Drogenbekämpfung: Wiederaufnahme der Sprühflüge mit Glyphosat weiterhin umstritten

Dez 27, 2020

Von Stephan Suhner

Seitdem im Dezember 2019 das kolumbianische Justizministerium den Entwurf des Dekretes zur Wiederaufnahme der Besprühungen mit Glyphosat aus der Luft veröffentlicht hat, geht der Konflikt über die Bedingungen zur Wiederaufnahme der Sprühflüge munter weiter. 2017 hatte das Verfassungsgericht im Urteil T-236 Kriterien festgelegt, die für eine Wiederaufnahme der Sprühflüge erfüllt sein müssen. Diese Bedingungen hat das Verfassungsgericht 2019 nochmals verschärft. Die Behörde für Umweltlizenzen (ANLA) hat einen angeblich umfassenden Umweltmanagementplan erarbeitet, um mit einem Frühwarnsystem und Umwelt- und Gesundheitsexperten die allfälligen Schäden zu evaluieren.[1] Der Umweltmanagementplan mit all den Begleit- und Schutzmassnahmen muss aber noch in öffentlichen Anhörungen mit der betroffenen Bevölkerung debattiert werden. Dies ist bisher wegen der Corona-Pandemie nicht möglich gewesen. Die ANLA wollte die Anhörungen dann virtuell durchführen und setzte diese für den 27. Mai 2020 an. Dagegen erhoben soziale Bewegungen und NGOs drei Grundrechtsklagen, da auf dem Land, wo es später zu den Sprühflügen kommen würde, die effektive Teilnahme der Bevölkerung an den Anhörungen nicht garantiert sei, da es entweder kein stabiles Internet gebe oder die Leute über keine Smartphones, Tablets etc. verfügten. Derart durchgeführte Konsultationen und Anhörungen würden den gesetzlichen Ansprüchen nicht genügen. Am 18. Mai 2020 hatte ein Richter in Pasto mit einer einstweiligen Verfügung die Anhörung vom 27. Mai ausgesetzt.[2]

Nachdem zuerst weitere angesetzte Anhörungstermine erfolgreich vor Gericht angefochten werden konnten, fand nun am 19. Dezember die Anhörung über den Umweltmanagementplan für die Sprühflüge mit Glyphosat trotzdem statt (Plan de Manejo Ambiental del Programa de Erradicación de Cultivos Ilícitos mediante la Aspersión Aérea con el herbicida Glifosato (Pecig)). Wie kam es dazu? Eine auf den 1. September angesetzte Anhörung wurde von einem Richter des zweiten Verwaltungsgerichtes in Pasto erneut abgelehnt, da er weiterhin die Bedingungen für eine massive und effektive Teilnahme der Bevölkerung in virtueller Form für nicht gegeben hielt. Derselbe Richter hatte die Suspension der Anhörung im Oktober dann aber mit einem neuen Beschluss aufgehoben. Die ANLA und die Antidrogenpolizei hätten viele Beweise beigebracht, die eine ausreichende Information und Teilnahme der Bevölkerung garantieren würden, so der Richter. Die Behörden würden alles technisch und logistisch Mögliche machen, um die Teilnahme der betroffenen Gemeinschaften trotz COVID19 zu gewährleisten. Komischerweise änderte der Richter innert zwei Monaten seine Meinung fundamental. Plötzlich erachtete er den Internetzugang in ländlichen Gebieten als genügend und kam auch überraschenderweise zum Schluss, dass keine vorgängige Konsultation der Indigenen notwendig sei.[3]

In Bezug auf die Frage, ob eine vorgängige Konsultation notwendig sei, ist dem Richter wohl ein Irrtum unterlaufen, respektive liess er sich alleine von den Informationen beeinflussen, die die ANLA, die Direktionen für Ethnien und für vorgängige Konsultation des Innenministeriums sowie die Antidrogenpolizei unterbreiteten. So kam er zum Schluss, dass das Innenministerium die Bedingungen bezüglich vorgängiger Konsultation erfüllt habe und es keine neuen Sachverhaltselemente gebe, die einen Konsultationsprozess notwendig machen würden. Gemäss der Nationalen Kommission für Indigene Territorien wurden jedoch nur formell anerkannte und titulierte ethnische Territorien von den Besprühungen ausgenommen. Die Situation bezüglich heiliger Stätten, Ritualplätzen und von indigenen Gruppen für sich reklamierte Gebiete ist hingegen unklar. Tatsächlich gebe es aber 1‘133‘080 Hektaren, die in den Gebieten des Glyphosat-Sprühprogramms liegen, die sich mit Land überschneiden, die von ethnischen Gemeinschaften für sich reklamiert werden. So gebe es bei der Nationalen Bodenbehörde rund 1000 Anträge auf Bildung von indigenen Reservaten auf angestammtem, anzestralem Land. In 54 der 104 Gemeinden des Sprühprogramms gebe es Präsenz indigener Völker, die von der Regierung nicht anerkannt werden, was mindestens 40 indigene Gemeinschaften betreffe, so die Nationale Kommission für Indigene Territorien. Die Kommission kommt zum Schluss, dass das Innenministerium falsche, beschränkte Informationen verwendet und sehr wohl Land, das von Indigenen genutzt wird, von den zukünftigen Sprühflügen betroffen sein wird, weshalb ein Prozess vorgängiger Konsultation notwendig sei.[4]

