Wenn nur noch die Flucht bleibt: KolumbianerInnen im Exil

Sep 29, 2018

Von Fabian Dreher

Wer im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Kolumbien von gewaltsam Vertriebenen spricht, meint oft nur die über 7,5 Millionen Binnenflüchtlinge. Nur selten werden die zeitweise über 500‘000 Personen erwähnt, die auf Grund der Gewalt das Staatsgebiet Kolumbiens verlassen haben. Ein Bericht des nationalen Zentrums für die historische Erinnerung (CNMH) arbeitet deren Geschichte nun auf.

Mit über 7,5 Millionen Binnenvertriebenen steht Kolumbien international an zweiter Stelle der Länder mit den meisten Binnenflüchtlingen. Alleine zwischen Januar und August 2018 wurden über 38‘000 Menschen durch die Gewalt zur Flucht gezwungen[1]. Die meisten gewaltsam Vertriebenen des bewaffneten Konflikts bleiben in Kolumbien und suchen oft bei Familienangehörigen in anderen Departementen und Grossstädten Zuflucht. Mit einem ausführlichen Bericht richtet das kolumbianische Zentrum für die historische Erinnerung (Centro Nachional de Memoria Histórica, CNMH) für einmal den Blick auf die Schicksale der Kolumbianerinnen und Kolumbianer, die vor Krieg und Gewalt ins Ausland ins Exil fliehen. Ziel ist es, die spezifischen Probleme und Auswirkungen des Exils auf die Opfer sichtbar zu machen. Es ist bezeichnend, dass das Nationale Opferregister (Registro Único de Victimas, RUV) 16 verschiedene Tatbestände kennt, das Exil, also die Flucht in ein Gebiet ausserhalb der Landesgrenzen jedoch nicht als Tatbestand anerkannt wird[2].

Gemäss der Studie “Exilio colombiano – Huellas del conflicto armado más allá de las fronteras”[3] sind alleine im letzten Jahrzehnt über eine halbe Million Menschen aus Kolumbien über die Grenze ins Exil geflohen. Manche nur für eine kurze Zeit um einer akuten Bedrohung zu entgehen, viele jedoch für mehrere Jahre, Jahrzehnte oder gar ohne Hoffnung auf Rückkehr. Auf Grund der langen Dauer des bewaffneten Konflikts wächst ausserhalb Kolumbiens inzwischen bereits eine zweite Generation und dritte Generation im Exil heran. Menschen, die ihr Heimatland nur aus Erzählungen oder von Besuchen bei Verwandten kennen.

Ein grosser Teil der Gewaltvertriebenen aus Kolumbien ist in die Nachbarländer Venezuela, Panama und Ecuador geflohen. In Panama und Ecuador haben sich viele Exilierte niedergelassen und politisch für ihre gesellschaftliche Integration eingesetzt. In Venezuela waren die ExilkolumbianerInnen lange Zeit willkommen und erhielten rasch einen legalen Aufenthaltsstatus, seit Ausbruch der politischen und ökonomischen Krise im Nachbarland wurden jedoch viele KolumbianerInnen aus Venezuela ausgewiesen und deportiert. Auch andere Länder Südamerikas boten in der jüngeren Vergangenheit zwangsvertriebenen KolumbianerInnen Zuflucht vor Drohungen, Gewalt und Verfolgung. Der bewaffnete Konflikt in Kolumbien ist auch heute noch die bedeutendste Fluchtursache in Lateinamerika, dies führte zum Wachstum insbesondere auch der kolumbianischen Diaspora in Nordamerika und Europa. Auch Länder wie Frankreich, Deutschland, Schweden oder die Schweiz weisen heute aktive Gemeinschaften von ExilkolumbianerInnen auf.

