Punkt 4 des Friedensabkommens: Drogen und Frieden

Mai 27, 2020

Von Stephan Suhner

Weiterhin viele Herausforderungen bei der Lösung des „Drogenproblems“

Obwohl bei der Umsetzung des vierten Punktes des Friedensabkommens die Anstrengungen auf dem Programm zur Substitution der Kokapflanzungen lagen, ist der Rückstand auf den Zeitplan des Programms noch enorm. Der strukturelle Wandel der Kokagebiete, eine differenzierte strafrechtliche Behandlung der Kokapflanzer sowie eine auf die Gesundheitspolitik fokussierte Politik gegenüber Drogenkonsumenten stehen noch aus.

Die Absicht mit dem vierten Punkt des Friedensabkommens war es, alle Glieder der Drogenhandelskette anzugehen, vom Kleinbauern der Koka anbaut bis zu den Netzwerken, die die Drogengewinne waschen. Mit einem ambitionierten Programm zur freiwilligen Substitution der Kokapflanzungen war das Ziel, Tausende von Familien von dieser Pflanze wegzubringen und definitiv in die legale Wirtschaft zu integrieren. Konsumenten würden unter dem Fokus der öffentlichen Gesundheit behandelt statt mit reiner Repression, dafür würden die grossen Drogenhändler und ihre Finanzen mit der ganzen Härte des Gesetzes verfolgt. Diese Ziele sind heute weit von der Erfüllung entfernt.

Ein zentrales Element des 4. Punktes ist das Integrale Nationale Programm zur Substitution von Pflanzungen mit illegaler Verwendung (PNIS) für die Familien, die vom Kokablatt leben. Bis heute sind 99‘097 Familien Teil dieses Programmes. Sie leben in 56 Gemeinden in 14 Departementen, die Hälfte davon in Putumayo, Caquetá und Nariño. Für jede Familie sah das PNIS einen Plan der sofortigen Unterstützung (PAI) vor, mit 12 monatlichen Zahlungen von einer Millionen Pesos im ersten Jahr, ein Projekt zur Ernährungssicherheit, technische Unterstützung sowie zwei einkommensgenerierende Projekte, eines kurz-, das andere langfristig angelegt. Total 36 Millionen Pesos pro Familie in einem zweijährigen Prozess. Aber heute, mehr als drei Jahre nach dem Start des PNIS und dem Beitritt der ersten Familien zum Programm ist die Regierung erst daran, die Auszahlung der Quoten an jede Familie zu beenden. Gemäss dem Präsidialen Büro für die Stabilisierung (Consejería para la Estabilización) haben bis heute 73‘817 Familien mindestens eine Zahlung bekommen, 49‘767 davon – d.h. die Hälfte aller Teilnehmer am PNIS – haben alle Zahlungen erhalten. Das Projekt für Ernährungssicherheit haben 59‘940 Familien erhalten. Soweit die Fortschritte.

Federico Nariño, für die Partei FARC im Leitungsgremium des PNIS, und Arnobis Zapata, Sprecher der Koordination der Koka-, Schlafmohn- und Marihuanapflanzer COCCAM, klagen, dass es heute im ganzen Land nicht ein einziges funktionierendes produktives Projekt gebe für die Familien, die die Koka aufgaben. Gemäss der Regierung gibt es 727 Familien mit einkommensgenerierenden Projekten, 0,7% der Teilnehmer an PNIS. Ein grosses Problem ist, dass die Regierung die vorgesehene Reihenfolge der Zahlungen und Projekte nicht einhielt, respektive diese etappierte. Die monatlichen Zahlungen sollten parallel zum kurzfristigen produktiven Projekt erfolgen, im 2. Jahr das langfristige Projekt, so dass für die Familien nie das Risiko besteht, ohne Einkommen dazustehen.

Zusätzlich zu den Zahlungen und Projekten der Kokabauernfamilien war vorgesehen, dass die Gemeinschaften als Ganzes unterstützt werden, mit den Integralen Plänen für die Substitution und die alternative Entwicklung (PISDA). Es handelt sich dabei um spezifische Entwicklungspläne für Kokaanbaugebiete, die ähnlich wie die PDET partizipativ erarbeitet werden sollten. Bis heute gibt es jedoch keinen einzigen PISDA, der gemäss den Vorgaben des Friedensabkommens mit den Gemeinschaften erarbeitet worden wäre, lediglich eine Subsumierung unter die PDET. Die Consejeria para la Estabilización rühmt sich zwar, 710 Einzelinitiativen innerhalb der PDETs aufgenommen zu haben und darauf basierend in 45 Gemeinden PISDA formuliert zu haben, es entspricht aber nicht dem Geist des Friedensabkommens. Ebenso wurden Instanzen zur Ausführung des PNIS nicht einberufen, so der Permanente Rat zur Steuerung, in dem zehn soziale und kleinbäuerliche Organisationen Einsitz hätten.

