“Es wird keinen vollständigen Frieden geben, bis wir die verschwundenen Personen nicht wieder bei uns haben” Interview mit Cesar Santoyo vom Colectivo Orlando Fals Borda

Nov 9, 2022 | Feature, Frieden, Wahrheit & Gerechtigkeit

Cesar Libardo Santoyo Santos, Direktor der kolumbianischen Nicht-Regierungsorganisation (NRO) Colectivo Socio jurídico Orlando Fals Borda, war Ende 2021 auf einer Speakertour in Europa, zusammen mit seiner Arbeitskollegin Deidania Perdomo Hite. Sie nahmen auch an mehreren Anlässen in der Schweiz teil. Diese fanden im Rahmen der ask! Informationskampagne zu 5 Jahre Friedensabkommen zwischen der FARC-EP Guerrilla und der kolumbianischen Regierung statt. Was sind heute die Herausforderungen, die Fortschritte und Hoffnungen und was ist die Rolle der internationalen Gemeinschaft bei der Suche nach den Verschwundenen?

Cesar, erinnere uns was die Themenschwerpunkte des Colectivo Orlando Fals Borda (COFB) sind?

COFB ist eine Menschenrechtsorganisation, die vor 13 Jahren gegründet wurde. Unsere Arbeit konzentriert sich auf die juristische und psychosoziale Begleitung von Opfern des Konfliktes. Wir machen Lobbyarbeit, damit die Rechte der Opfer respektiert und umgesetzt werden. Wir berichten auch über Fälle von Menschenrechtsverletzungen, wie zum Beispiel während dem bewaffneten Streik des Clan del Golfo im Mai dieses Jahres.

Einer unserer Themenschwerpunkte ist die Suche nach den Verschwunden. Auf den Friedhöfen Kolumbiens sind zahlreiche unidentifizierte Personen begraben. Viele sind Personen, die im Zusammenhang mit dem Konflikt verschwunden oder gewaltsam zum Verschwinden gebracht worden sind. Das Innenministerium schätzte 2018 die Anzahl unidentifizierte Personen auf 426 Friedhöfen auf 326’000 Personen. Die Wahrheitskommission ihrerseits berichtet von über 121’000 deklarierten Fällen von Personen, die zwischen 1985 und 2016 gewaltsam verschwunden gelassen wurden, schätzt aber die reellen Zahlen auf über 200’000 Personen. Wir versuchen dazu beizutragen, dass die auf den Friedhöfen begrabenen Personen identifiziert und ihren Familien übergeben werden. Wir arbeiten dabei eng mit der Staatsanwaltschaft und den Institutionen der Übergangsjustiz zusammen, vor allem mit der nationalen Kommission für die Suche nach verschwundenen Personen, die vom Friedensabkommen geschaffen wurde. Wir arbeiten vor allem in Villavicencio und in den Llanos Orientales (im Südosten Kolumbiens) und im Departement Nariño. Dort arbeiten wir mit Netzwerken von lokalen Organisationen zusammen. In beiden Regionen sind die Anzahl Personen, die im Zusammenhang mit dem Konflikt verschwunden gelassen worden sind, besonders hoch. In Nariño machen wir zur Zeit eine Studie auf den Friedhöfen der Städte Pasto und Ipiales zu nicht identifizierten verschwunden Migrant*innen, besonders Migrant*innen aus Venezuela. Wir arbeiten auch an einer Analyse und Diagnose über die Mechanismen des Verschwindenlassens in fünf Gemeinden der Llanos Orientales.

Bisher konnten wir fast 170 Familien ihre verstorbenen Vermissten wieder zurückgeben. Dies sind immer emotional sehr starke Momente.  Die Rückgabe der Leichname ermöglicht den Familien, den Trauerprozess wirklich beginnen zu können. Wir haben es aber auch geschafft, zwei lebende Personen mit ihren Familien wieder zusammenführen zu können. Wir haben zusammen mit den Behörden eine Methodologie entwickelt, die ein effizienteres Abgleichen von forensischen Informationen (unter anderem Fingerabdrücke der Verstorbenen) mit den Informationen der Registraduría (Anm. d. Red. Äquivalent eines nationalen Amtes für Bevölkerungsdienste) erlaubt. So konnten 300 Personen identifiziert werden. Wir haben die Fotos dieser Personen publiziert und so konnten viele Familien ihre verstorbenen Familienangehörigen wieder finden.