Ein Grossteil der aus Kolumbien geflüchteten Personen hat ihr Heimatland auf Grund des bewaffneten Konflikts verlassen. Ein Teil in direkter Folge von Kampfhandlungen zwischen bewaffneten Gruppierungen oder der Präsenz bewaffneter Gruppierungen in ihren Gebieten, ein anderer Teil wegen Drohungen, Gewalt gegen sie selbst oder ihre Angehörigen und politischer Verfolgung. Sie alle mussten Kolumbien verlassen, da es dem kolumbianischen Staat bis heute nicht gelingt, seine BewohnerInnen vor Gewalt und Verfolgung zu schützen. Auch heute noch anerkennt der kolumbianische Staat die Flucht ins Ausland nicht als Gewalt und Verletzung der Menschenrechte, sondern nur als verstärkender Faktor bei anderen Tatbeständen wie Drohung, gewaltsame Vertreibung, etc. Der Staat macht die Betroffenen durch diese mangelnde Anerkennung erneut zu Opfern.

Für die Nachbarländer Kolumbiens stellte die grenzüberschreitende Flucht oft eine humanitäre Notlage dar, insbesondere Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Zivilbevölkerung in den von bewaffneten Gruppierungen umkämpften Gebieten wurde immer stärker in die Kampfhandlungen hineingezogen und musste entsprechend oft vor der Gewalt fliehen. Insbesondere in abgelegenen und grenznahen Gebieten blieb dabei nur die Flucht in ein Nachbarland. So lebten 2007 über 250‘000 kolumbianische Flüchtlinge in Ecuador, weitere 200’000 befanden sich im Exil in Venezuela. Die Zahl der kolumbianischen Flüchtlinge in Panama blieb auf Grund der schwer überwindbaren Landgrenze zwischen den beiden Ländern im Darién eher gering (weniger als 20‘000 Personen).

Die Fluchtgründe sind ebenso vielfältig wie die soziale, politische und ökonomische Herkunft der Flüchtlinge. Allen gemein ist jedoch ihre Verletzlichkeit im Rahmen der Flucht. Die meisten stammen aus eher armen Verhältnissen und aus sozial und ökonomisch benachteiligten Gegenden Kolumbiens. Auf Grund ihrer Flucht verfügen sie oft am Aufnahmeort nicht über Ressourcen, sich gegen Diskriminierung und Ausbeutung zu wehren oder erfolgreich zu integrieren. In direkter Folge der fehlenden Anerkennung durch Kolumbien setzt der Staat sich gegenüber den Aufnahmeländern auch nicht für die Rechte seiner BürgerInnen ein. Nicht überall waren und sind die Flüchtlinge willkommen. Ein grosser Teil der Exilierten wurden von den Aufnahmestaaten nie anerkannt, obwohl sie vor Gewalt und Verfolgung flohen. Anlässlich der Schliessung der Grenze zwischen Venezuela und Kolumbien kam es zudem zu einer Massenausweisung von mehreren tausend kolumbianischen Flüchtlingen durch die Regierung Venezuelas. Dabei wurden auch Bestimmungen des internationalen Völkerrechts wie die für Flüchtlinge vorgeschriebene Einzelfallprüfung der Fluchtgründe sowie das Non-Refoulement Prinzip verletzt.

Seit langem setzen sich die ExilkolumbianerInnen aus ihren Aufnahmeländern und nach der Rückkehr nach Kolumbien gemeinsam für ihre Anerkennung ein. Zusammen mit anderen Opfern des bewaffneten Konflikts engagieren sie und ihre Organisationen sich zudem in Kolumbien für den Frieden. Es wäre an der Zeit, dass der kolumbianische Staat die ins Exil geflohenen KolumbianerInnen als Opfer des bewaffneten Konflikts anerkennt und ihr Potenzial bei der Aussöhnung im Rahmen des Friedensprozesses nutzt. Auf Grund ihrer internationalen Erfahrung haben sie eine einzigartige Perspektive auf den bewaffneten Konflikt, der die Gesellschaft Kolumbiens seit über 50 Jahren zerreisst.