Steter Tropfen oder heisser Stein?

Aug 17, 2021

Von Lisa Alvarado

Die Menschenrechtssituation in Kolumbien befindet sich in einem beunruhigenden Zustand. Seit Ende April die landesweiten Proteste wieder aufgenommen wurden, kommt es zeitenweise fast täglich zu Gewaltübergriffen seitens der staatlichen Sicherheitskräfte. Internationale Beobachtungsmissionen reisen nach Kolumbien, weisen die Regierung auf ihren menschenrechtswidrigen Umgang mit der Zivilbevölkerung hin und geben Empfehlungen ab, was verbessert werden sollte und wie. Die Reaktion der Regierung ist eine Verteidigungshaltung, die einem trotzenden Fünfjährigen alle Ehre machen würde. Der Hintergrund für diese Haltung stellen möglicherweise die nächstes Jahr anstehenden Wahlen dar und die Absicht, mit der ‘starken Hand’ einer ganz bestimmten Wählerschaft zu gefallen.

Vom 8.-10. Juni 2021 führte die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) eine Beobachtungsmission nach Kolumbien durch. Nachdem diese zuerst von der kolumbianischen Regierung mit der Begründung, selbst über genügend interne Kapazitäten zur Überwachung der Menschenrechte zu verfügen, abgelehnt wurde, konnte sie aufgrund internationalen Druckes dann doch durchgeführt werden. Während der dreitägigen Mission wurden in mehreren Grossstädten wie Bogotá, Cali und Popayan über 500 Personen, insbesondere aus dem zivilgesellschaftlichen Sektor, angehört. Es wurden Gespräche mit RegierungsvertreterInnen, verschiedenen Organisationen und Direktbetroffenen geführt.[1] Allerdings wurden die Gespräche alle in von der Regierung bestimmten Räumen geführt und die Mission hatte somit nicht freien Zugang zur gesamten Bevölkerung.

Das Dokument[2], das daraufhin erstellt wurde, hat es in sich. Auf 48 Seiten kritisiert die CIDH die exzessive Gewaltanwendung der Regierung gegen die Protestierenden in den landesweiten Protesten. Unter anderem kommt die Mission zum Schluss, dass wahllos Schusswaffen sowohl gegen DemonstrantInnen wie auch Unbeteiligte eingesetzt wurden, es eine hohe Zahl von verschwundenen Personen gibt, Hinweise auf Folter von Seiten der Sicherheitskräfte bestehen, ohne dass gegen die Täter gerichtliche Untersuchungen eingeleitet worden wären, ethnisch-rassistische Gewalt gegen AfrokolumbianerInnen und Indigene als auch sexuelle Gewalt gegen Demonstrantinnen durch staatliche Akteure ausgeübt wurde und es eine gewalttätige Einmischung bewaffneter Dritter (namentlich Paramilitärs) gibt. Nicht gerade leichte Kost. Diese Kritik konnte die Regierung natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Auch die Empfehlungen, die Polizei vom Verteidigungsministerium zu trennen und Strassenblockaden durch Demonstranten nicht generell zu verbieten, da sie eine legitime Protestform darstellten können, wurden schleunigst vom Tisch gefegt. «Niemand kann einem Land empfehlen, kriminelles Handeln zu dulden», sagte Duque und fügte hinzu, dass Kolumbien ein Land sei, das «friedlichen Protest respektiert»[3]. Auch Verteidigungsminister Molano beeilte sich, darauf zu beharren, dass die Polizei auf jeden Fall beim Verteidigungsministerium, und somit mit dem Militär institutionell verbunden, bleiben werde. Die Regierung begründet diese Entscheidung damit, dass dies so in der Verfassung vorgesehen sei und Gewalt und Kriminalität im Land eine «multifunktionale» (militarisierte) Polizei fordere. Weiter lehnte die Regierung auch den von der CIDH vorgeschlagenen «Follow-Up Mechanismus für Menschenrechte» mit der Begründung ab, dass das Land selbst genügend interne Mechanismen habe, die den Schutz der Menschenrechte garantieren. Déjà-vu?! Siehe Anfang des Artikels. Doch wie ist das möglich, wenn die Regierung die Proteste kriminalisiert und mit Bildern von in Ambulanzen vermeintlich wegen der Strassenblockaden sterbenden Kindern Hetze betreibt? Laut der Kommission der CIDH verliefen 89% der Proteste friedlich und waren nicht wie von Duque und seiner Mannschaft behauptet, von «extremem Vandalismus» und «städtischem Terrorismus»[4] geprägt.

