von überall her geschossen» – Zunahme der Gewalt im Gebiet der Awá in Nariño

Feb 13, 2023 | Allgemein, Feature, Frieden, Frieden von unten, Konfliktdynamik, Menschenrechte

Die ask! begleitet[1] seit mehreren Jahren das indigene Volk der Awá, dessen Territorium im Südwesten von Kolumbien liegt, und macht regelmässig auf die schwierige Sicherheits- und Menschenrechtssituation, mit denen die Awás konfrontiert sind, aufmerksam. Leider waren Ende 2022 die Awás wieder mit beunruhigenden Schlagzeilen in den kolumbianischen Medien. Ende Januar-Anfang Februar 2023 unternehmen nun drei Vertreter der UNIPA (Unidad Indígena del Pueblo Awá-eine NGO der Awá) eine europäische Speakertour und werden 3 Tage in der Schweiz sein. Hier treffen sie sich mit verschiedenen Stellen der UNO, wie zum Beispiel das UNO Menschenrechtskommissariat, mit Botschaften mehrerer Länder, mit dem EDA und mit der Internationalen Kampagne gegen Antipersonenminen ICBL (International Campaign to Ban Landmines) um auf die Menschenrechtsituation der Awá aufmerksam zu machen.   

Trotz des Regierungswechsels und der Politik des “Totalen Friedens” von Gustavo Petro und Francia Márquez ist ein friedliches Kolumbien, und besonders ein friedliches Departement Nariño noch ein sehr entferntes Ziel. Ende 2022 nahmen in Nariño die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen bewaffneten Gruppen (unter anderem mehrere FARC-Dissidenzen), die sich um die Kontrolle über den Drogenhandel streiten, wieder zu. Die UNIPA denunzierte in einer Medienmitteilung[2]  im November 2022 die Zunahme der Gewalt und die Gewalttaten, die von bewaffneten Gruppen in den letzten Monaten verübt wurden.

Die UNIPA verurteilte “diese neuen Gewalttaten, die sich in unseren Gemeinden ereignen und die die Gefahr der physischen und kulturellen Auslöschung der Awás, der wir seit Jahrzehnten ausgesetzt sind, noch verschärfen”. Die Awás erklären, dass in verschiedenen ihrer Reservate in den Gemeinden Tumaco und Barbacoas mehrere bewaffnete Akteure stark präsent sind und immer wieder Antipersonenminen auf den Verbindungsstraßen zwischen den Dörfern legen, wodurch die Mobilität auf den Wegen, auf denen sich die Familien täglich fortbewegen, eingeschränkt wird. Dieser Umstand hat mehrere Familien dazu gezwungen, ihr Dorf zu verlassen, und andere können ihre Dörfer deswegen nicht mehr verlassen. Letztes Jahr starben zwei Gemeinschaftsmitglieder und mehrere wurden verletzt, weil sie auf eine Mine getreten sind. Dieses Jahr kam am 29 Januar 2023 ein Gemeinschaftsmitglied wegen einer Mine ums Leben.  

Die Awás berichten auch, dass wegen den Schiessereien zwischen den Gruppen die Gemeinschaften ihre Häuser und Dörfer während Stunden nicht mehr verlassen können. Manchmal kämpfen die Gruppen ganz in der Nähe der Häuser der Gemeinschaften. Nahrungsmittelkulturen werden verwüstet, Nutztieren werden getötet und Gemeinschaftsräume werden aufgrund des Schusswechsels beschädigt. Die Auseinandersetzungen zwischen den bewaffneten Gruppen finden zudem auf einem immer grösseren Territorium statt, bis zum Fluss Mira (nah der Grenze mit Ecuador). Rund 600 Menschen aus den indigenen und afrokolumbianischen Gemeinschaften mussten in eine humanitäre Unterkunft im Dorf Llorente in der ländlichen Region von Tumaco und in andere benachbarte Reservate umziehen.

