Neuer Schlag gegen die Selbstbestimmung und das Überleben der Awá
Von Stephan Suhner
Im März 2021 hatten wir eine virtuelle Vortrags- und Lobbyreise von VertreterInnen des Volkes der Awá mitorganisiert, nun wurden erneut drei Mitglieder dieses von der Auslöschung bedrohten Volkes ermordet. Die Regierung Duque setzte nur auf mehr Armeepräsenz und gibt allein dem Drogenhandel die Schuld an der Gewalt. Für die Umsetzung des Friedensabkommens und für die Unterstützung der Pläne und Vorschläge der Awá zeigte Duque kein Interesse. Die Hoffnung der Awá beruht nun auf der neuen Regierung und v.a. der Vizepräsidentin Francia Márquez.
Am 3. Juli 2022 kam es im Reservat Inda Sabaleta des indigenen Volkes der Awá zu einem Massaker, bei dem drei Gemeinschaftsmitglieder umgebracht wurden: Juan Orlando Moriano, der stellvertretende Gouverneur des Reservates Inda Sabaleta und Ratsmitglied der indigenen Wache, der Guardia Indigena, eine anerkannte Führungsperson der Awá; sowie John Faver Nastacuas und Carlos José García, beides Mitglieder der indigenen Wache und Leibwächter. Die drei 20- bis 35-jährigen Indigenen wurden am helllichten Tag vor den Augen der Gemeinschaft umgebracht. Weitere Gemeinschaftsmitglieder wurden zum Teil schwer verletzt. Dieses Verbrechen ist bisher völlig straflos geblieben. Als Täter werden illegale bewaffnete Akteure, die in der Gegend operieren und die auch die Begräbnisfeierlichkeiten vom 6. Juli 2022 gestört hatten und weiterhin die traditionellen Autoritäten der Awá bedrohen, vermutet.[1] Der Verteidigungsminister Diego Molano hat sofort gesagt, dass der Tod von Juan Orlando vor dem Hintergrund des Streits um den Preis der Koka zu sehen sei, was absolut verleumderisch ist. Juan Orlando war u.a. Koordinator der 1600 Personen umfassenden Guardia Indigena und sehr aktiv in der Verhinderung von Zwangsrekrutierungen indigener Jugendlicher.
Die Lage des Volkes der Awá ist besorgniserregend. Sie stecken in einer humanitären Krise und in einem systematischen Prozess der physischen, kulturellen und spirituellen Auslöschung. Trotz des juristischen Rahmens zu ihrem Schutz, der auf mehreren Urteilen des Verfassungsgerichts und vorbeugenden Schutzmassnahmen der interamerikanischen Kommission für Menschenrechte beruht, geht der alltägliche Horror mit Morden, Drohungen, Erpressung, Antipersonenminen, Massaker und Einschränkung der Bewegungsfreiheit weiter.
Das Resguardo Inda Sabaleta gehört der Indigenen Einheit des Volkes der Awá UNIPA und der Grossen Binationalen Familie der Awá GFAB an. Die Awá sind entschlossen, trotz der schwierigen Lage ihre Selbstregierung und Autonomie zu vertiefen und den solidarischen Widerstand und das gemeinsame Voranschreiten zu stärken. Die Arbeit und Aufopferung von Juan Orlando soll nicht vergebens gewesen sein.
Was ist der Hintergrund dieses neuen Massakers?
Der erneute Mord an mehreren Mitgliedern des Volkes der Awá hat national wie international grosse Empörung hervorgerufen. Die kolumbianische Generalstaatsanwaltschaft hat ein Spezialteam zu Aufklärung des Verbrechens eingesetzt, die Sonderjustiz für den Frieden JEP untersucht die mögliche Ausrottung dieses Volkes und hat wie auch die UNO und NGOs wie Human Rights Watch die Morde scharf verurteilt. Dejusticia hat einen Bericht über die Gewalt und die Gefahr der physischen und kulturellen Ausrottung der Awa zuhanden der JEP eingereicht. Die Situation der Awá und ihres Territoriums Katsa Su wurde 2018 Teil des macro caso 02 der JEP. Das Territorium der Awá wurde dadurch als Opfer des bewaffneten Konfliktes und als kollektives Rechtssubjekt anerkannt.[2] Die JEP hat auch fehlende Garantien für die kollektive Bewegungsfreiheit des Volkes der Awá festgestellt. Trotz des Friedensabkommens von 2016 hat die Gewalt in dieser Region kaum abgenommen, obwohl die Regierung versuchte, die illegalen bewaffneten Gruppen zu bekämpfen und die Drogenpflanzungen zu reduzieren. Schon nach einer kurzen Beruhigung nahmen die Übergriffe wieder zu: Die Beobachtungsstelle für Menschenrechte der UNIPA registrierte seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 95 Morde, 4 Massaker und 16 Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen.
