Ohne eine Regierung mit dem politischen Willen, die Ursachen der Gewalt anzugehen, werden wir nie in Ruhe leben können

Jun 28, 2022

Von Stephan Suhner

Carlos Morales war Ende Mai auf Einladung von PBI Schweiz in Bern. Mitarbeiter der ask!-Fachstelle besuchten 2014 in Begleitung von Carlos verschiedene Goldminen in den Gemeinden Remedios und Segovia. Wir nutzten seinen Besuch in Bern, um mit ihm über Massnahmen zum Selbstschutz, über kollektive Widergutmachung und über Goldbergbau zu reden.

Ask!: Carlos, kannst du zuerst etwas deine Organisation und deine Heimatregion vorstellen? Carlos: Ich bin Carlos Morales, ich bin Kleinbauernführer und der rechtliche Vertreter der Corporación por la Acción Humanitaria y la Convivencia en el Nordeste Antioqueño, CAHUCOPANA. Cahucopana arbeitet seit 18 Jahren im Bereich Menschenrechte und Mechanismen zum Selbstschutz für die Kleinbauern- und Goldschürfergemeinschaften in den Gemeinden Remedios und Segovia. Cahucopana entstand in einer Gegend, die historisch sehr komplex ist. Es gibt Präsenz vom ELN, den FARC und heute deren Dissidenzen, von Paramilitärs und von sogenannten kriminellen Banden wie den AGC sowie der staatlichen Sicherheitskräfte. Cahucopana denunziert die Menschenrechtsverletzungen aller bewaffneten Gruppierungen und Akteuren, legalen wie illegalen. Diese Transparenz bedeutet für uns als Organisation einen gewissen Schutz und Respekt, führt gegen die führenden Köpfe von Cahucopana aber auch zu mehr Drohungen. Die verschiedenen bewaffneten Gruppen kämpfen um die territoriale Kontrolle, da das Gebiet geostrategisch wichtig und reich an natürlichen Ressourcen ist. Die Wirtschaft ist v.a. durch den Goldabbau bestimmt, wobei bisher kleine Minen und handwerkliche Goldschürfer dominieren. Multinationale Unternehmen wie Anglo Gold Ashanti oder Frontino Gold Mine verfügen über grosse Konzessionen, die ihnen der Staat übertragen hat, auf denen heute kleine, informelle Minen betrieben werden. Das erklärt ihren Drang, uns zu vertreiben. Wir haben keine juristischen Beweise, aber es gibt klare Verbindungen zwischen den Multis und den bewaffneten Gruppierungen. Es handelt sich um Komplizenschaft, um uns Kleinschürfer zu vertreiben, das Territorium zu entvölkern und den Grossbergbau in Angriff zu nehmen.

Ask!: Was ist die Rolle von Cahucopana in diesem schwierigen Umfeld?
Carlos: Cahucopana betreibt in diesem konfliktträchtigen Umfeld friedlichen und organisierten Widerstand und versucht die Gemeinschaften gegenüber der Vertreibungspolitik zu schützen. Wir organisieren Komitees von kleinen Goldschürfern und bilden sie aus in besseren Goldabbautechniken, aber auch in Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht.  In drei strategischen Weilern haben wir dafür Schutzhäuser – Casas de refugio humanitario de paso – eingerichtet als Strategie gegen Mord und Vertreibung. Wenn Einzelpersonen oder auch Kollektive bedroht werden, können sie sich in eines dieser Häuser zurückziehen. Cahucopana spricht dann im Rahmen des humanitären Völkerrechts mit den Behörden und den bewaffneten Akteuren, um für das Leben und die Sicherheit der Gemeinschaften Respekt einzufordern. Wir machen bei Gefahrensituation sogenannte humanitäre Aufrufe, wo wir von den bewaffneten Akteuren Respekt für die Regeln der Gemeinschaften, für das Leben der Gemeinschaften und das Recht, nicht in den Konflikt hineingezogen zu werden, einfordern. Anstatt in die Grossstädte zu flüchten, flüchten wir innerhalb unseres Territoriums. Das hat uns seit 17 Jahren ermöglicht, uns gegen gewaltsame Vertreibungen zur Wehr zu setzen, trotz Konflikt im Territorium verbleiben zu können und das Leben von Kleinbäuerinnen und Goldwäschern zu schützen. Es sind Mechanismen, die uns schützen, und die Gemeinschaften nehmen sich dieser Mechanismen an. Wir werden auch von IKRK, der MAPP OEA und der UNO begleitet und ihre Erfahrungen mit dem humanitären Völkerrecht stärken unsere eigenen Instrumente.

