Kritische Sicht der kolumbianischen Zivilgesellschaft versucht sich in Genf Gehör zu verschaffen

Mrz 1, 2021

Von Lisa Alvarado

Jedes Jahr im März findet in Genf die Session des UNO-Menschenrechtsrates statt, an dem über Menschenrechte und deren Einhaltung auf der ganzen Welt debattiert wird. Sonderberichterstatter tragen Abscheulichkeiten auf diplomatische Weise vor, VertreterInnen von Betroffenen versuchen an sogenannten Side Events die ganze Tragweite der Tragödien sichtbar zu machen und Regierungsabgeordnete hören zu und machen Notizen, um dann in den ihnen zur Verfügung gestellten zwei Minuten vorsichtig formulierte Handlungsempfehlungen abzugeben. Doch trotz viel diplomatischem Bärentanz können gewisse Worte, von den richtigen Personen geäussert, viel Gewicht haben und von den angeklagten Regierungen, so auch immer wieder Kolumbien, durchaus auch ernst genommen werden. 

Nicht nur an den Side Events werden die Situationen in den betroffenen Ländern geschildert, es gibt auch im Vorfeld immer wieder Lobbytreffen, und an einem solchen war die ask! dabei. Natürlich ging es um Kolumbien und dessen MenschenrechtsverteidigerInnen (MRV). Ana María Rodríguez von der kolumbianischen Juristenkommission (CCJ) stellte dabei die Situation des letzten Jahres sehr lebhaft und eindringlich dar. Dabei legte sie Gewicht auf fünf Themen, die auch diesen Artikel strukturieren sollen. Das Thema COVID-19 liegt dabei als transversales Thema über allen anderen, da die Pandemie die freie Zirkulation von illegalen Akteuren in totaler Straffreiheit erlaubt und die Reaktionen des Staates auf alles was nicht mit dem Virus zu tun hat, inklusive Sicherheitsgarantien, noch mehr verlangsamt.  

Situation der MRV

So reagiert die nationale Schutzeinheit (UNP) zum Beispiel bloss auf 16% der Anfragen positiv. Das heisst, knapp ein Sechstel aller Personen, die bei der UNP Schutz beantragen, bekommen auch welchen. Wobei sich dieser Schutz immer noch auf schusssichere Westen, einen Panikknopf und eventuell einen Bodyguard beschränken. Dies ist die einzige Schutzmassnahme, welche die Regierung umsetzt. Das führt dazu, dass sehr viele Leute diese Schutzmassnahmen beantragen, was möglicherweise zu fehlenden Kapazitäten führt. Dies könnte einen Teil der spärlichen positiven Beantwortungen der Anträge erklären, allerdings sieht Rodríguez den grössten Teil der Schuld in der Institution selber, welche im Vergleich zu anderen Ländern ein überaus grosses Budget (in Millionenhöhe) zur Verfügung habe. Es gäbe zwar durchaus andere, auch soziale und kollektive Massnahmen, die von der Regierung aber nicht umgesetzt werden. Diese konzentriert sich ausschliesslich auf physischen Schutz durch die UNP sowie mit militärischer Präsenz. 

Was die Lage der MRV weiter verschärft ist die Tatsache, dass es eine fast komplette Straflosigkeit betreffend der Menschenrechtsverletzungen gibt, und wie Rodríguez sagt, solange nicht bekannt ist, wer die intellektuellen Täter der Attentate sind, wird die Kette der Gewalt nicht durchbrochen werden können. Die Staatsanwaltschaft (fiscalía), die für die Aufdeckung solcher Straftaten verantwortlich ist, scheint mehr damit beschäftigt zu sein, Ziffern und Statistiken zu Gunsten der Regierung zu manipulieren als tatsächlich zu ermitteln. Dazu kommt, dass laut Rodríguez die nationale Ombudsstelle (defensoría del pueblo) schon bald der Staatsanwaltschaft unterstellt sein und somit kein unabhängiges Register mehr führen wird. Dies wird Auswirkungen haben auf das Frühwarnsystem (alertas tempranas), welches dann aufgrund tieferen Zahlen nicht mehr so früh warnen wird. 