 

Knapp einen Monat später – die Proteste dauern an – reist auf Initiative kolumbianischer Menschenrechtsorganisationen (u.a. Koordination Kolumbien Europa USA (CCEEU)) eine zweite grosse Beobachtungsmission nach Kolumbien. 41 internationale PolitikerInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen, Mitglieder der Presse sowie der Generalsekretär des Vatikans besuchten vom 3.-12. Juli 2021 im Rahmen der ‘SOS Colombia’-Mission wiederum verschiedene Regionen des Landes, um mit lokalen AktivistInnen, RegierungsvertreterInnen und PolizistInnen über ihre Erfahrungen zu sprechen. Auch diese Mission kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Hauptverantwortliche der Gewalt seien die Polizei, paramilitärische Gruppen und bewaffnete Zivilpersonen, also nicht die InitiantInnen der Proteste. Der vorläufige Bericht[5] listet elf konkrete, verifizierte Menschenrechtsverletzungen gegenüber den DemonstrantInnen auf. Dazu zählen selektive Tötungen, (Augen-)Verletzungen, Folter, Angriffe mit Schusswaffen, geschlechterspezifische Gewalt, sexuelle Gewalt und sexuelle Folter, willkürliche und rechtswidrige Festnahmen, willkürliche Verfolgungen und Entführungen.[6] Daraus folgend empfiehlt der vorläufige Bericht der kolumbianischen Regierung, die Repression gegen die Proteste zu beenden. Längerfristig brauche es eine Reform des Justiz- und Polizeiapparats und der Zugang zur Politik für marginalisierte Gruppen solle verbessert werden.

Die Regierung hat darauf zwar noch nicht reagiert, da der endgültige Bericht zum Redaktionsschluss dieses Artikels noch nicht veröffentlicht wurde. Aber es braucht wenig Fantasie, um sich die Antwort Duque’s vorzustellen. Ein gewisser Zynismus möchte sich einschleichen, wenn man an die harte Kritik denkt, die die kolumbianische Regierung an Venezuelas Präsident Maduro aufgrund von Repressionen gegenüber der Bevölkerung ausübt.

Auch Amnesty International hat einen Bericht veröffentlicht. Dieser analysiert drei spezifische Fälle von Gewaltübergriffen und enthält ebenfalls Empfehlungen an die Regierung.[7] Empfehlungen, von denen man wohl bereits bei der Formulierung keine grossen Hoffnungen auf sofortige Umsetzung hegt. Ähnlich deprimiert klingt auch die Schlussfolgerung eines kolumbianischen Autors in einem Meinungsartikel: «Das Ausmaß der Menschenrechtskrise im Land ist offensichtlich, da die rechtsextreme Koalition auf der Durchsetzung schädlicher politischer Maßnahmen […] besteht, die Ungleichheit, Autoritarismus und Straflosigkeit verstärken. […] Aus dieser Perspektive sind Versuche absehbar, den Inhalt des Berichts und der CIDH-Empfehlungen kleinzureden, wie dies bereits bei der kosmetischen Polizeireform […] zu beobachten ist, die sicherlich von einer scheinbaren […] Bürgerbefragung und des Dialogs ohne soziale Auswirkungen begleitet sein wird.»[8]

Welches Sprichwort gilt denn jetzt? Sind die Empfehlungen Tropfen auf einem heissen Stein oder stete Tropfen, die den Stein höhlen? Und dürfen wir uns als Menschrechtsorganisation diese Frage überhaupt stellen?

