Staatliches Gewaltmonopol und Demokratie in Kolumbien

Apr 29, 2018

Von Fabian Dreher

Alle fünf Jahre führt der UN-Menschenrechtsrat die allgemeine periodische Überprüfung (auf Spanisch „Examen Periódico Universal“, kurz EPU) der Menschenrechtslage in den Mitgliedsstaaten durch. Nach 2013 wird aktuell Kolumbien wieder begutachtet, der abschliessende Bericht mit allen Empfehlungen an Kolumbien wird voraussichtlich am 10 Mai 2018 publiziert. Bereits im März 2018 hat das Büro des Repräsentanten des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte seinen kritischen Bericht[1] veröffentlicht.

Im Hinblick auf die EPU haben auch die über 500 Mitgliedorganisationen der CCEEU[2] (Coordinación Colombia-Europa-Estados Unidos) sowie das europäische Kolumbiennetzwerk OIDHACO[3] unabhängige zivilgesellschaftliche Berichte über die Menschenrechtslage in Kolumbien publiziert. Im April wurden diese Berichte anlässlich der ordentlichen Sitzung des UN-Menschenrechtsrats in Genf präsentiert. Die Regierung Kolumbiens ist über diese Berichte nicht erfreut. Sie sehen sich einseitig an den Pranger gestellt und möchten lieber auf die Fortschritte bei einzelnen Menschenrechten in den letzten fünf Jahren hinweisen.

Óscar Ramirez war Mitglied einer zivilgesellschaftlichen Delegation aus Kolumbien, die zur Präsentation der Berichte extra nach Genf gereist ist. Um auf die problematische Menschenrechtslage in Kolumbien aufmerksam zu machen. Er ist technischer Sekretär der kolumbianischen Koalition gegen die Folter[4] sowie Mitglied des Solidaritätskomitees für politische Gefangene[5] und dadurch ein exzellenter Kenner der Menschenrechtslage in Kolumbien. Die Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien konnte sich mit Óscar bei seinem Besuch in Genf unterhalten.

Ask!: Die Regierung Kolumbiens ist nicht sehr erfreut über die Berichte der Zivilgesellschaft über die Menschenrechtslage in Kolumbien. Diese seien einseitig und würden die Fortschritte ignorieren.

Óscar Ramirez: Ich frage mich, welche Fortschritte sie meinen. Dass immer mehr MenschenrechtsverteidigerInnen und soziale Führungspersonen ermordet werden? Dass friedliche Proteste mit Gewalt unterdrückt werden? Dass Verbrechen gegen Menschenrechte immer noch kaum verfolgt werden und die Straflosigkeit bei über 90 Prozent liegt?

Wir konnten uns mit den UN-Botschaftern vieler Länder unterhalten, die viel Verständnis für unsere Anliegen zeigen. Darunter auch diejenige der Schweiz. Wir hatten einen guten Austausch insbesondere über Straflosigkeit, Wirtschaft und Menschenrechte sowie über die Partizipation der Zivilgesellschaft an demokratischen Entscheidungsprozessen.

Die EPU ist für uns zivilgesellschaftliche Organisationen sehr wichtig. Während des EPU schaut die ganze Welt auf Kolumbien und wir können damit Druck auf die Regierung machen, damit sich die Menschenrechtslage in Kolumbien wirklich verbessert. Und nicht nur in den Berichten der Regierung.

Ask!: Die vielen Morde an MenschenrechtsverteidigerInnen und sozialen Führungspersonen sind schockierend. Was könnte Kolumbien tun, um diese besser zu schützen?

Óscar Ramirez: Die Zunahme an Gewalt gegen MenschenrechtsverteidigerInnen kam in genau dem Moment, als die Regierung ihren Willen gezeigt hat, etwas zu tun. Ein starker Antreiber der Morde ist die Straflosigkeit. Wenn überhaupt, werden nur die Auftragsmörder erwischt und verurteilt, meistens kommen sie jedoch unerkannt auf ihren Motorrädern davon. Die Auftraggeber jedoch werden so gut wie nie verurteilt.

Eine Mehrheit der Opfer ist an Landrückgabeprozessen beteiligt. Teils sind es auch kommunale Führungspersonen, die einen Einfluss auf die Landnutzung (Agroindustrie, Rohstoffabbau, etc.) haben, die ermordet werden. In all diesen Fällen geht es um Bodenbesitz, um die Kontrolle über Land. Stark zugenommen haben insbesondere im letzten Jahr auch die Morde an weiblichen Führungspersonen.