Illegale Überwachung und weitere Militärskandale

Eine weitere Behörde, die praktisch totaler Strafffreiheit unterliegt, sind die nationalen Sicherheitskräfte. Obwohl es seit über zehn Jahren immer wieder internationale Empfehlungen und Ermahnungen dazu gibt, passieren weiterhin regelmässig Skandale im Militär. Ein Beispiel dafür war die letztes und vorletztes Jahr ans Licht gebrachte illegale Überwachung von unter anderem Journalisten, Politikern und Menschenrechtsorganisationen. Bereits Anfangs Jahr wurden mehrere Büros von Menschenrechtsorganisationen, darunter auch die CCJ, von Drohnen überwacht, die durch die Fenster Fotos von den Anwesenden machten. Bis heute wurden die Opfer der Überwachungen über keinerlei juristische Untersuchungen informiert. Diese Überwachungen gliedern sich in eine lange Reihe von weiteren solchen Skandalen ein, beispielsweise die Operation Andromeda  im 2014, wo Friedensabgeordnete abgehört wurden, oder der Skandal im 2011, der zur Auflösung der Sondereinheit DAS führte. 

Weitere Beispiele für die Straffreiheit von Militärangehörigen waren Vergewaltigungen von Minderjährigen, wobei der einzige Verurteilte der Denunzierende war sowie eine illegale Landepiste für Kokaschmuggel in unmittelbarer Nähe einer Militärbasis im Chocó. Und das sind nur ausgewählte Beispiele. Doch die Regierung beharrt darauf, dass dies ‘faule Äpfel’ sind, die nicht ein systemisches Problem darstellen. 

Recht auf friedlichen Protest

Auch die Polizei trägt nicht gerade eine weisse Weste. Trotz Protesten gegen die Polizeigewalt, die bereits im November 2019 gross wurden aufgrund der Tötung von Dilan Cruz, ging die Polizeigewalt auch im letzten Jahr weiter. Es gab polizeiliche Gewalt gegen Mitglieder der LGBT Gemeinschaft, gegen hungernde Corona-Protestierende und kulminierte Anfang September, nachdem Javier Ordoñez von Mitgliedern der Polizei zu Tode geknüppelt wurde, nachdem er angeblich die Quarantäne missachtet hatte. In der Nacht darauf wurden von Protestierenden Polizeistationen in den Quartieren angezündet, was die Polizei wiederum mit umso mehr Gewalt beantwortete. Laut ersten Ermittlungen benutzten mindestens 35 Polizisten Feuerwaffen und mindestens 13 Personen kamen in den Protesten an den Tagen darauf ums Leben, darunter auch Minderjährige. Die Antwort der Regierung war wiederum die Geschichte der faulen Äpfel und die Beteuerung, dass niemand den Befehl zum schiessen gegeben habe. Doch kein Polizist, so Rodríguez, schiesst ohne Befehl auf Demonstrierende. Als Antwort auf diese Situation verordnete der Oberste Gerichtshof (Corte Suprema) einen Verhandlungstisch zwischen Zivilgesellschaft und Regierung um neue Regelungen zu erlassen, die die Gewaltanwendung während Protesten regulieren und auf internationalen Standards beruhen. Im Januar 2021 wurde daraufhin zwar ein Dekret  erlassen, welches allerdings laut Rodríguez immer noch gewaltige Lücken aufweist was die Teilnahme und Kontrolle durch die Zivilgesellschaft betrifft. In ihrem Urteil ordnete der Oberste Gerichtshof zudem an, dass Carlos Holmes Trujillo als Verteidigungsminister sich in der Öffentlichkeit für die illegalen Handlungen der Polizei zu entschuldigen habe. Nachdem die Regierung das Urteil des Obersten Gerichtshof zunächst öffentlich kritisierte, liess sich Holmes Trujillo im letzten Moment (der Oberste Gerichtshof gab ihm eine Deadline, um sich zu entschuldigen) dazu herab, eine Aussage zu machen, die man mit gutem Willen als Entschuldigung interpretieren konnte. 

Dieses Kritisieren von Gerichtsurteilen durch die Regierung zeigt eine weitere Gefahr für MRV sowie den Rechtsstaat in Kolumbien allgemein.

Angriffe gegen den Rechtsstaat

Rodríguez verwies in ihrem Bericht auf vier Beispiele, die eine Machtkonzentration in Händen der Regierungspartei Centro Democrático sowie Angriffe auf den Rechtsstaat durch die Regierung zeigen. 