 

Die Kolumbianerinnen und Kolumbianer, die täglich auf der Strasse für ein besseres Leben protestieren, haben keine Zeit, sich solche Fragen zu stellen. Sie können sich auch keine Niedergeschlagenheit oder Depression leisten. Für sie gibt es nur einen Weg nach vorne. Und für uns Menschenrechtsorganisationen sollte das doch ein unmissverständliches Zeichen sein, uns weiterhin und mit aller Kraft für unsere Ziele einzusetzen. Die Proteste und die repressive Reaktion der Regierung zeigen wieder, wie wichtig es ist, auf der Wahrheit und den Menschenrechten zu beharren und internationalen Druck auszuüben. Dies hat schliesslich den Besuch der CIDH überhaupt erst ermöglicht. Einige Politikerinnen gehen noch weiter und drängen zu Handlungen, die über Empfehlungen hinausgehen. Eine katalanische Delegation von vier Parlamentarierinnen, die Ende Juni für fünf Tage in Kolumbien waren, sprechen sich für Sanktionen gegen die kolumbianische Regierung aus. Empfehlungen reichten nicht aus für ein «autoritäres Regime, das sich als Demokratie ausgibt», so ihre Meinung.[9] In Grossbritannien hat zudem die Labour-Abgeordnete Kate Osborne die Beziehungen Grossbritanniens zu Kolumbien und eine Debatte zur Polizeigewalt auf die Tagesordnung gesetzt.[10] Auch dort sprachen sich verschiedene Abgeordnete für Sanktionen aus. Vorschläge waren, dass die Regierung das Schulungsprogramm der kolumbianischen Polizei durch Grossbritannien überprüfen und gegebenenfalls aussetzen oder ein Waffenembargo durchsetzen solle. Auf EU-Ebene rufen gewisse EU-Parlamentarier zur Debatte auf, ob das Freihandelsabkommen mit Kolumbien nicht suspendiert werden sollte.

Dies sind alles wichtige Vorschläge und Diskussionsgrundlagen. Und auch wenn wir uns manchmal fragen, ob das alles überhaupt einen Sinn hat, dürfen wir nicht vergessen, dass in Kolumbien Tag für Tag Menschen ums Überleben kämpfen. Solange dies so ist, wird es immer einen Sinn haben, sich für Menschenrechte einzusetzen.

 

 

 

 

[1]https://amerika21.de/2021/07/252354/kolumbien-cidh-bericht-gewalt-polizei?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

[2] https://www.oas.org/es/cidh/informes/pdfs/ObservacionesVisita_CIDH_Colombia_SPA.pdf

[3] https://www.elheraldo.co/colombia/nadie-puede-recomendarle-un-pais-ser-tolerante-con-actos-de-criminalidad-831559

[4] https://www.semana.com/nacion/articulo/hay-terrorismo-urbano-financiado-por-las-mafias-del-narcotrafico-duque/202136/

[5] https://www.colombiainforma.info/se-deben-pasar-de-las-recomendaciones-a-las-sanciones-delegacion-catalana-en-colombia/

[6] https://amerika21.de/2021/07/252556/reaktionen-repression-kolumbien?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

[7] https://www.amnesty.de/sites/default/files/2021-07/Amnesty-Bericht-Kolumbien-Polizeigewalt-Proteste-Cali-Juli-2021.pdf

[8] https://www.arcoiris.com.co/2021/06/cidh-incidencias-de-una-visita-socialmente-aclamada/

[9] https://www.colombiainforma.info/se-deben-pasar-de-las-recomendaciones-a-las-sanciones-delegacion-catalana-en-colombia/

[10] https://www.justiciaypazcolombia.com/parlamentarios-britanicos-piden-suspension-de-apoyo-a-policia-colombiana-durante-duro-debate-sobre-colombia/