Massiver Anstieg der Gewalt

Mai 28, 2019

Von Fabian Dreher

2018 ist die Gewalt gegen MenschenrechtsverteidigerInnen und soziale Führungspersonen in Kolumbien erneut massiv angestiegen. Der Jahresbericht der NGO Somos Defensores[1] zeichnet die Ursachen der Gewalt nach und stellt der Regierung von Präsident Iván Duque ein miserables Zeugnis aus.

Seit dem Inkrafttreten des Friedensabkommens zwischen den FARC und der Regierung Kolumbiens am 1. Dezember 2016 nimmt die Gewalt gegen MenschenrechtsverteidigerInnen und soziale Führungspersonen in Kolumbien zu. Dieser Anstieg setzte sich 2017 fort und erreichte 2018 erneut einen traurigen Höhepunkt. Die Gewalt war im Präsidentschaftswahlkampf im Frühjahr 2018 eher nebensächlich. Im Zentrum der Auseinandersetzung standen die unterschiedlichen Vorstellungen zum Friedensprozess und zur Umsetzung des bereits unterzeichneten Friedensabkommens. Mit Ivan Duque wählte Kolumbien schliesslich einen Präsidenten, der dem Lager der Neinkampagne gegen das Friedensabkommen angehört.

Bei seinem Amtsantritt waren von Präsident Duque versöhnliche Worte zu vernehmen. In seiner Antrittsrede sprach er denn auch von den Morden an sozialen Führungspersonen, die mit 97 im ersten Halbjahr 2018 einen neuen Höhepunkt erreicht hatten. Die politische Realität zeigte jedoch schnell, dass Sicherheitsgarantien und der Schutz von MenschenrechtsverteidigerInnen für die neue Regierung keine Priorität darstellen.

Kolumbien befindet sich in einer beispiellosen menschenrechtlichen Krise. Jeden Tag werden mehrere MenschenrechtsverteidigerInnen und soziale Führungspersonen bedroht, verfolgt, stigmatisiert, sehen sich unrechtmässigen Repressalien ausgesetzt und beinahe täglich werden soziale Führungspersonen ermordet. Der kolumbianischen Regierung ist dies vollkommen egal. Zur Beschwichtigung der empörten Zivilgesellschaft und der internationalen Gemeinschaft werden ab und zu ein paar vage Versprechungen gemacht, sonst nichts. Ihre Prioritäten liegen bei der Privatwirtschaft und der sogenannten „orangen Wirtschaft“ (economia naranja). Das Konzept der „orangen Wirtschaft“ umschreibt eine „kreative und kulturelle Wirtschaft“ die aus Ideen Geld generiert[2]. Damit werden Branchen wie z.B. Informationstechnologie, Softwareproduktion, Werbung und Marketing, Tourismus, etc. zusammengefasst. Grundsätzlich ist unbestritten, dass die kolumbianische Wirtschaft sich transformieren und diversifizieren muss. Bis heute bleiben die Konzepte der Regierung zur Förderung der „orangen Wirtschaft“ jedoch äusserst nebulös. Es ist viel von der Förderung des Unternehmertums die Rede und wenig, wie in diesen Bereichen Stellen und Wohlstand für die grosse Mehrheit der Bevölkerung geschaffen werden können. Mit der Senkung der Unternehmensbesteuerung ist nicht automatisch garantiert, dass die Unternehmen mit dem Geld neue Stellen schaffen. Gleichzeitig werden der öffentlichen Hand aber dringend benötigte Mittel für Gemeingüter wie z.B. Sicherheit, Bildung oder Gesundheit entzogen.