Wichtige Pfeiler unserer Arbeit sind Themen wie Frauen und Gender, das historische Erinnern und Menschenrechte mit differenziellem Fokus. Das Erinnern ist wichtig, weil wir in einer gewaltgeprägten Region leben. Wir sind auch Subjekt für kollektive Wiedergutmachung, der kolumbianische Staat hat uns als Opfer des Konfliktes anerkannt, da wir sowohl Opfer der illegalen bewaffneten Gruppen wie auch der staatlichen Sicherheitskräfte wurden. Wir wurden Opfer von juristischen Fallen (montajes judiciales), Attentaten und von den sogenannten falsos positivos, als die Armee drei Goldschürfer umgebracht und als gefallene Guerilleros dargestellt hat.

Ask!: Wie ist denn aktuell die Sicherheitslage im Gebiet, wo Cahucopana arbeitet?
Carlos: Dass Cahucopana all die Bedrohungen und Übergriffe der legalen wie illegalen bewaffneten Akteure öffentlich macht, führt zu mehr und weiteren Drohungen der verschiedenen bewaffneten Akteure. Ich selber erlitt am 27. Februar 2022 ein Attentat wegen all diesen Anzeigen, die wir machten. Im Moment des Attentats war ich mit meiner Frau und meinem 5-jährigen Sohn zusammen. Ich wurde an den Rippen verletzt, auch meine Frau erlitt leichte Verletzungen. Die Institutionen schweigen zu all diesen Drohungen und Morden, es gibt keine Untersuchungen, oder wenn solche begonnen werden, machen sie keine Fortschritte. Deshalb mache ich diese Lobbyreise, um in Europa zu erzählen, wie unsere Lage aussieht, und zu fordern, dass europäische Regierungen von Kolumbien wirkliche Schutzmassnahmen und Sicherheit einfordern. Denn unsere Situation als Menschenrechtsverteidiger wird immer schwieriger. Wenn wird denunzieren, werden wir umgebracht, so wie es vor 3 Monaten mit den beiden Kollegen von Fedeagromisbol, Teofilo und Tafur, passierte[1]. Sie hatten die Drohungen und die Sicherheitsrisiken, denen sie sich gegenüber sahen, öffentlich gemacht, und ein paar Monate später wurden sie umgebracht.

Wir setzen uns daher für die Umsetzung von differenziellen und kollektiven Schutzmassnahmen ein, die uns eigentlich zugesprochen wurden. Die nationale Schutzeinheit UNP setzt diese aber nicht korrekt um, und die Massnahmen die wir bekommen, sind weder kollektiv noch differenziell. So werden uns als Kleinbauern, Indigene und handwerkliche Goldschürfer Dinge wie unpassende gepanzerte Fahrzeuge offeriert, die nicht fürs Gelände taugen, oder Handys die an vielen abgelegenen Orten keinen Empfang haben. Die UNP anerkennt auch unsere Massnahmen zum Selbstschutz nicht, wie z.B. die temporären Schutzhäuser.

Ask!: Was wäre ein ideales kollektives und differenzielles Schutzschema?
Carlos: Unsere kollektiven Massnahmen wurden vom CERREM[2] grundsätzlich schon akzeptiert. Wir haben unzählige Male insistiert, dass die Behörden die Mechanismen des Selbstschutzes anerkennen; weiter sollten die Unidad de Victimas und die Schutzeinheit UNP die temporären Schutzhäuser stärken, das heisst besser ausstatten und die Implementierung unterstützen, und drittens verlangen wir einen institutionellen Vorschlag für Ausbildung und humanitäre Interventionen im Territorium. Schon vor vier Jahren hat das CERREM diese Forderungen unterstützt, umgesetzt wurde bisher nichts. Wir sehen eine Regierung, die keinen Willen hat, unsere Mechanismen zum Selbstschutz anzuerkennen. Noch wichtiger als Schutzmassnahmen wären aber Aktionen gegen die Akteure, die uns bedrohen. Ohne den Willen der Regierung, die illegalen bewaffneten Gruppen zu entwaffnen, gibt es keinen wirklichen Schutz. Die Regierung hält die Abkommen zur Entwaffnung der Paramilitärs und das Friedensabkommen aber nicht ein. Wir glauben nicht, dass das Friedensabkommen alle Probleme gelöst hätte, aber es versprach uns z.B. Zugang zu Land, landwirtschaftliche Projekte, Bewegungsfreiheit und menschenrechtliche Garantien.

