Komplexe Flüchtlingssituation in Kolumbien

Jun 20, 2021

Von Lisa Alvarado

Am 20. Juni ist Weltflüchtlingstag der UNO, wobei auf der ganzen Welt in verschiedenen Aktionen auf die Situation der Flüchtlinge aufmerksam gemacht wird. Kolumbien ist speziell von Binnenflüchtlingen betroffen, wird aber auch seit einigen Jahren von Flüchtlingen aus Venezuela gefordert. Die ask! nimmt sich den Tag zum Anlass, über die komplexe Situation in Kolumbien zu informieren.

«Mehr als 27’000 Vertriebene in Kolumbien im ersten Trimester»[1]. So lautet eine Schlagzeile aus dem Monat April, welche die steigende Gewalt in dem südamerikanischen Land spiegelt. Das ist fast doppelt so viel wie im gleichen Zeitraum letztes Jahr. Laut der nationalen Ombudsstelle (Defensoría) finden die Massenvertreibungen hauptsächlich an der Pazifikküste statt, wo illegale Gruppen sich um die Kontrolle der Drogenschmuggelrouten bekämpfen. Über die Hälfte der Betroffenen sind Indigene und AfrokolumbianerInnen.

In den letzten Jahren führte Kolumbien immer wieder die Weltrangliste der Binnenmigration an. Laut Zahlen der Unidad de Victimas hat der bewaffnete Krieg in den letzten 36 Jahren 9 Mio. vertriebene KolumbianerInnen hinterlassen[2]; die meisten davon im Land selber. 2007 waren es erst gut 2 Mio.[3] Da der Konflikt hauptsächlich in ländlichen Regionen stattfindet, sind sehr viele Kleinbauern und Kleinbäuerinnen, Indigene und Afrokolumbianerinnen davon betroffen. Sie fliehen in die Stadt, wo sie aber wiederum grosse Schwierigkeiten haben, Jobs zu finden und unter sehr prekären Bedingungen leben. Dazu kommt, dass auch in den Armenvierteln der Städte viele Vertreibungen stattfinden, was die meisten dort Lebenden gleich zu mehrfach Vertriebenen macht. Diese sogenannten intraurbanen Vertreibungen sind sehr schwierig zu registrieren und erhöhen deshalb die Dunkelziffer der Vertriebenen nochmal erheblich.

Viele dieser Menschen setzen ihre Hoffnungen in das Sondergericht für den Frieden (JEP) und das ganze System der Wahrheit, Wiedergutmachung, Entschädigung und Nicht-Wiederholung (SJIVRNR), um endlich Gerechtigkeit zu erfahren. Doch die Wiedergutmachung der Opfer ist nicht einfach, besonders in Fällen wo Menschen mehrfach vertrieben wurden, andere Vertriebene vielleicht ihr altes Land mittlerweile in Anspruch genommen haben oder schlicht die Daten fehlen, um die Vergangenheit zu klären.

Momentan sieht man die Explosion geballter Emotionen im Zusammenstoss zwischen dem Staat und jungen Menschen während der Proteste, die Unterstützung von einem Staat verlangen, den sie als Ursache für ihre marginalisierte Position in der Gesellschaft sehen.

Obwohl diese Emotionen sich manchmal in Gewalt ausdrücken, protestiert die grosse Mehrheit der Menschen friedlich und drückt ihre Emotionen in künstlerischen Werken und Aktivitäten aus. Es gibt Konzerte, es werden Grafittis gemalt, Theater gespielt.

Auch unabhängig der Proteste werden Plattformen geschaffen, wo junge Menschen ihre Gefühle und Gedanken zur Situation künstlerisch zum Ausdruck bringen können. So zum Beispiel die Kampagne «Somos Panas Colombia» der UNO-Organisation für Flüchtlinge und der Stiftung ‘Mi Sangre’, wo 78 junge Kolumbianerinnen und Venezolaner ein Musikvideo mit dem Titel ‘Unidxs soñamos’ sowie ein Graffiti präsentieren, das in mehreren kolumbianischen Städten (Bogotá, Medellín, Cali, Barranquilla, Pasto, Pamplona und Maicao) gemalt wird. Die Idee der Integrationskampagne ist es, einen Ort zu schaffen, wo sich die Jungen gemeinsam über ihre Lebenspläne in Kolumbien austauschen können und in Workshops lernen, sich künstlerisch auszudrücken und somit mitzureden in dem Migrationsdiskurs, wo so häufig bloss über sie geredet wird.[4] In dieser Debatte geht es nicht bloss um intern Vertriebene, sondern auch um die Tausende Flüchtlinge, die in den letzten Jahren aus Venezuela gekommen sind, um sich in Kolumbien ein neues Leben aufzubauen.

Der kolumbianische Staat ist also mit einer mehrschichtigen, komplexen Migrationssituation konfrontiert, die ihren Ursprung in den Konflikten der letzten 50 Jahre hat. Es ist seine Aufgabe, einerseits diese Vergangenheit aufzuarbeiten und andererseits den Betroffenen mit Respekt die Unterstützung zu geben, die sie benötigen, um ein würdevolles Leben zu führen. Die ask! setzt sich dafür ein, dass die Stimmen der Betroffenen gehört werden und sie ihre Rechte einfordern können.

 

[1] https://www.dw.com/es/m%C3%A1s-de-27000-desplazados-en-colombia-en-el-primer-trimestre/a-57346131

[2] https://verdadabierta.com/el-desplazamiento-forzado-un-crimen-irreparable/

[3] https://www.cepal.org/sites/default/files/publication/files/6151/S0800725_es.pdf

[4] https://www.elespectador.com/el-magazin-cultural/jovenes-de-colombia-y-venezuela-acuden-al-arte-para-impulsar-la-integracion/

https://www.youtube.com/watch?v=DEHHNl_venQ