Die Schutzmassnahmen der Nationalen Schutzeinheit (Unidad Nacional de Protección, UNP) sind oft ungenügend. So nützen Mobiltelefone und Panikbuttons nicht viel, wenn kein Telefonempfang verfügbar ist. Der starke Fokus auf die UNP verhindert zudem wirksame Präventionsmassnahmen. Und auch von den lokalen staatlichen Sicherheitskräften geht Gefahr aus, oft haben diese Beziehungen zu paramilitärischen Gruppierungen und Strukturen.

Ask!: Du setzt dich im Komitee zur Unterstützung der politischen Gefangenen ein. Wie viele politische Gefangene gibt es heute noch in Kolumbien. Und wie ist ihre Situation in den Gefängnissen?

Óscar Ramirez: Im Rahmen des Friedensvertrags wurden über 3000 ehemalige Mitglieder der FARC aus den Gefängnissen freigelassen. Einige von ihnen wurden seither ermordet. Das zeigt ihre prekäre Sicherheitslage klar auf. Die Lage der verbliebenen ca. 600 Gefangenen ist jedoch nicht besser. Ohne ihre Mitgefangenen sind sie schutzlos, so kommt es in den Gefängnissen mittlerweile regelmässig zu Angriffen auf sie. Zudem sind ihre Haftbedingungen schlecht. Viele von ihnen haben Gesundheitsprobleme, die nur ungenügend behandelt werden.

Und jetzt schafft auch noch die Staatsanwaltschaft zusätzliche Unsicherheit. Mit der Festnahme von Jesús Santrich, dem Unterhändler der FARC, mischt sie sich unrechtmässig in die JEP ein. Die übrigen ehemaligen KämpferInnen sind dadurch sehr verunsichert. Was wiederum den Friedensprozess gefährdet.

Weiter sitzen heute etwa 700 Angehörige des ELN im Gefängnis. Auch sie sind der Gewalt des Sicherheitspersonals und Häftlingen paramilitärischer Organisationen weitgehend schutzlos ausgesetzt. Auch von ihnen haben viele Gesundheitsprobleme: Schussverletzungen, Amputationen, etc. die ungenügend behandelt wurden.

Was in den letzten Jahren am meisten zugenommen hat, sind jedoch die politischen Gefangenen auf Grund von sozialen Protesten. Die Regierung unterdrückt diese legitimen Proteste mit Gewalt und verfolgt deren TeilnehmerInnen zur Abschreckung.

Ask!: Wie unterdrückt die Regierung soziale Proteste?

Óscar Ramirez: Man kann in Kolumbien schon fast von einer Tradition der Unterdrückung sprechen. Eigentlich sind soziale Proteste ein Grundrecht, basierend auf der Meinungsäusserungs- und der Versammlungsfreiheit. In Kolumbien entspricht dies einer traditionellen Form der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Heute jedoch ist in der Regierung die Sicherheitsdoktrin vorherrschend. Die Repression ist militarisiert, was man auch an den zunehmenden Zahlen von Toten und Verletzten bei Protesten sehen kann. Diese Gewalt hat auch dramatische psychologische Auswirkungen auf ihre Opfer, die Opfer staatlicher Repression.

Wir sehen, dass Polizei und Armee dabei zunehmend und ausgeprägt nichtkonventionelle Waffen anwenden. Tränengas, Blendgranaten, Gummischrot, etc. werden immer häufiger und immer schneller eingesetzt. Die staatlichen Sicherheitskräfte operieren wie in einer Blackbox: niemand hat wirklich die Kontrolle über sie. Bei ihren Einsätzen und bei Verhaftungen kommt es dabei systematisch zu Menschenrechtsverletzungen. So wäre zum Beispiel der Transport von Gefangenen mit Lastwagen verboten, verhindert wird es dadurch jedoch nicht. Die Justiz fällt zwar immer wieder Urteile und verpflichtet den Staat, Menschenrechte bei Verhaftungen zu respektieren, diese Urteile werden aber nicht umgesetzt.

Ask!: Kann die Zivilgesellschaft da etwas ausrichten, z.B. mittels Beobachtungen, Gefängnisbesuchen, etc.?

Óscar Ramirez: Es gibt kaum eine zivilgesellschaftliche Kontrolle der Gefängnisse, Kolumbien hat die entsprechenden fakultativen Protokolle der UNO nicht unterzeichnet. Bereits für Besuche sind die Hürden hoch, sie müssen z.B. mindestens 15 Tage vorher angemeldet werden. Der Ombudsmann für Menschenrechte (defensoria del pueblo), das IKRK und weitere Organisationen schreiben zwar viele Berichte, diese bewirken jedoch wenig.