Ask!: Was bedeutet für euch die kollektive Wiedergutmachung genau?
Carlos: Das bedeutet, dass der Staat mit den Gemeinschaften zusammenarbeitet, auf sie zugeht, und dass die Stigmatisierung der Gemeinschaften und unserer Organisation seitens der Regierung und verschiedener Behörden beendet wird. Zweitens braucht es Projekte, die unsere landwirtschaftliche Produktion stärken, ausgehend von der Anerkennung unserer Leistungen in den schwierigsten Zeiten des Konfliktes von 2004 bis 2012, mit unserer Widerstandswirtschaft mit Agroökologie und Ernährungssouveränität. Drittens erwarten wir die Anerkennung und Stärkung der Organisation- und Gemeinschaftsarbeit von Cahucopana, z.B. mit Unterstützung für Bildungsarbeit. Dazu gehört auch die Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses, und es geht darum, die Würde der Ermordeten wiederzuerlangen. All dies mit einem differenziellen Fokus und mit humanitärer und psychosozialer Unterstützung. Es braucht auch eine Reparation für unsere Organisation, mit Unterstützung für unsere Gemeindeversammlungen, für die Festivitäten in den Gemeinschaften (Convites comunitarios) und für die gemeinsamen und gegenseitigen Unterstützungsmassnahmen, die wir in den Konfliktjahren erbracht haben. Z.B. haben wir Frauen, die einem Haushalt vorstehen oder ihren Partner im Konflikt verloren haben bei der Aussaat und dem Anbau von Grundnahrungsmitteln unterstützt, und so ihren Lebensunterhalt abgesichert, aber auch die Solidarität in den Gemeinschaften und die Ernährungssouveränität gestärkt. Das Endziel der kollektiven Wiedergutmachung ist es, die Arbeit unserer Organisation zu stärken und die Rückschläge, die wir durch die Gewalt erlitten haben, zu überwinden.

Ask!: Wie hat sich die Situation seit dem Abschluss des Friedensabkommens entwickelt?
Carlos: Nach der Niederlegung der Waffen durch die FARC nahm die Präsenz von ELN und den Autodefensas gaitanistas AGC oder dem Clan del Golfo zu. Das Friedensabkommen hätte eigentlich Ruhe in unser konfliktgeplagtes Gebiet bringen sollen, soziale Investitionen und uns den Verbleib im Territorium ermöglichen. Doch es kam anders. Es häuften sich Morde an Kleinbauern, die Drohungen nahmen zu, sexuelle Gewalt, der Drogenkonsum und -handel stieg an, die paramilitärische Präsenz verstärkte sich. Die nationale Regierung hat die Versprechen gegenüber den Gemeinschaften und den ehemaligen FARC-KämpferInnen nicht eingehalten und keinen politischen Willen gehabt, das Friedensabkommen umzusetzen. In unserem Gebiet im Weiler Carrizales liegt der Übergangs- und Wiedereingliederungsraum ETCR Juan Carlos Castañeda, gegenüber dem die Regierung die Zusagen bezüglich der Wiedereingliederung auch nicht eingehalten hat. Wir sehen nun wie einige ehemalige FARC-Kämpfer*innen wieder zu den Waffen greifen und dem ELN oder den FARC-Dissidenzen beitreten.

Ask!:Ihr organisiert ja auch die Kleinschürfer*innen in eurer Region. Wie arbeitet ihr genau mit ihnen?

Carlos: Wir bemühen uns um einen umweltfreundlichen Goldabbau über die Bergbaukomitees und investieren in die Schulung der Goldschürfer*innen. Z.B. versuchen wir, das Wasser im Prozess des Goldwaschens wieder zu verwenden und die Flüsse nicht zu verschmutzen. Wir versuchen die Umweltfolgen unserer Art von Goldabbau so gering wie möglich zu halten. Dieser Prozess ist sehr schwierig, weil es von staatlicher Seite keine Unterstützung dafür gibt. Die kleinen Goldschürfer existieren im Bergbaugesetz als eigenständige Subjekte gar nicht und betreiben informellen Bergbau. Es gibt keine Möglichkeit, sich zu formalisieren und dabei eigenständig zu bleiben und im Territorium bleiben zu können. Der traditionelle Bergbau der Gemeinschaften wird also nicht anerkannt. Es bleibt ihnen nur eine Art der Formalisierung, in dem sie zu Handlangern der grossen Bergbaubetriebe werden, die über die Konzessionen und die Umweltlizenzen verfügen. Das heisst, sie müssen dann für einen grossen Minenbetrieb arbeiten, unter deren Anweisungen, und diese bestimmen auch den Ankaufspreis des Goldes. Wir hingegen fördern einen solidarischen, gemeinschaftsbasierten Bergbau, der die Region und die Gemeinschaften mit sozialen Werken und Investitionen, wie Gesundheitsposten oder sanitäre Anlagen für eine Schule unterstützt, wir bauen gemeinsam Erschliessungsstrassen und leisten auch humanitäre Nothilfe und Unterstützung bei Unglücken und Notfällen. Wir sehen den Bergbau in der Region als Familienbetriebe, die den Lebensunterhalt sichern, in kleinem Massstab, und immer auch in Kombination mit dem Anbau von Lebensmitteln für den Eigenbedarf der Gemeinschaften. Die Multis wollen wir nicht in unser Gebiet reinlassen.

