Kolumbianer*innen im Exil in der Schweiz

Mai 6, 2022

Von Carla Ruta

Als Beitrag aus der Schweiz zur Arbeit der Wahrheitskommission, die die Vergangenheit, die Konfliktursachen und – Auswirkungen aufarbeitet, organisierte swisspeace zusammen mit Vertreter*innen der kolumbianischen Diaspora und der Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien einen Workshop zum Thema Exil aus Kolumbien in der Schweiz. Herausforderungen für die Menschen, die aus Kolumbien in die Schweiz flüchten, wurden aus einer historischen Perspektive diskutiert, aber auch mögliche Aktionen für die Zukunft.  Dieser Artikel stellt einzelne Diskussionspunkte vor. Ein umfassender Bericht und Schlussfolgerungen des Workshops werden noch ausgearbeitet. 

 

Das Mandat der Wahrheitskommission geht diesen Sommer nach nicht ganz vier Jahren zu Ende. Die Wahrheitskommission wurde als eines der Organe der Übergangsjustiz vom Friedensabkommen zwischen FARC-EP und kolumbianischer Regierung geschaffen. Sie wird im Juni 2022 ihren Abschlussbericht – eine Analyse der Ursachen und Auswirkungen des Konfliktes basierend auf Interviews mit Zeugen, Opfern und Tätern – publik machen. Dieser Bericht wird auch Empfehlungen an die Behörden zur Vergangenheitsbewältigung enthalten. Trotz der verschiedenen politischen[1] und finanziellen Hindernisse, mit denen die Kommission seit ihrer Gründung konfrontiert war, hat sie bis heute einen bedeutenden Beitrag zur Wahrheitsfindung, zum sozialen Dialog, Versöhnung und Vergangenheitsbewältigung geleistet.

Die Wahrheitskommission ist in geografischen Regionen gegliedert; eine dieser «Regionen» ist die internationale Ebene. Für die international Ebene hat die Wahrheitskommission mit der kolumbianischen Diaspora und NGOs in verschiedenen Ländern Kontakt aufgenommen und hat sie eingeladen, zur Arbeit der Kommission beizutragen. Leute aus 23 Länder haben Interesse gezeigt. Nicht selten sind es Personen, die selbst Opfer des Konflikts sind. In einigen Länder, haben sich nationale Gruppen (sogenannt «Knotenpunkte» – nodo) gebildet, um die Arbeit zur erleichtern. Die «Nodos» haben zur Aufgabe, die Aussagen der Kolumbianer*innen im Exil und Informationen zu den Fluchtgründen und Umständen dieser Flucht zu sammeln. Diese Knotenpunkte bestehen aus Mitgliedern der kolumbianischen Diaspora, in vielen Fällen selber Opfer des Konfliktes. In der Schweiz unterstützt swisspeace seit November 2018 die Arbeit der Wahrheitskommission und des Schweizer Knotenpunktes.[2] Mit dem Ziel der Wahrheitsfindung zu Fluchtgründen, Fluchtumständen und Leben im Exil, haben swisspeace und der Schweizer Knotenpunkt mittels statistischen, rechtlichen und politischen Informationen einen Zeitstrahl über das Exil der Kolumbianer*innen in der Schweiz erstellt. Daten über die Kolumbianer*innen, die in der Schweiz Asyl beantragt haben, der Vergleich von Migrationswellen mit relevanten Ereignissen in Kolumbien, Entwicklung in der schweizerischen Asyl- und Migrationspolitik usw. sind für die Wahrheitskommission bei der Ausarbeitung des Schlussberichts von grosser Bedeutung und ergänzen ähnliche Untersuchungen, die in anderen europäischen Ländern durchgeführt werden. Der Zeitstrahl soll auch als Grundlage für die Fortsetzung der Diskussion zum Thema Exil aus Kolumbien in der Schweiz und für Aktionen zur Umsetzung und Weiterverfolgung der Empfehlungen der Wahrheitskommission dienen.

Um zusätzliche Informationen für die Erarbeitung des Zeitstrahls zu sammeln und auch Handlungsmöglichkeiten in der Schweiz zu diskutieren, organisierte swisspeace, der Schweizer Nodo und die ask! am 02.04.2022 in Bern einen Workshop zum Thema Exil aus Kolumbien in der Schweiz, an dem Vertreter*innen der kolumbianischen Diaspora und auch Expert*innen aus der Akademie eingeladen waren.