Erneuter Gang vor Gericht

Nach diesem umstrittenen Gerichtsentscheid vom Oktober hat die ANLA in aller Eile zwischen dem 28. November und dem 3. Dezember siebzehn Informationstreffen mit verschiedenen Gemeinschaften bezüglich der Anhörung durchgeführt. Nach Abschluss dieser Informationstreffen hat die ANLA beschlossen, dass die Anhörung teilweise präsenziell erfolgen würde, mit einem Hauptsitz in Florencia, Caquetá, und mit 16 weiteren präsenziellen Antennen in den von den Besprühungen potentiell am meisten betroffenen Gebieten. Zudem soll die Anhörung in sozialen Netzwerken sowie in Radio und Fernsehen übertragen werden. Auch diese Anhörung versuchten die sozialen Bewegungen wie COCCAM und das Anwaltskollektiv CAJAR, Indepaz und 15 weitere Organisationen mit einer Eingabe beim zweiten Verwaltungsgericht in Pasto zu verhindern, da sie weiterhin der Ansicht sind, dass die Garantien für eine effektive Teilnahme trotzdem noch nicht gegeben sind.[5] Zusätzlich zu den schon erwähnten Argumenten gegen die Durchführung der Anhörungen betonen die Gegner, dass die Ausdehnung der Präsenzpunkte von 11 auf 17 angesichts der in 104 Gemeinden geplanten Sprühflüge völlig ungenügend sei, entspreche es doch nur gut 6% der Gemeinden. Die Übertragung über soziale Netzwerke und Radio/Fernsehen sei zudem eine Einwegkommunikation und erlaube keine Diskussionsteilnahme. Viele Gemeinschaften und lokale Behörden würden also weder ihre Argumente darlegen noch Beweise überreichen können, und die Zeitdauer der Anhörung sei auch viel zu kurz bemessen, damit all die betroffenen Personen und Gruppen intervenieren könnten. Mit der erneuten Ansetzung einer öffentlichen Anhörung durch die ANLA würden geschützte Grundrechte erneut verletzt.[6]

Das Anwaltskollektiv CAJAR und die Koordination der KokabäuerInnen COCCAM gelangten deshalb am 11. Dezember auch an das Verfassungsgericht. Darin bitten sie das Verfassungsgericht, basierend auf dem Urteil von 2017, die Kompetenz über den Fall wieder an sich zu nehmen und zu prüfen, ob Verwaltungsmassnahmen zur Wiederaufnahme der Sprühflüge und zur Durchführung der Anhörung mit provisorischer Verfügung erneut ausgesetzt werden sollten. CAJAR und COCCAM beklagten grossen Druck sowie Tricks seitens der Regierung, um die Sprühflüge wieder aufnehmen zu können, was die Verfassung und die Umsetzung des Friedensvertrages gefährden würde.[7]

Durchführung der Anhörung trotz Kritik

Schlussendlich fand die halb-präsenzielle und virtuelle Anhörung am Samstag und Sonntag 19./20. Dezember statt, trotz starker Kritik am Format und der Methodologie seitens sozialer, ethnischer und Kleinbauernorganisationen, Umweltschützern und NGOs und der Nichtteilnahme gewichtiger Akteure wie der Verband der Kokabauern COCCAM. Diese Anhörung war eine unumgängliche Vorbedingung, um den Umweltmanagementplan für das Besprühungsprogramm verabschieden und den Bedingungen des Verfassungsgerichts Genüge tun zu können. Die meisten TeilnehmerInnen sprachen sich nicht nur gegen die Wiederaufnahme der Sprühflüge aus, sondern auch gegen die Durchführung der Anhörung als solches, da es das Recht auf effektive Teilnahme der Direktbetroffenen verletze, wegen fehlendem Internetzugang, weil der Termin 6 Tage vor Weihnachten liegt und weil die COVID-19 Fallzahlen erneut ansteigen. Die ANLA verteidigte das Vorgehen damit, dass in 27 virtuellen und halb-präsenziellen Informationsveranstaltungen lokale Behörden, BürgerInnen und NGOs Gelegenheit gehabt hätten, ihre Meinung kundzutun und Informationen darzulegen. Die Polizei zeigte ein Video über die Details des Umweltmanagementplans, wie die Besprühungen im Detail geschehen werden, wie die Kokapflanzungen mittels Satellitenbildern identifiziert werden und weitere Massnahmen. Dies ermögliche festzustellen, wie gross und produktiv die Pflanzungen seien, und es würden schon degradierte Gebiete bevorzugt besprüht. All diese Daten würden in das Navigationssystem der Flugzeuge eingegeben, um die Operationen so präzise wie möglich zu machen. Der technologische Fortschritt erlaube nicht nur die präzise Behandlung der Kokaflächen, sondern auch eine genaue Dosierung des Sprühmittels. Zur Anwendung kämen landwirtschaftliche Flugzeuge namens AirTractor. Weiter betonte die Polizei, dass eine perfekte Mischung zur Anwendung komme, die auf den Kokabusch zugeschnitten sei. 60% sei kondensiertes Wasser, 33% ist Glyphosat sowie ein mineralischer Zusatz, der der Mischung die notwendige Struktur und das Gewicht gebe. Zudem habe Glyphosat einen ähnlichen Ph-Wert wie der Boden, so dass es rasch absorbiert werde und wenig Risiko für Bodenkontamination bestehe.