Die Awá leiden schon seit mindestens drei Jahrzehnten unter dem internen bewaffneten Konflikt. 2009 verübten die FARC das Massaker von Tortugaña Telembí, bei dem 12 Awá ermordet und 850 Indigene gewaltsam vertrieben wurden. 2009 und 2011 hat das Verfassungsgericht daher prioritäre Schutzmassnahmen für das Volk der Awá verfügt, und mit dem Erlass 004/2009 die Awá als eines der 36 vom kulturellen und physischen Aussterben bedrohten indigenen Völker erklärt. 2011 hat auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) vorsorgliche Schutzmassnahmen angeordnet und den kolumbianischen Staat aufgefordert, Massnahmen zu ergreifen, die das Überleben des Volkes garantieren. Ebenfalls 2011 hat das Permanente Forum für Indigene Angelegenheiten der UNO nach einer Feldmission in Kolumbien festgehalten, dass in Nariño ein Genozid gegen die Awá im Gange sei. Damals wie heute wurden verschiedenste Bedrohungen festgestellt, so Massaker, Antipersonen-Minen, gewaltsame Vertreibungen, Morde, geschlechtsspezifische Gewalt und Anfeindungen.[3] Im August 2021 hat das Anwaltskollektiv CAJAR vor der grossen Gefahr gewarnt, nachdem 500 bewaffnete Männer in das Reservat einmarschierten. Es kam zu Gefechten mit illegalen bewaffneten Gruppen, die schon anwesend waren, so dass am 3. August 2021 sechs Personen ums Leben kamen, darunter eine schwangere Frau durch eine Antipersonenmine. Am 28. September 2000 wurden fünf Awá ermordet und 40 verschleppt, was zu einer Massenvertreibung der ganzen Gemeinschaft führte.
Die Awá denunzieren die Gewalt und leisten friedlich Widerstand
Eine Delegation der UNIPA reiste nach dem Mord an Juan Orlando nach Bogotá, um die Gewalt, die sie erleiden, zu denunzieren und einmal mehr effektive Schutzmassnahmen zu fordern. Sie legten dabei auch dar, wie gross die negativen Auswirkungen der Morde auf die Gemeinschaften der Awás sind, wie die sozialen Netzwerke dadurch zerstört werden. Die heutige Gewalt ist für die Awá die Folge der mangelnden Umsetzung des Friedensabkommens und sie werfen der Regierung Duque fehlenden Willen vor. Carlos Espitia von Indepaz fügt hinzu, dass es sich um eine sehr komplexe Region handle, als Grenzgebiet und mit Zugang zum Meer, mit vielen Drogenhandelsrouten. Nach dem Abzug der FARC entstand ein Vakuum bei der territorialen Kontrolle, was zu einer Neuordnung des Konfliktes und zu einer Atomisierung der illegalen bewaffneten Gruppen führte. Die meisten dieser Gruppen sind nicht mehr politische, sondern rein militärische Strukturen, die sich dem Drogenhandel widmen. Die staatliche Präsenz reduziert sich auf eine zunehmende Militarisierung, es gibt keinen integralen Ansatz zum Schutz der Bevölkerung. Die UNIPA beklagt, dass es 620 von der Regierung unterzeichnete Verpflichtungen gebe, die aber lediglich auf dem Papier blieben, da nicht mal eine minimale soziale Grundversorgung sichergestellt ist. Neue Hoffnung schöpfen die Awá durch die neue Regierung, v.a. dank der Vizepräsidentin Francia Márquez, die den Konflikt genauso am eigenen Leib erfahren hat wie die Awá. Sie hoffen auf ein echtes Engagement für den Frieden. In der Zwischenzeit setzen die Awá auf Mechanismen des Selbstschutzes durch eine Stärkung der Guardia Indígena und fördern Gemeinschaftsradios um die Kultur lebendig zu halten, die sozialen Netze zu reparieren und gegen die Zwangsrekrutierung der Minderjährigen anzukämpfen. Sie kämpfen gegen die Militarisierung ihres Territoriums und wollen ihre Reservate als Kraftquellen des Lebens verstanden wissen: Wenn es ihnen gelingt, die Gewalt einzudämmen, können sie sich dem Schutz der Biodiversität widmen, z.B. den mehr als 1000 Vogelarten in ihrem Territorium. Auf keinen Fall wollen sie gegenüber der gegen sie ausgeübten Gewalt schweigen, denn wenn sie still seien, würde man sie umbringen.[4]