Ein grosses Problem ist die Gesundheit der Inhaftierten. Sie werden vor allem durch Gesundheitsbrigaden versorgt, sehen aber kaum je spezialisierte Ärzte. Auch bei Problemen lässt man sie kaum zu einem Spezialarzt. Hinzu kommen dann noch gewaltsame Übergriffe, die in kaum einem Gefängnis geahndet werden. Teils werden Inhaftierte auch absichtlich schikaniert. So zum Bespiel in dem man sie in weiter entfernte Gefängnisse verlegt, was Besuche von Angehörigen viel schwieriger macht. Für Frauen ist dies besonders schlimm, gibt es doch insgesamt viel weniger Frauengefängnisse und so sehen sie ihre Kinder kaum mehr.

Ask!: Woran entzünden sich denn die meisten sozialen Proteste?

Óscar Ramirez: Es gibt viele Bereiche, in denen es zu sozialen Protesten kommt. Landbesitz und Zugang zu Land, verbunden mit der ganzen Thematik der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die im Widerspruch zur Agroindustrie und zum Bergbau steht. Aber auch der Umgang mit Ressourcen wie Wasser und der damit zusammenhängende Umweltschutz. Oder der Zugang und die Versorgung mit Grunddienstleistungen wie Bildung, Gesundheit, etc.

Diese Konflikte sind oft nicht neu, der Rückgang des bewaffneten Konflikts gibt einfach jetzt erst den Blick frei auf andere Konflikte.

Ask!: Wie reagiert die Zivilgesellschaft, wie reagieren zivilgesellschaftliche Organisationen auf die staatliche Gewalt?

Óscar Ramirez: In Bogotá und anderen Grossstädten gelingt es uns, durch systematische Beobachtung der Einsätze der staatlichen Sicherheitskräfte und direkte Interventionen bei deren Leitung, die Exzesse einzudämmen. Wenn zum Beispiel Einsatzkräfte nicht identifizierbar sind, melden wir dies direkt ihren Vorgesetzten, die dann intervenieren. Auch wenn es zu gewalttätigen Übergriffen kommt. Der direkte Draht ermöglicht eine gewisse Kontrolle. Dies funktioniert jedoch nicht bei Protesten in ländlichen Gegenden, oder wenn es zu spontanen Kundgebungen kommt. Gerade in ländlichen Gegenden stellen wir einen fehlenden Willen der staatlichen Sicherheitskräfte zur Mediation fest. Und dann verwenden Polizei und ESMAD wie zum Beispiel letztes Jahr in Tumaco[6] plötzlich sogar scharfe Munition gegen Protestierende.

Aus unserer Sicht wäre es notwendig, ein internationales Protokoll für dem Umgang mit Protesten und Protestierenden zu schaffen.

Ask!: Warum unterdrückt der Staat aus deiner Sicht mit so viel Gewalt soziale Proteste? Eigentlich sollte die Beteiligung der Bevölkerung doch gefördert werden.

Óscar Ramirez: Es zeigt deutlich die fehlende Kohärenz der kolumbianischen Regierung. Einerseits soll die Beteiligung der BürgerInnen gefördert werden, andererseits werden Proteste mit Gewalt unterdrückt und die TeilnehmerInnen juristisch oft hart verfolgt.

Es werden Gebiete geschaffen, in denen die Bevölkerung die Landnutzung mitbestimmen soll, wie die Zonas de reserva campesinas (Gebiete für die kleinbäuerliche Landwirtschaft), Zonas naturales (Naturschutzgebiete), sowie Reservate und Gebiete für die indigenen und die afrokolumbianischen Gemeinschaften. Aber wehe, die Vorherrschaft der nationalen Politik wird dadurch in Frage gestellt. Die politische Partizipation wird mit blumigen Worten gefordert und gefördert, aber auf allen Ebenen auch gleich wieder eingeschränkt. Bei den Wahlen wird geschaut, dass der bestehende Machtblock gewinnt. Mittbestimmungsinstrumente wie Volksreferenden (consultas populares) oder die vorherige Anhörung (consulta previa) werden eingeschränkt oder es gibt einfach kein Geld dafür. Und die sozialen Proteste werden mit Gewalt unterdrückt. Von welcher Partizipation sprechen wir eigentlich?

Ask!: Óscar Ramirez, wir danken Dir für das Gespräch und wünschen Dir viel Kraft für die nächsten Auseinandersetzungen.

[6] Die ask! berichtete am 12. Oktober 2017: https://www.askonline.ch/home/