Auch nach der Anhörung riss die Kritik aber nicht ab. Die NGO Dejusticia betonte beispielweise einmal mehr, dass eine virtuelle Durchführung angesichts des fehlenden Internetzugangs schwierig sei, zumal der Umweltmanagementplan ein schwierig zu verstehendes, 3000-seitiges Dokument sei. Die präsenziellen Durchführungsorte seien angesichts steigender Coronazahlen zudem unverantwortlich gewesen. Kurz vor den Weihnachtsfeierlichkeiten sei auch die Publikumsteilnahme bescheiden gewesen, am Samstagvormittag hätten höchstens 60 Personen zugeschaut, obwohl durch die Sprühflüge 104 Gemeinden in 14 Departementen betroffen sein werden. Zudem habe kein einziger Bürgermeister, Gouverneur oder Parlamentarier teilgenommen. Isabel Pereira von Dejusticia kritisierte auch die Polizei, die nicht über die Risiken der Sprühflüge und wie diese Risiken reduziert werden, sprach, sondern in einem Werbefilm den Schaden, den der Drogenhandel verursache betonte und sagte, wie harmlos die Glyphosatbesprühung sei. Soziale Organisationen veröffentlichten eine Erklärung, in der sie die Durchführung der Anhörung kritisieren und ablehnen. Der Umweltmanagementplan gehe zu wenig detailliert auf die Umweltbedingungen in den einzelnen Gemeinden ein und verlasse sich zu stark auf Studien aus anderen Ländern mit handelsüblichem Glyphosat. Zudem sei die Information über Gewässer, Schutzgebiete etc. unvollständig, weshalb nicht garantiert sei, dass keine schützenswerte Gebiete besprüht werden.[8] Genau zu Weihnachten will die ANLA zudem das Protokoll der Anhörung veröffentlichen. Wenn die Verfügung über den abgeänderten Umweltmanagementplan veröffentlicht ist, planen NGOs wegen mangelnder Diskussion und Teilnahme eine Nichtigkeitsklage dagegen. Die ANLA muss schlussendlich entscheiden, ob es den Umweltmanagementplan annimmt oder nicht. Dritte können dagegen noch Widerspruch einlegen, bevor dann der Nationale Betäubungsmittelrat endgültig über den Start des Sprühprogramms entscheidet.[9]

 

 

[1] Siehe dazu https://www.askonline.ch/themen/streit-um-die-richtige-strategie-gegen-die-kokapflanzungen-freiwillige-substitution-oder-chemiekeule-aus-der-luft

[2] Siehe https://www.askonline.ch/themen/punkt-4-des-friedensabkommens-drogen-und-frieden

[3] https://sostenibilidad.semana.com/impacto/articulo/polemica-por-fallo-que-permite-socializacion-sobre-aspersion-aerea-con-glifosato/56901

[4] https://sostenibilidad.semana.com/impacto/articulo/glifosato-indigenas-exigen-la-realizacion-de-consultas-previas—colombia-hoy/57337

[5] https://www.eltiempo.com/justicia/conflicto-y-narcotrafico/audiencia-de-anla-para-reanudar-glifosato-contra-cultivos-ilicitos-sera-el-19-de-diciembre-555224

[6] https://www.colectivodeabogados.org/?Gobierno-Duque-insiste-en-reanudar-aspersiones-con-Glifosato-desconociendo

[7] https://www.colectivodeabogados.org/?Solicitamos-a-la-Corte-Constitucional-el-seguimiento-de-la-Sentencia-que

[8] http://www.indepaz.org.co/boletin-organizaciones-sociales-rechazan-la-audiencia-de-la-anla-sobre-fumigaciones-con-glifosato/

[9] https://sostenibilidad.semana.com/impacto/articulo/glifosato-que-viene-ahora-tras-la-audiencia-publica-sobre-fumigacion-aerea/58368