Drogen und kriminelle Banden – die einfache Sicht der Regierung Duque
Für die Awá ist die Situation durch die vielen neuen bewaffneten Akteure unübersichtlich und schwierig geworden. Der bewaffnete Konflikt und die Präsenz illegaler Akteure in der Gegend haben zugenommen, da einige der wichtigsten Drogenhandelsrouten durch das Gebiet verlaufen und viel Koka angebaut wird. Die Awá beklagen die Vernachlässigung durch den Staat, sowohl was soziale Investitionen als auch institutionelle Präsenz und Schutz anbelangt. Zudem sei der interne Konflikt unübersichtlich geworden, so dass sie nicht mehr wissen würden, wer für die Gewalttaten verantwortlich sei. Die illegalen bewaffneten Akteure würden sich an einem Tag als diese, am anderen Tag als jene präsentieren. Die Regierung Duque stellt die Awá aber unter Generalverdacht, mit dem Drogenhandel und den illegalen bewaffneten Gruppen unter einer Decke zu stecken. Daher auch die Aussagen des Verteidigungsministers, Juan Orlando sei wegen einem Streit um den Preis der Koka ermordet worden. Grund für solche Anschuldigungen dürfte ein umstrittenes Gerichtsurteil sein.
Am 29. Juli 2020 hat ein Urteil des Obersten Gerichtes von Pasto dem Volk der Awá das Recht zugestanden, der Armee den Zutritt in die Reservate um Koka auszurotten zu verbieten. Dieses Urteil erging, nachdem am 22. April 2000 das Gemeinschaftsmitglied Angel Artemio Nastacuas durch einen Antidrogenpolizisten ermordet wurde. Daher urteilte das Gericht, dass gewaltsame Drogenausrottung nicht mehr ohne die Einwilligung der Gemeinschaften erfolgen dürfe. Die Armee macht genau dieses Urteil für die Verschlechterung der Situation verantwortlich, da ihnen die Hände gebunden seien um die Zivilbevölkerung zu schützen. Durch das Urteil habe sich die Koka innerhalb eines Jahres mindestens verdoppelt, von 26‘000 Hektaren 2021 auf mindestens 56‘000 Hektaren 2022. Vier illegale bewaffnete Gruppen würden sich diese Pflanzungen streitig machen: das ELN, zwei FARC-Dissidenzen (Segunda Marquetalia und Columna Oliver Sinisterra) sowie eine neue Dissidenten-Gruppe, die vom Cauca gekommen sei, so General Galindo von der Einsatzgruppe Hércules der Armee. Ebenso ist das Kartell von Sinaloa in der Gegend präsent und finanziert illegale Kräfte und den Drogenhandel. Für General Galindo ist es unmöglich, das die Awá, die dort leben, nicht wüssten, wer sie umbringt, da sie mit diesen Gruppen leben und arbeiten würden. Statt solcher Anschuldigungen wie unter der Regierung Duque erhoffen sich die Awá von der neuen Regierung Petros mehr institutionelle Präsenz und kollektive Schutzmassnahmen.[5] Vor dem Hintergrund der Anstrengungen der Awá, ihr Territorium Katsa Su vor dem Krieg und der Zerstörung zu bewahren und dadurch auch ihre Kultur zu retten und ihr eigenes Überleben zu sichern, sind diese Anschuldigungen der Regierung Duque geradezu hanebüchen.
Zum Weiterlesen und anschauen:
Empfehlenswerter Dokfilm über das gute Leben der Awá: El Buen Vivir | Temporada 3 | Capítulo 1: Nacer y morir – YouTube
Die Webseite der NGO Dejusticia mit weiterführenden Artikeln zu den Awá: https://www.dejusticia.org/?s=Aw%C3%A1
Facebook-Seite der UNIPA: https://www.facebook.com/unidadindigenadelpuebloawa.unipa/
[1] Gran Familia Awá Binacional, Pronunciamiento público 001 de 2022, 6. Juli 2022.
[2] ¿Qué implicaciones tiene el conflicto armado y el exterminio físico y cultural del pueblo Awá? – Dejusticia
[3] Comunidad Awá: De protegidos por la CIDH al constante riesgo de exterminio | EL ESPECTADOR
[4] Los indígenas awá denuncian el exterminio de su pueblo | EL PAÍS América Colombia (elpais.com)