Politischer Kontext 2019
Von Lisa Alvarado
Das neue Jahr hat zwar schon lange begonnen, aber ein Rückblick auf das letzte lohnt sich dennoch. Dieser Artikel stellt in dem Sinne einen Überblick über das politische Jahr 2019 in Kolumbien dar, welches geprägt war von der Umsetzung des Friedensvertrages sowie der Offenlegung der Strategie der Regierung Duque. Damit in Verbindung standen diverse Proteste sowie leider weiterhin Gewalt an sozialen Führungspersonen und MenschenrechtsverteidigerInnen.
Im Februar 2019 stellte Präsident Duque gleich mehrere Pläne für die Amtszeit seiner Regierung vor: den Nationalen Entwicklungsplan 2018-2022 sowie den Plan für Sicherheit und Verteidigung, der die Sicherheitspolitik der Regierung Duque umschreibt. Anhand der beiden Pläne wurde die neoliberale, uribistische Agenda der Regierung Duque offensichtlich.
Die drei Schlagwörter des Plans lauten Gesetzmässigkeit, Unternehmertum und Gleichheit.
Im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung setzt die Regierung voll und ganz auf den Ressourcenabbau und -export. Internationalen Konzernen soll die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen (Bodenschätze wie auch Agrargüter) noch leichter gemacht werden. Für die nachhaltige ländliche Entwicklung oder die Umsetzung des Friedensabkommens im ländlichen Raum (Finanzierung der PDET, Integrale Landreform, etc.) ist jedoch kein Geld vorhanden. Hingegen will Duque in die sogenannte ‚industria naranja‘ investieren, welche kreative und künstlerische Projekte, neue Technologien und auch kulturelle Angelegenheiten
umfasst.
Im Sicherheitsbereich setzte Präsident Duque vor allem auf Konzepte, die bereits unter seinem Mentor und vormaligen Präsidenten Uribe (2002-2010) Misstrauen, Gewalt und Tod gesät hatten. Weitere Friedensverhandlungen mit illegalen bewaffneten Gruppierungen wurden hingegen ausgeschlossen. So sind die Friedensverhandlungen mit dem ELN nach einem Bombenanschlag auf eine Polizeischule in Bogotá im Januar abgebrochen worden und wurden bis heute nicht wieder aufgenommen. Duque setzt einen starken Fokus auf Legalität und Militarisierung, was durch das Jahr hindurch gravierende Folgen hatte mit Skandalen um Bodycounts in der Armee oder einem Dutzend toter Jugendlicher nach einer Bombardierung im Caquetá. Dies führte schlussendlich zum Rücktritt des Verteidigungsministers und des Armeechefs.
Dass Militarisierung keine Lösung ist, hat sich auch daran gezeigt, dass sich der Konflikt in verschiedenen Regionen zwischen FARC-Dissidenzen, ELN und paramilitärischen Gruppen verschärft hat, dass es humanitäre Krisen (Chocó) und ausufernde Gewalt (Cauca) gab. Dazu kamen zunehmend Zeugenaussagen zu enger Zusammenarbeit oder aktivem Wegschauen der Armee bei paramilitärischem Aufmarsch.
Die Beziehungen zum Nachbarland Venezuela blieben angespannt. Während weiterhin täglich venezolanische Flüchtlinge über die Grenze nach Kolumbien kamen, vertrat die Regierung eine Position, die einseitig von den USA beeinflusst war.