Im Friedensabkommen verpflichtete sich die Regierung auch Kleinbauern, die von der Koka leben, nicht mehr zu verfolgen und dazu die Strafnorm anzupassen, was bisher nicht passierte. Die von der Regierung eingereichten Gesetzesprojekte sind im Kongress nicht durchgekommen. Das Abkommen sah auch vor, dass Drogenkonsum unter dem Aspekt der öffentlichen Gesundheit behandelt wird, und dazu ein integrales Programm ausgearbeitet wird. Dieses Programm gibt es bis heute nicht, nur eine Politik des Gesundheitsministeriums von Januar 2019 über die Behandlung des Drogenkonsums, aber ohne Bezug auf das Friedensabkommen. Die NGO Dejusticia hält fest, dass die Regierung Duque in Bezug auf den Drogenkonsum sich von den Vorgaben des Friedensabkommens lösen wollte, dass das Abkommen in diesem Punkt aber auch nicht sehr innovativ war.

Zu guter Letzt hält das Friedensabkommen fest, dass die Anstrengungen statt auf die Verfolgung der Kokabauern und –bäuerinnen auf die Stärkung der Untersuchungen gegen die Drogenhändler und deren kriminellen Netzwerke ausgerichtet werden sollten. Das Abkommen war zwar wenig klar in diesem Punkt, aber für Dejusticia hat sich auch in diesem Bereich viel zu wenig getan.[1]

Die Beobachtungsstelle für die Rückgabe und die Neuordnung des Landbesitzes hat die Implementierung des PNIS ebenfalls untersucht. Sie stellten dabei vier Hauptprobleme für ein korrektes Funktionieren des Programmes fest. Das erste ist die mangelnde Koordination zwischen der freiwilligen Substitution und der gewaltsamen Ausrottung der Kokapflanzungen. Während die Kokabauern in den Territorien auf die Gelder und die technische Unterstützung warteten, kamen stattdessen Polizei und Armee um die Koka gewaltsam zu vernichten. Das führte in vielen Gebieten zu heftigen Zusammenstössen zwischen den Cocaleros und den Ausrottungsteams, die z.T. Tote zu Folge hatten. Das zweite Problem ist der Rückstand bei den monatlichen Zahlungen der Million Pesos, auch für Familien, die die Kokapflanzen schon selber eliminiert hatten. So kam es, dass gewisse Kleinbauernfamilien bis zu einem halben Jahr ohne Einkommen waren, weder aus der Koka noch aus den Zahlungen der Regierung.

Ein drittes Problem ist die fehlende Artikulierung des PNIS mit der integralen Agrarreform des ersten Agendapunktes. Die Institutionen des PNIS haben parallel zur Behörde für die Erneuerung des Territoriums ART (Agencia de Renovació del Territorio) gearbeitet, die die PDET formuliert. Zudem ist das PNIS durch den grossen Rückstand bei der Verteilung und Überschreibung von Land an Kleinbauern betroffen. Zudem hat die Nationale Bodenbehörde ANT (Agencia Nacional de Tierras) nicht mit dem PNIS zusammengearbeitet, sondern ein eigenes Programm mit dem Namen „Formalisieren um zu Substituieren“ entwickelt, das in anderen Gemeinden als das PNIS tätig ist. Das Fehlen differenzierter strafrechtlicher Lösungen schafft für die Kokabauern und Bäuerinnen rechtliche Unsicherheiten, hatten sie doch im Vertrauen darauf detaillierte Angaben zu sich selbst und ihren Kokapflanzungen gemacht. Der politische Kontext steht einer raschen Lösung dieser Probleme entgegen, und stattdessen versucht Präsident Duque so rasch wie möglich auf die Sprühflüge mit Glyphosat zurückgreifen zu können, was das PNIS noch stärker in Gefahr bringen würde.[2]