Beispiele anderer Aktivitäten des COFB sind der Bericht zum Landraub von Gebieten indigener Gemeinschaften durch wirtschaftliche Interessen, den wir der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden übergeben haben und die Suspendierung der Glyphosatbesprühungen von Kokafeldern im Nariño, die wir erwirken konnten.

Was sind die grössten Herausforderungen, denen ihr auf der Suche nach den Verschwunden begegnet?

Die Sicherheit ist sicher die grösste Herausforderung. Wegen des bewaffneten Konfliktes und den Drohungen durch verschiedene bewaffnete Akteure haben wir in gewissen Zonen des Departments Guaviare, im Süden des Departments Meta und in Zonen des Departments Nariño keinen oder nur sehr beschränkt Zugang. Viele unserer Mitarbeiter*innen sind Opfer von Drohungen, wie auch Deidania Perdomo, die mit mir in der Schweiz war. Die Sicherheitsmassnahmen für den persönlichen Schutz unserer Mitarbeiter*innen, die der Staat bieten kann, sind sehr beschränkt: Die Schutzprogramme der Nationalen Schutzeinheit haben nur sehr begrenzte Mittel. Wir haben die Behörden über die Drohungen, Beschattungen und Einbrüche in unsere Büros zwar informiert, aber die Behörden nehmen diese Vorfälle meistens nicht ernst und behaupten, das seien alles nur Zufälle und wäre auf gewöhnliche Kriminalität zurückzuführen.

Der bewaffnete Konflikt, entgegen dem was die vorherige Regierung der internationalen Gemeinschaft erzählte, ist ja fern davon, der Vergangenheit anzugehören. Er ist noch komplexer geworden und man weiss nicht mehr, wer wer ist. Schon nur an der Pazifikküste von Nariño gibt es acht verschiedene bewaffnete Gruppen und dazu kommt noch die häufige Kollision mit staatlichen bewaffneten Akteuren. Den sicheren Zugang zu allen Gemeinschaften für unsere Mitarbeiter*innen zu garantieren ist unter diesen Umständen äusserst schwierig.

Der fehlende politische Wille und Unterstützung gewisser Behörden für die Suche nach den Verschwundenen waren bisher weitere Herausforderungen. Gewisse staatliche Stellen üben Druck auf die Gerichte aus, um zu verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Unsere Arbeit wurde durch die politischen Positionen von gewissen Regierungsvertreter*innen erschwert. Zum Beispiel die ehemalige Vize-präsidentin, Martha Lucía Ramirez, hat sich geweigert, sich mit uns zu treffen, mit der Ausrede, wir hätten politische Vorurteile. Die enge Zusammenarbeit mit den Behörden ist aber von grosser Bedeutung für eine effektive Umsetzung der Menschenrechte und der Gerichtentscheide im Bereich der Suche nach den Verschwundenen. Wir haben immer den Dialog auch mit der Vizepräsidentschaft gesucht, die in diesem Bereich eine wichtige Rolle zu spielen hat. Die ehemalige Vizepräsidentin war aber zu keinem Dialog bereit. Man fragt sich, wer hier die ideologischen Vorurteile hat.

Eine weitere Herausforderung ist die Tatsache, dass in Nariño, Meta und Guaviare viele Menschen leben, die aus anderen Regionen des Landes kommen. Es ist deshalb oft schwierig, mit den Familien, die manchmal weit weg leben, in Kontakt zu treten. Wir hatten es zum Beispiel in mehreren Fällen mit Familien aus der Guajira (dem nördlichsten Department Kolumbiens) zu tun.

Wie läuft die Zusammenarbeit mit den Institutionen der Übergangsjustiz?

Generell waren die drei Institutionen der Übergangsjustiz (die Wahrheitskommission, die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden und die nationale Kommission für die Suche nach verschwundenen Personen) alle sehr offen für die Zusammenarbeit. Die Herausforderung war aber die Schaffung eines gemeinsamen effizienten Arbeitsplanes mit allen Beteiligten.

Was die Wahrheitskommission betrifft, sind wir Teil der Organisationen, die das Erbe der Wahrheitskommission und ihren Abschlussbericht in den Regionen, wo wir arbeiten, verbreiten und weiterführen werden. Dies ist eine grosse Verantwortung und Herausforderung, da der Bericht viele sehr heikle Themen und tiefe Wunden anspricht, die zu weiteren Spannungen führen können. Wir hoffen aber, dass wir die richtige Vorgehensweise finden werden, damit das Erbe der Wahrheitskommission als eine Botschaft zur Nicht-Wiederholung der Gewalt und der Menschrechtsverletzungen gehört werden wird und tatsächlich zu einem stabilen, nachhaltigen, und vollständigen Frieden beiträgt.