Ende November 2022 waren es mindestens 56 Familien mit 198 Personen, die sich noch in den Gebieten befanden, in denen die Kämpfe andauerten. Während Tagen und Wochen konnten sie ihre Dörfer nicht verlassen und hatten kaum Zugang zu Nahrung und Trinkwasser.

Diese bewaffneten Auseinandersetzungen, Gewalt und Drohungen gegen die Gemeinschaften und die Präsenz von Antipersonenminen schränken auch das Ausüben der Kultur und der traditionellen Praktiken der Awás ein, die integraler Teil ihres Lebens sind. Die Gemeinschaften haben nur noch beschränkten Zugang zu lebenswichtigen Räumen für die Aussaat und Ernte, was die Ernährungssicherheit und -souveränität einschränkt. Der Zugang zu Flüssen und Bächen, der für die Ausübung des Fischfangs und die Versorgung mit Wasser notwendig ist, ist weiter erschwert.

Die UNIPA fordert Respekt für ihr Territorium und für das Leben des Awá Volkes und erinnert an den rechtlichen Rahmen, der die indigenen Völker und ihre Gebiete spezifisch schützt und an das humanitäre Völkerrecht, das besagt, dass die Zivilbevölkerung nicht in bewaffnete Auseinandersetzungen und kriegerische Handlungen verwickelt werden darf. Dieser rechtliche Rahmen wurde mehrmals vom Verfassungsgericht[3] bekräftigt. Im März 2011 schon wandte sich auch der interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof  an den kolumbianischen Staat und forderte, dass dieser Sofortmaßnahmen ergreife, um das Leben der Mitglieder der indigenen Gemeinschaft des Awá-Volkes in den Departementen Nariño und Putumayo zu schützen, die von der Gefahr der Antipersonenminen in ihrem Gebiet betroffen sind. Insbesondere wurde festgestellt, dass diese Maßnahmen zumindest Minenräumaktionen in diesem Gebiet und die Aufklärung der Bevölkerung über die Gefahr von Antipersonenminen umfassen sollten.[4]

Im Dezember 2022 prangerten das Colectivo Sociojurídico Orlando Fals Borda, die Organisation der indigenen Reservate des Awá-Volkes des Pazifiks und das Menschenrechtsnetzwerk der Pazifikküste von Nariño[5] in einer Medienmitteilung die Nachlässigkeit der nationalen, regionalen und lokalen Behörden und Institutionen an, die die schwierige humanitäre Lage, in der sich diese Gemeinschaften befinden, nicht ernst genommen und als dringend erachtet haben: Schon im September 2022 löste das Büro des Ombudsmannes (Defensoría del Pueblo) eine Frühwarnung aus, die auf die bewaffneten Auseinandersetzungen aufmerksam machte, die seit mehreren Wochen in der Region stattfanden. Die Frühwarnung sei wegen den Kämpfen zwischen illegalen bewaffneten Gruppen, der Gefahr von Tötungen und Drohungen gegen die Gemeinschaften und die indigenen Behörden sowie den Einschränkungen in der Mobilität und der Vertreibungen ausgelöst worden. Die Rekrutierung von Kindern durch die bewaffneten Gruppen sei eine weitere Gefahr. «Diese Situation wirkt sich unmittelbar auf die territorialen Rechte, die Autonomie und die politische Beteiligung dieser ethnischen Gemeinschaften aus», sagt die Defensoría in ihrer Medienmitteilung.[6]