Die Bilanz der Regierung Duque verschlechterte sich durch das Jahr konstant. So erhob Duque Einspruch gegen sechs verschiedene Bestimmungen des Rahmengesetzes der JEP und schickte es zurück an den Kongress, in einem Versuch, die Legitimität der Sonderjustiz zu diskreditieren. Im Kongress erlitt Duque allerdings eine deutliche Niederlage, und das Verfassungsgericht entschied schliesslich, den Einspruch von Duque abzulehnen und verpflichtete ihn dazu, das Gesetz für die JEP Anfang Juni zu unterzeichnen. Ende Mai bestätigte zudem der oberste Gerichtshof die von der JEP verlangte Freilassung des ehemaligen FARC-Kommandanten alias Jesús Santrich. Darauf schlug Alvaro Uribe, Anführer der Regierungspartei Centro Democratico, eine verfassungsgebende Versammlung (asamblea constituyente) vor, um die Verfassung und somit das Friedensabkommen mit der FARC abzuändern. Doch auch diese Pläne scheiterten an einer mangelnden Unterstützung im Kongress. Ein weiterer Rückschlag für das Centro Democratico stellte der Gerichtsprozess gegen Alvaro Uribe dar, welcher im September zu einer Anhörung erscheinen musste, da ihm Manipulation von Zeugen und Beziehungen zu Paramilitärs vorgeworfen werden.
Am 29. August 2019 kündigte der ehemalige Chefunterhändler und Nummer zwei der ehemaligen Guerilla FARC, Iván Márquez, gemeinsam mit weiteren ehemaligen Führungspersonen der FARC die Wiedergeburt und -bewaffnung der Guerilla an. Wegen des Verrats der Regierung Kolumbiens am Friedensabkommen von 2016 seien die FARC-EP gezwungen, wieder zu den Waffen zu greifen. Márquez erwähnte dabei die über 500 seit der Unterzeichnung des Friedenabkommens ermordeten sozialen Führungspersonen, die 150 ermordeten ehemaligen KämpferInnen der FARC, die mangelnden juristischen Garantien und die einseitigen Vertragsänderungen sowie die verweigerte Umsetzung von Agrarreform und freiwilliger Kokasubstitution durch die Regierung. Dies änderte aber nichts an der Tatsache, dass weiterhin die grosse Mehrheit der ehemaligen FARC-Mitglieder zum Friedensabkommen steht und sich aktiv für eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft engagiert.
Unabhängig von der Wiederbewaffnung von Teilen der ehemaligen FARC zeigte sich im Laufe des Jahrs 2019 auch die geringe Bereitschaft der Regierung Duque zu einer Umsetzung des Friedensabkommens. Obwohl Duque der internationalen Gemeinschaft gegenüber immer wieder versprach, das Friedensabkommen vollständig umzusetzen, zeigten die Budgets seiner Regierung wenige Bemühungen in diese Richtung. Auch die Situation der ehemaligen FARC-KämpferInnen erwies sich als schwierig. Obwohl unterdessen die meisten in den Reintegrationszentren (ECTR) untergekommen waren und ihre Waffen abgegeben hatten, fehlte die finanzielle Unterstützung der Regierung. Dazu kam, dass Drohungen, Gewalt und Morde an ehemaligen FARC-KämpferInnen zugenommen hatten. Dies hatte unter anderem mit dem Kontext der Regional- und Lokalwahlen im Oktober 2019 zu tun.
Im Vorfeld der Wahlen erreichte die politisch motivierte Gewalt neue Höchstwerte. Insgesamt kamen sieben Kandidaten im ganzen Land ums Leben. Die Wahlen selber boten vor diesem Hintergrund dann doch ein eher überraschendes Resultat. Obwohl es am Wahltag an verschiedenen Orten wiederum zu Gewaltausschreitungen kam, gewannen schlussendlich Mitte-Links KandidatInnen deutlich an Boden, während die Mitte-Rechts Parteien, angeführt von der Regierungspartei Centro Democratico, zu den Verlierern zählten. Zu den ÜberraschungsgewinnerInnen zählten unter anderem Claudia López der Partei Alianza Verde in Bogotá sowie Daniel Quintero, parteilos, in Medellín. Die Gouverneurswahlen hingegen waren wie üblich stark von der politischen Maschinerie und traditionellen Parteien geprägt. Dies zeigte sich vor allem in den Departementen Antioquia, Bolivar, Santander und Norte de Santander, wo Politiker gewählt wurden, die von traditionellen Parteien und Clans unterstützt wurden. Parteitechnisch haben hauptsächlich die Alianza Verde sowie die liberale Partei zugelegt. Bedeutsam war sicherlich auch das Resultat der neuen FARC Partei, welches sehr mager ausgefallen war. Die Partei hat ihr Ziel, ihre politische Kraft auf lokaler Ebene aufzubauen, nicht erreicht. Tatsächlich hat die Partei an keinem der Orte, wo sie historisch am präsentesten gewesen ist, viele Stimmen gewonnen. Dies sollte aber vor dem Hintergrund der Stigmatisierung und Gewalt gesehen werden, welche im Vorfeld der Wahlen das Land prägte.