Die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden hadert in meinen Augen immer noch mit der Definition eines einzigen Standards, der für die Verbrechen der Guerrilla und für die Verbrechen der staatlichen Akteure gelten soll. Der aktuelle doppelte Standard macht es für die Opfer der Verbrechen, die von staatlichen Akteuren begangen wurden, schwieriger vom Gericht angehört zu werden und Angeklagte gegenbefragen zu können. Der doppelte Standard erlaubt es nicht, dass die Opfer auch tatsächlich im Zentrum der Prozesse stehen.

Mit der nationalen Suchkommission haben wir einen ständigen und engen Dialog. Die Kommission hat die zahlreichen Berichte und Informationen der Zivilgesellschaft sehr offen empfangen. Die Suchkommission setzt in den verschiedenen Regionen  Suchmechanismen und -pläne um. Wir sind aber der Überzeugung, dass die Arbeit der Kommission beschleunigt werden muss. Das Suchen und Finden von Personen ist eine sehr zeitkritische Angelegenheit. Je mehr Zeit vergeht, umso schwieriger wird es, die Personen zu finden oder gefundene unidentifizierte Personen identifizieren zu können. Noch schwieriger ist es, die Personen lebend zu finden. Unser erstes Ziel ist es ja, die Personen lebend zu finden. Aber oft, um die Prozesse zu vereinfachen, wird davon ausgegangen, dass die Personen tot sind. Das Mandat der Kommission ist zeitlich auf 20 Jahre beschränkt. Schon sind fünf Jahre vergangen. Die Erfahrungen, die in diesen fünf Jahren gesammelt wurden, müssen nun genutzt werden um in den Regionen schneller und effizienter die Verschwundenen zu suchen.

Wie kann die internationale Gemeinschaft diese Suche unterstützen?

Die Rolle der internationalen Gemeinschaft im kolumbianischen Friedensprozess ist äusserst wichtig. Nicht nur durch die finanzielle Unterstützung der Institutionen, die die Vermissten suchen und allgemein das Friedensabkommen umsetzen, aber auch um Druck auf die verschiedenen Regierungen auszuüben, damit diese die Suchbemühungen aufrechterhalten und das Friedensabkommen integral umsetzen. Auch kann die internationale Gemeinschaft die Lobbyarbeit der kolumbianischen Zivilgesellschaft unterstützen, um die Regierung zur Unterschreibung und Ratifizierung von relevanten internationalen Menschenrechtsinstrumenten zu bewegen, denen Kolumbien noch nicht beigetreten ist. Zum Beispiel hat Kolumbien die Zuständigkeit des Ausschusses über das gewaltsam verursachte Verschwinden, das vom internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen geschaffen wurde, noch nicht anerkannt.

Mit der Regierung von Ivan Duque haben wir vier wertvolle Jahre im Friedensprozess verloren. Wir versuchen einen engen Kontakt mit den Botschaften aller Länder, die den Friedensprozess unterstützen, zu pflegen, auch mit der Schweiz, und wir müssen diese Kontakte noch intensivieren. Wir wollen auf der einen Seite sicherstellen, dass die Botschaften ein realistisches Bild der Menschenrechtslage in Kolumbien haben und sich der Gewalt und Ungleichheiten im Land bewusst sind. Wir fordern die Botschaften auf der anderen Seite auch auf, genauer zu verifizieren, wie ihre finanzielle Unterstützung verwendet wird und von den kolumbianischen Behörden mehr Rechenschaft über die genaue Verwendung zu verlangen.

Wo siehst du Fortschritte in der Suche nach den Verschwundenen und wo Hoffnungen für die Zukunft?:

Die Schaffung der nationalen Suchkommission ist in sich schon ein sehr grosser Fortschritt. Mit der Kommission hat sich der Suchprozess klar beschleunigt. Die neue Regierung von Gustavo Petro hat bisher zudem einen klaren Willen gezeigt, das Friedensabkommen umzusetzen und einen wirklichen Frieden zu erreichen. Das gibt uns viel Hoffnung. Wir hoffen insbesondere, dass dieser politische Wille zu einer effektiveren Suche der Verschwunden, einer verbesserten Koordination zwischen den verschiedenen Akteuren (den lokalen, regionalen und nationalen Behörden, NRO, Familien, etc.) und zur Garantie der Partizipation der Familien im Suchprozess beitragen wird. Es wird keinen vollständigen Frieden geben, wenn wir die vermissten Personen nicht finden und wieder bei uns haben.