 

Ask!: Ein grosses Problem ist der illegale Goldabbau, der von der Regierung angeblich bekämpft wird. Wie effizient ist die Regierungsstrategie?
Carlos: Die Regierung macht mit den Begriffen informell, traditionell und illegal ein Durcheinander. Im Bajo Cauca z.B. gibt es beim alluvialen Goldabbau das Problem mit mafiösen Strukturen oder den AGC, die z.T. die schweren Maschinen betreiben. Den Maschinen auf den Fuss folgen aber viele kleine Goldwäscher die für die Subsistenz im Umfeld der Maschinen etwas Gold waschen. Diese Goldwäscher sind aber nicht kriminell oder illegal, sondern traditionell, müssen aber gezwungenermassen unter den Strukturen der mafiösen, mechanisierten Goldförderer arbeiten. Der ganze angebliche Kampf gegen illegalen Bergbau ist nur Show. Erstens werden häufig informelle, handwerkliche Bergleute kriminalisiert und angegriffen, nicht die Mafias mit ihren schweren Maschinen. Der kleine Goldwäscher oder kleine Betreiber von Stollen wird also juristisch verfolgt, nicht aber die Besitzer der schweren Maschinen, die ohne Erlaubnis arbeiten, oder der Landbesitzer, weil sie Beziehungen beispielsweise zum Polizeikommandanten oder zum Bürgermeister haben. Polizei und Armee wissen wer die Besitzer der illegal operierenden Maschinen sind, unternehmen aber nichts dagegen, weil sie auch davon leben. Zudem gibt es Komplizenschaft zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und den AGC. Der tatsächlich illegale, stark mechanisierte Goldabbau finanziert das paramilitärische Projekt und bezahlt auch Schmiergeld an Polizei und Armee und an lokale Behörden.

Zweitens werden die Kontrollen des Goldankaufs weiterhin umgangen. Die informellen Goldschürfer verkaufen ihr Gold an die verschiedenen Ankaufsstellen oder Compraventas. Die Kleinschürfer werden kontrolliert, haben ein Büchlein wo die verkauften Mengen eingetragen werden und sie dürfen gewisse Mengen an Gold nicht übersteigen. Die Compraventas haben aber die finanziellen Mittel um für Zigtausende Franken Gold aufzukaufen. Sie kaufen auch das Gold der Paramilitärs und der illegalen Maschinen. Die Compraventas und manchmal auch direkt die Paramilitärs verkaufen das Gold an die Banco de la República weiter oder verkaufen es auch direkt an die grossen Minenbetriebe. Wir sind uns sicher, dass illegale Minen ebenfalls Gold an die grossen, formellen Minenbetriebe wie Frontino oder Continental verkaufen, und dieses so gewaschen wird. Gerichtlich belastbare Beweise dafür haben wir leider nicht. Was wir wissen ist aber, dass der illegale Goldabbau nicht abgenommen hat und das Gold weiterhin exportiert wird.

Nebst den grossen Bergbaukonzernen, die uns von ihren Konzessionen vertreiben wollen, werden viele kleine Goldschürfer auch durch illegale bewaffnete Akteure vertrieben. Wenn ein Kleinschürfer eine vielversprechende Goldader findet, lassen die Paramilitärs ihn die Mine vortreiben, dann verlangen sie so hohe Steuern von ihm, dass er die gar nicht bezahlen kann und verkaufen muss, oder er wird bedroht, damit er billig verkauft. Wenn er sich weigert wird er gewaltsam vertrieben oder gar umgebracht.

Ask!: Carlos, wir danken dir für dieses Gespräch und wünschen dir und der Cahucopana alles Gute!

 

 

[1] Die ask! berichtete: https://www.askonline.ch/allgemein/morde-und-todesdrohungen-gegen-landrechtskaempfer-und-verteidigerinnen-des-territoriums-reissen-nicht-ab

[2] Comité de Evaluación de Riesgo y Recomendación de Medidas (Komitee der Evaluation der Risiken und zur Empfehlung von Schutzmassnahmen der Nationalen Schutzeinheit UNP).