Aus Umweltsicht standen 2019 die Brände im Amazonas sowie die Besprühungen von Kokapflanzungen mit Glyphosat und das Fracking in der Diskussion. Die Regierung Duque argumentierte sowohl für die Besprühungen mit dem Pestizid Glyphosat wie auch für das Fracking. Aus Sicht der Regierung sind die Besprühungen effizient und günstig und haben in
der Vergangenheit gut funktioniert. Fracking sieht die Regierung als einzige Lösung für die
zukünftige Energieversorgungssicherheit des Landes. Dem stehen Argumente von Umweltverschmutzung in grossem Ausmass entgegen sowie Statistiken, die im Falle der Glyphosatbesprühungen zeigen, dass diese in der Vergangenheit überhaupt nicht effektiv gewesen sind. Sowohl die Frage nach der Wiederaufnahme von Glyphosatbesprühungen wie auch ob Fracking in Kolumbien legalisiert werden soll, waren bis Ende Jahr noch nicht definitiv entschieden.
Aus zivilgesellschaftlicher Sicht war 2019 ein Jahr des Protests. Es begann im März mit der
Minga Indígena, wobei über 13‘000 Indigene in den Departementen Cauca, Huila, Caldas
und Valle del Cauca streikten und die Panamericana Strasse während fast einem Monat
lahmlegten. Am 25. April gab es dann einen nationalen Streik, ausgerufen von KleinbäuerInnen, Indigenen, AfrokolumbianerInnen und ArbeiterInnen als Protest gegen den Entwurf für den Nationalen Entwicklungsplan (PND) der Regierung und für die integrale Umsetzung des Friedensabkommens. Wie bereits bei der Minga im März reagierte die Regierung hauptsächlich mit Repression und Gewalt. Die Proteste wurden am 26. Juli mit Märschen zum Schutz von MenschenrechtsverteidigerInnen fortgesetzt. Ab Ende September dann gab es in mehreren Städten Studierendenproteste, zuerst gegen Finanzierungslücken im Budget der Regierung und Korruptionsfälle in Führungsebenen von Universitäten, später dann auch gegen die übermässige Gewalt von Polizei und ESMAD.
Die Proteste ab Ende November schliesslich können, obwohl unabhängig entstanden, in die
Reihe von Protesten in ganz Lateinamerika eingeordnet werden. Dabei ging es in Kolumbien
um die Unzufriedenheit mit einem Modell der Globalisierung, welches die Jugend und die Frauen diskriminiert, die Regeln von multinationalen Konzernen vertritt und grundlegende öffentliche Dienstleistungen privatisiert.
Obwohl die Nachrichten gefüllt waren mit Bildern von massloser, repressiver Gewalt seitens der nationalen Sicherheitskräfte, war von gewissen Seiten doch ein leiser Optimismus zu vernehmen. In den grösstenteils friedlichen Protesten und „cacerolazos“ wird das Entstehen einer politisch aktiven Jugend und Gesellschaft im Allgemeinen gesehen. Das Jahr ging mit einer Protestpause über Weihnachten zu Ende, allerdings nicht ohne Ankündigungen für die Weiterführung der Proteste zu Beginn des neuen Jahrs.