In einem ersten Entwurf des Zeitstrahls, der unter anderem auf Daten aus dem Staatssekretariat für Migration basiert, konnten die Teilnehmer*innen feststellen, dass die ersten Asylanträge aus Kolumbien Mitte der 80iger Jahre in die Schweiz eingereicht wurden. Die grösste Anzahl Anträge werden in den Jahren 1997 bis 1999 eingereicht. Die Gründe dafür müssen noch weiter erforscht werden. Aber es wäre möglich, dass diese mit der Zunahme der bewaffneten Konfrontationen zwischen Staat und Guerillas und der Schaffung der AUC (Autodefensas Unidas de Colombia), dem neuen Bündnis der paramilitärischen Gruppen, in Zusammenhang stehen. Eine zweite, kleinere Zunahme der Anträge ist im Jahr 2019 zu verzeichnen. Ob dies mit einer erneuten Zunahme der Fälle von Bedrohungen und Morden an Menschenrechtsverteidiger*innen in Zusammenhang steht, ist nicht auszuschliessen. Mit der Coronakrise nehmen dann im 2020 die Zahlen wieder ab. Interessant festzustellen ist, dass gleichzeitig – und wohl unabhängig voneinander –, die Zahl der Asylgesuche aus Kolumbien, die von der Schweiz angenommen werden, fast zeitgleich mit der Zunahme der Gesuche aus Kolumbien abnehmen. Historische Tiefpunkte der Anzahl angenommenen Asylgesuche wurden im 1999 und 2018 verbucht. Im 1998/1999 wird das Asylgesetz zwar verschärft, aber ob dies im gleichen Jahr Auswirkungen auf die Annahme oder das Ablehnen von Gesuchen aus Kolumbien hat, ist unklar.   

Im Rahmen des Workshops wurde auch festgestellt, dass sowohl die Schweizer Asylpraxis, als auch der berufliche und soziale Hintergrund entscheidend für das Profil der Personen sei, die in die Schweiz kommen und als Flüchtlinge anerkannt werden. Ein Workshopteilnehmer brachte dies folgendermassen zum Ausdruck: «nach Europa gehen keine Bauern» (“A Europa no va el campesino”). Grund dafür ist einerseits, dass immer mehr Kolumbianer*innen von der Schweiz als Flüchtlinge unter der Bedingung anerkannt werden, dass sie in Kolumbien vor ihrer Flucht in einem staatlichen Schutzprogramm waren. Es werden aber nicht jedermann/frau in so ein Schutzprogramm aufgenommen, sondern mehrheitlich Führungspersönlichkeiten aus grossen NGOs, Gewerkschaften, Politik, Anwälte, etc. Lokale Gemeinschaftsvertreter*innen, die sich für die Rechte der Bauern in einem Dorf einsetzen, haben sehr häufig einen sehr schwierigen Zugang zu diesen Schutzprogrammen. Die Behörden stufen sie häufig als «nicht genug bedroht» ein (obwohl gerade diese die grosse Zahl der Opfer darstellen und nicht die «VIPs»). Der Fokus auf «high profile» Fälle, die in einem Schutzprogramm in Kolumbien waren, könnte also potenziell Leute vom Asyl ausschliessen, die sehr wohl bedroht sind. Andererseits ist es für Vertreter*innen grosser NGOs, die schon vor der Flucht Kontakte zu Organisationen der Zivilgesellschaft in der Schweiz und in Europa hatten, einfacher bis nach Europa oder in die Schweiz zu flüchten, als für Personen aus ländlichen Regionen, die solche Kontakte nicht haben und auch nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügen. Personen aus ländlichen Regionen haben häufig nur die Mittel und Kontakte, um bis in die nächste kolumbianische Grossstadt zu fliehen, um ihr Leben zu retten. Nicht selten müssen sie immer wieder erneut innerhalb von Kolumbien flüchten.  Menschen mit etwas mehr Mittel und Kontakte flüchten in die Nachbarländer, vor allem Venezuela und Ecuador und nur wenige Privilegierte können in ein wirklich sicheres Umfeld bis nach Europa flüchten.