Tausende Kleinbauernfamilien haben bis heute keine oder nur einen Teil der Zahlungen bekommen oder wurden ganz aus dem Programm PNIS ausgeschlossen, oder haben nach oder nebst den Zahlungen keine Projekte für Ernährungssicherheit oder Einkommensgenerierung erhalten. Viele überleben nur dank dem „Rebusque“, Gelegenheitsjobs, oder haben ihr Vieh verkauft, um Nahrungsmittel zu kaufen. Mit der Zerstörung ihrer Kokapflanzen sind die Familien ein grosses Risiko eingegangen, und die sozialen Führungspersonen riskieren sogar ihr Leben im Einsatz für PNIS. Wenn die Führungspersonen sich nach den ausbleibenden Zahlungen erkundigen, heisst es lediglich: „Es gibt kein Geld“. Die frustrierten Campesinos fragen sich, warum es für sie und das Programm für die freiwillige Substitution der Koka kein Geld gibt, Geld aber scheinbar kein Mangel ist, wenn es um Glyphosatbesprühungen und gewaltsame Ausrottungsaktionen geht. Experten und Campesinos haben auf das Risiko von Einkommenslücken hingewiesen und daher eine graduelle Substitution gefordert. Die deutsche Entwicklungsagentur GIZ spricht in diesem Kontext von der „richtigen Abfolge“: Bevor die Koka zerstört wird, müssen Alternativen entwickelt und umgesetzt werden.[3] Mit dem PNIS passiert genau dies nicht und der Regierung scheint es nur um die schnellstmögliche Reduktion der Anzahl Hektaren Koka zu gehen, nicht um die soziale Entwicklung der Kokaregionen und deren Bewohner.

Die Regierung von Präsident Duque will die Sprühflüge mit Glyphosat so bald wie möglich wieder aufnehmen, wozu u.a. der Umweltmanagementplan abgeändert werden muss. Diese Änderungen müssen in öffentlichen Anhörungen durch die betroffenen Regionen und Organisationen abgesegnet werden. Als die Anhörungen starten sollten, kam die Coronapandemie dazwischen. Das Büro für Umweltlizenzen ANLA wollte daraufhin die Anhörungen virtuell durchführen. Dutzende soziale Organisationen und NGO baten die ANLA, auf virtuelle Anhörungen zu verzichten, und als sie kein Gehör fanden, reichten sie eine Grundrechtsklage ein. Die Organisationen argumentieren, die virtuelle Durchführung von Anhörungen zu Umweltthemen sei gesetzeswidrig, ANLA und die Antidrogenpolizei würden ihre Kompetenzen überschreiten und die Realität auf dem Land verkennen, wo es vielerorts weder Tablets oder Smartphones noch eine stabile Internetverbindung gebe. Zugleich fordern die Kläger, dass nebst der öffentlichen Anhörungen auch vorgängige Konsultationen mit indigenen und afrokolumbianischen Territorien, wo Besprühungen beabsichtig sind, durchgeführt werden, was bisher ebenfalls nicht gemacht wurde.[4]

Insgesamt wurden drei Tutelas gegen die für den 27. Mai angesetzte virtuelle öffentliche Anhörung eingereicht. Am 18. Mai hat ein Richter in Pasto über die Klage einer Kakaovereinigung aus der Gemeinde Policarpa befunden und mit einer einstweiligen Verfügung die Durchführung der Anhörung ausgesetzt. Abzuwarten bleibt, wie Richter die anderen beiden Tutelas beurteilen und ob die ANLA das Aussetzen respektiert.

 

[1] Sebastian Forrero Rueda, Así va el Acuerdo de Paz: lejos de superar el problema de las drogas ilícitas, 4. Mai 2020, in: https://www.elespectador.com/colombia2020/asi-va-el-acuerdo-de-paz-lejos-de-superar-el-problema-de-las-drogas-ilicitas-articulo-917713

[2] Observatorio de Restitución y Regulación  de Derechos de Propiedad Agraria

Los problemas de la sustitución de cultivos que aún no resuelve el gobierno, 4. Mai 2020, in: https://www.elespectador.com/colombia2020/opinion/los-problemas-de-la-sustitucion-de-cultivos-que-aun-no-resuelve-el-gobierno-columna-917893

[3] Frances Thomson y Camilo Acero, Después de la coca ¿qué? El moribundo Programa Nacional Integral de Sustitución, 9. Mai 2020, in: https://www.elespectador.com/colombia2020/opinion/despues-de-la-coca-que-el-moribundo-programa-nacional-integral-de-sustitucion-columna-918704?fbclid=IwAR2gcMurflvllbQMRp1GP6QYDJaXDuAu1iBBrhVdiY_CitcjzfWV1dW0NCE

[4] https://www.elespectador.com/noticias/judicial/con-tutela-buscan-impedir-que-una-audiencia-clave-para-el-regreso-del-glifosato-sea-virtual-articulo-920050?fbclid=IwAR0GOgOJlKAXntYQByPXv9kOBB5lzAm_yBUokTIK58DpMXnB5DkSLiVMwUE