So gibt es heute ein Vizeministerium für die orange Wirtschaft, einen nationalen Beirat für die orange Wirtschaft, ein oranges Gesetz, einen Pakt für die orange Wirtschaft und Kultur, ja gar eine orange Jugend. Aber bessere Schutzmechanismen und Sicherheitsgarantien für MenschenrechtsverteidigerInnen und soziale Führungspersonen sind keine in Sicht. Denn dafür reichen die finanziellen Mittel der Regierung nicht aus. Die Zunahme der Gewalt, die Ausbereitung der illegalen bewaffneten Gruppierungen und Organisationen, der ausufernde illegale Bergbau und Drogenhandel sind der Regierung von Präsident Duque bis heute egal. Solange es der Wirtschaft gut geht. Die Mitglieder der Regierung und anderer staatlicher Institutionen wie der Obersten Staatsanwaltschaft betonen bei jeder Gelegenheit, dass sich die Regierung für die vernachlässigten Gebiete einsetze und dass immer mehr Morde und Gewalttaten aufgeklärt werden. Ein Blick auf die Realität in den vom bewaffneten Konflikt betroffenen Regionen sowie auf die Statistik lässt aber an diesen Darstellungen zweifeln. Es handelt sich dabei um eine Ablenkungsstrategie. Genauso wie die PR-Reise des Aussenministers Holmes Trujillo nach Europa im Mai 2019.

Derweil kämpfen die MenschenrechtsverteidigerInnen in Kolumbien ständig an zwei Fronten: auf der einen Seite für die Rechte ihrer Gemeinschaften, auf der anderen gegen die Drohungen und die Angriffe auf ihr Leben. Gemäss dem Bericht der NGO Somos Defensores wurde 2018 gegen mindestens 805 soziale Führungspersonen Gewalt verübt, 155 von ihnen wurden ermordet. Gegenüber dem Vorjahr stellt dies bei den Morden eine Steigerung um 46,2 Prozent dar. Insbesondere gewalttätig waren 2018 die Monate rund um die Präsidentschaftswahlen (Mai, Juni) sowie um die Amtseinsetzung von Präsident Duque (Juli, August). Die Gewalt richtet sich vor allem gegen Indigene, KleinbäuerInnen, AfrokolumbianerInnen sowie GemeinschaftsführerInnen im ländlichen Raum. Meistens steht sie im Zusammenhang mit den von illegalen bewaffneten Organisationen kontrollierten Ökonomien sowie Streitigkeiten über Besitz und Nutzung des Bodens. Mit dem Abzug der FARC aus den vom bewaffneten Konflikt betroffenen Gebieten hat sich die Zahl der illegalen bewaffneten Gruppierungen vervielfacht. Damit haben auch die bewaffneten Auseinandersetzungen unter diesen Gruppierungen deutlich zugenommen. Der kolumbianische Staat ist bis heute nicht fähig, für die Sicherheit der gesamten Bevölkerung auf seinem Staatsgebiet zu sorgen.

Mit dem im November 2018 vorgestellten Plan de Acción Oportuna (PAO) ignoriert die Regierung von Präsident Duque die bereits existierenden Mechanismen zur Reduktion von Risiken und ihre gesetzlichen und internationalen Verpflichtungen, wie die ask! im April 2019 analysierte[3]. Auch die Oberste Staatsanwaltschaft kommt ihren Verpflichtungen nicht nach und begünstigt dadurch eine rekordhohe Straflosigkeit. Mit kruden Argumenten versucht die Staatsanwaltschaft, ihr Versagen schönzureden. So präsentiert sie regelmässig Aufklärungsraten von um die 50 Prozent. Wie der Bericht von Somos Defensores jedoch detailliert darlegt, handelt es sich dabei um alle Fälle von Morden an MenschenrechtsverteidigerInnen, bei denen mindestens Voruntersuchungen in Angriff genommen wurden. Die reale Aufklärungsrate, die auch zu Urteilen gegen die TäterInnen führt, liegt stets unter 10 Prozent. So bleibt auch die Täterschaft bei über 50 Prozent der Fälle unbekannt, was die politische Natur der Gewalt verschleiert. Den politisch Verantwortlichen kommt diese Entpolitisierung der Gewalt äusserst gelegen. Honni soit qui mal y pense – Ein Schelm wer Böses denkt.