Mit den verschiedenen Revisionen des Asylgesetzes und der immer strengeren Asylpraxis ist es für Kolumbianer*innen zunehmend schwierig geworden zu beweisen, dass sie nirgends in Kolumbien sicher sind und in Folge rechtfertigen zu können, dass sie in der Schweiz Asyl bedürfen. Dies wurde zudem von der sehr effizienten Diplomatie der kolumbianischen Regierung erschwert. Die kolumbianischen Behörden haben auf dem internationalen Parkett sehr glaubhaft gemacht, die bewaffnete Gewalt im Land im Griff zu haben und die kolumbianischen Bürger und Bürgerinnen schützen zu können. Ein Teilnehmer unterstrich aber auch, dass seit Öffnung seines Kolumbienbüros das UNO Hochkommissariat für Menschenrechte eine glaubwürdige Gegendarstellung liefern konnte. Das Büro veröffentlicht und verbreitet Informationen über Menschenrechtsverletzungen, die von den Schweizer Behörden als objektiv betrachtet werden konnten.

Eine weitere Schwierigkeit ist auch, dass Kolumbianer*innen über Drittländer in die Schweiz kommen. Diese Transitländer werden häufig von der Schweiz als sicher betrachtet. Das ist aber nicht immer der Fall. Gerade Venezuela und Ecuador sind für Menschen, die aus Kolumbien fliehen, nicht immer sicher.  

Während des Workshops wurde unterstrichen, dass die Asylkriterien nicht selten politisch gefärbt sind. So wurden zum Beispiel während des kalten Krieges die Personen, die aus Osteuropa in die Schweiz kamen, praktisch vorbehaltlos empfangen, da man davon ausging, dass sie vor dem Kommunismus flüchteten und deshalb gute Fluchtgründe hatten.  Viel kritischer wurden die Leute betrachtet, die in den 80er Jahren aus Chile vor einer rechten Diktatur flüchteten. Ihnen wurde vorgeworfen, Kommunisten zu sein. Die ersten kolumbianischen Flüchtlinge in der Schweiz wurden auch in den 80er Jahren registriert und es erging ihnen ähnlich wie den Menschen aus Chile. Sogar im 21. Jahrhundert, erzählte ein Teilnehmer, würden kolumbianische Asylbewerber*innen während des Asylverfahrens manchmal die Frage gestellt, ob sie Kommunisten sind. Ein anderer kolumbianischer Teilnehmer hob aber auch die grosse Solidarität von Studentenbewegungen und progressiven Kreisen, die es in den 80er Jahren in der Schweiz mit den Flüchtlingen aus Lateinamerika gab, hervor.

Mögliche Aktionen für die Zukunft wurden zum Schluss angesprochen. Besonders das Bedürfnis nach einer verstärkten Nutzung der Synergien zwischen den verschiedenen Akteuren der kolumbianischen Diaspora und der schweizerischen Zivilgesellschaft wurde hervorgehoben. Die Notwendigkeit, ankommende Kolumbianer*innen stärker in ihrer Integration in der Schweiz zu unterstützen, wurde unterstrichen. Eine kolumbianische Teilnehmerin sagte, aus ihrer eigenen Erfahrung schöpfend, dass schon kleine Dinge enorm helfen können, wie zum Beispiel Hilfe einen guten Sprachkurs zu finden oder für das Erlernen von Velofahren. Die Idee kam auch auf, eine Liste der Hilfsprogramme und Aktivitäten der verschieden Organisationen und Behörden, mit Beschreibung der Kriterien und Prozeduren, und nützliche Informationen in einer Ruta de Atención («Auskunfts-und Hilfe- Guide») zusammenzutragen und regelmässig zu aktualisieren. Dieser könnte dann interessierten Personen aus Kolumbien, aber auch den Organisationen und Personen, die ihnen helfen wollen, zur Verfügung stehen.

Es ist zu hoffen, dass der sehr bereichernde Austausch zwischen den verschiedenen Teilnehmer*innen und Organisationen auch in Zukunft und über das Mandat der Wahrheitskommission hinaus fortbestehen wird.

 

[1] Es wurde ihr seitens Regierung und regierungsnahen Kreisen vorgeworfen, den Konflikt mit einer FARC-EP Brille zu analysieren.

[2] Zwischen 2010 und 2019 war Kolumbien eines der 20 Herkunftsländer mit dem grössten Anteil an Flüchtlinge in der Schweiz.