Nach dieser Frühwarnung war dann im November 2022 von der nationalen Regierung der stellvertretende Innenminister Gustavo García in der Pazifikregion anwesend. Gustavo García drückte sein Besorgnis über die schwerwiegenden Menschenrechtsprobleme aus und erklärte, er habe zusammen mit den Sicherheitskräften und anderen staatlichen Institutionen mit den Gemeinschaften und mit den internationalen Akteuren, die die Situation vor Ort beobachten, Gespräche geführt. Er wies darauf hin, dass die historische Vernachlässigung dieser Gemeinschaften durch den Staat sich nicht mit ein paar Massnahmen nach diesen Gesprächen rückgängig machen lässt. Aber mit dieser Regierung des Wandels seien sie (die Regierung Petro) nun entschlossen, in Koordination und Zusammenarbeit mit den Bürgermeistern und des Gouverneurs (von Nariño) Veränderungen herbeizuführen und zu versuchen, effizient die Empfehlungen, die von Gemeinschaften und zivilgesellschaftlichen Akteuren gemacht worden seien, umzusetzen.[7]

Der Espacio de Cooperación para la Paz (Plattform für die Zusammenarbeit für den Frieden-Verbund von internationalen NGOs, die sich in Kolumbien für den Frieden einsetzen), dem die ask! angehört, forderte seinerseits die zuständigen lokalen, departementalen und nationalen Behörden auf, sofortige Maßnahmen zu ergreifen, um das Leben der betroffenen Menschen zu schützen und unterstütze die Forderungen der indigenen Autoritäten der Awá an das Innenministerium, unverzüglich den Runden Tisch zur Einigung mit dem Volk der Awá einzuberufen, der durch das Dekret 1137 von 2010[8] eingerichtet wurde, und die dort eingegangenen Verpflichtungen umzusetzen.

Das Espacio de Cooperación para la Paz rief auch die in Kolumbien anwesende internationale Gemeinschaft, das Diplomatische Korps, die Vereinten Nationen und die Mission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) auf, die nationale Regierung aufzufordern, im Rahmen der Suche nach dem totalen Frieden eine umfassende Antwort auf die Forderungen des indigenen Awá-Volkes zu geben.[9]

UNIPA hofft nun mit der Speakertour in Europa die internationale Gemeinschaft an ihre Situation zu erinnern und sie zu bewegen, den Friedensprozess sowie die Bestrebungen der Regierung, konkrete Lösungen zur Umsetzungen der Forderungen der Awás zu finden, zu unterstützen. Auch hoffen sie, dass nun konkrete Schritte für eine humanitäre Minenräumung in ihren Gebieten unternommen werden, damit sie endlich wieder ihre Pfade in Sicherheit begehen können.

Weiter Informationen unter:

Comunidad indígena awá denuncia incremento de la violencia en Nariño – Infobae 26.11.2022

Denuncian delicada situación de violencia contra pueblo awá en Nariño – Otras Ciudades – Colombia – ELTIEMPO.COM 10.12.2022

Comunidad awá en Nariño denuncia aumento de violencia en su territorio | RCN Radio 25.11.2022

 

[1] Organisation von Speakertouren in der Schweiz, Unterstützung und Verbreitung von Medienmitteilungen und Protestbriefen, Kontakt erstellen zwischen der Vertretung der Awás und der UNO und anderen Akteuren, etc.

[2] Unidad Indígena Del Pueblo Awá Unipa | Pasto | Facebook 25.11.2022

[3] Siehe Autos 004/2009 (A004-09 Corte Constitucional de Colombia), 174/2011 (A174-11 Corte Constitucional de Colombia) und 620/2017 (A620-17 Corte Constitucional de Colombia)

[4] A174-11 Corte Constitucional de Colombia

[5] DENUNCIAMOS LA SITUACIÓN DE CRISIS HUMANITARIA EN EL PACÍFICO NARIÑENSE | Colectivo Sociojurídico Orlando Fals Borda (cofb.org.co) 07.12.2022

[6] Defensoría del Pueblo emitió Alerta Temprana por riesgos para el Pueblo Awá y Consejos Comunitarios en Nariño, Putumayo y Cauca – Defensoria

[7] Comunidad awá en Nariño denuncia aumento de violencia en su territorio | RCN Radio 25.11.2022

[8] DECRETO 1137 DE 2010 (suin-juriscol.gov.co)

[9] Facebook