Erstens wurden mehrere Personen, die der Regierung nahe stehen, hohe Posten in der Judikative vergeben. Dazu zählen der Generalstaatsanwalt (fiscal general) Francisco Barbosa, der ein Jugendfreund von Ivan Duque ist, die Leiterin der Verwaltungsaufsichtsbehörde (procuraduría) Margarita Caballo, der Ombudsmann (defensor del pueblo) Carlos Camargo Assis sowie eine Richterin des Verfassungsgerichts (Diana Remolina Botía), die aufgrund der Zusammenstellung der insgesamt neun Richter einerseits das Zünglein an der Waage zwischen progressiven und konservativen Richtern ausmachen wird, laut Rodríguez aber hauptsächlich im Interesse der Regierung handeln wird. Zusätzlich sind alle neuen Mitglieder der Comisión de Disciplina Judicial, welche den Richtern disziplinarisch auf die Finger schaut, Freunde der Regierung. 

Dazu kommt, dass in letzter Zeit mehrere juristische Funktionäre Opfer von Bedrohungen und Einschüchterungen wurden, einigen wurde zusätzlich der persönliche Schutzstatus entzogen.

Zudem zu erwähnen ist die bereits oben genannte Missachtung der Regierung von Gerichtsurteilen. Zum Fall des friedlichen Protests kommen da unter anderem noch die Reaktivierung der gewaltsamen Ausrottung von Kokapflanzungen trotz gegenteiliger Gerichtsurteile. 

Als letzten Punkt erwähnte Rodríguez die wiederholten Attacken gegen die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP). Die Regierung hat unter anderem ein Referendum zur Abschaffung der JEP vorgeschlagen, mehrere Kongressabgeordnete der Regierungspartei haben Gesetzesvorschläge angekündigt, welche die Abschaffung der JEP zum Ziel haben und drücken immer wieder öffentlich ihre Abneigung gegen die JEP aus. Zudem hat die Regierung das Budget der JEP für 2021 um 20% gekürzt. Gegen aussen benutzt die Regierung die JEP allerdings ganz gerne als Vorzeigekind dafür, wie gut die kolumbianische Justiz funktioniere. 

Friedensabkommen 

Mit der JEP sind wir auch schon beim fünften Thema angelangt, welches Rodríguez und die kolumbianischen Menschenrechtsorganisationen für wichtig empfinden, wenn es um Handlungsempfehlungen am Menschenrechtshof in Genf geht. Die Umsetzung des Friedensabkommens geht weiterhin sehr langsam voran, wie wir bei der ask! auch schon wiederholt berichtet haben. Vier Jahre nach Unterzeichnung des Abkommens wurden erst 25% komplett umgesetzt, 23% wurden noch gar nicht in Angriff genommen. Unter einem zehnjährigen Umsetzungshorizont gesehen beunruhigen diese Zahlen. Ausserdem wird das Abkommen sehr selektiv umgesetzt, wobei eine integrale Umsetzung immer wieder von verschiedenen Akteuren als essenziell für sein Gelingen betont wird. Der Punkt 1 zur integralen Landreform, der von mehreren Stellen immer wieder als der Wichtigste benannt wird, ist am wenigsten umgesetzt (4%). Dazu kommt, dass im letzten Jahr sowohl von der nationalen Regierung wie auch lokalen Behörden beantragt wurde, finanzielle Ressourcen, die für die Umsetzung des Friedensabkommens vorgesehen waren, für die Bekämpfung der Pandemie umzubudgetieren. Ivan Duque hat zudem Gelder des Friedensabkommens dazu benutzt, sein Image in sozialen Medien zu verbessern.

Laut Rodríguez war die Regierung bisher nur dank internationalem Druck nicht imstande, das Abkommen ganz zu kippen. Im gleichen Zug betont Rodriguez die Wichtigkeit, dass der Bericht der Wahrheitskommission, der im Herbst dieses Jahres publiziert werden wird, jegliche internationale Unterstützung bekommt, die möglich ist. Denn dieser Bericht wird wohl, wie so viele andere Resultate des Friedensabkommens auch von vielen Seiten, aber allen voran der kolumbianischen Regierung, kritisiert und in Frage gestellt werden. Doch die Arbeit der MRV, die immer mehr unter Beschuss geraten, sowie die Arbeit der ask! in der Schweiz haben immer wieder gezeigt, wie wichtig die integrale Umsetzung des Friedensabkommens ist. Für die Sicherheit der MRV, der ländlichen Bevölkerung, der ehemaligen FARC-KämpferInnen und vielen weiteren Personen, die sich für die Rechte von Mensch und Umwelt einsetzen. 

Die Informationen in diesem Artikel beruhen auf dem Bericht von Ana Maria Rodríguez vom 10.2.2021 sowie dem Briefing Paper von CCJ, OIDHACO und PBI, welches oben rechts zum Download steht. 

Weitere Quellen sind im Artikel in Pdf-Format zu finden.