Interview zum „Paro Nacional“ mit Camilo González
Von Lisa Alvarado
Seit dem 21. November finden in ganz Kolumbien Proteste gegen die neoliberale Politik der Regierung, sowie gegen Gewalt und für den Frieden statt. International machen Nachrichten von repressiver Gewalt, dem Tod des 18-jährigen Dilan Cruz und der Antwort der Bürger mit „cacerolazos“ die Runde. Die ask! führte ein Interview mit Camilo González Posso [1], Präsident von Indepaz (Institut für Entwicklung und Frieden) und Direktor des Projekts Centro de Memoria Historica in Bogotá, durch.
Ask: Camilo, erzählen Sie uns, was passiert momentan in Kolumbien?
Camilo González: Wir sind in Kolumbien jetzt schon beim 7. Tag des Nationalen Streiks angelangt. Der Streik wurde für den 21. November mit Märschen und Streiks in gewissen staatlichen und privaten Firmen einberufen und hat sich dann in eine kontinuierliche Welle der Mobilisierung verwandelt, mit Millionen von Personen und verschiedenen Protestgründen.
Ask: Aus wem besteht das Streikkomitee?
C.G.: Das Komitee, das den Streik einberufen hatte, besteht aus Gewerkschaftszentralen, Studentenorganisationen, Indigenen, Kleinbauern, Frauen, und Gemeinschaften. Sie vertreten die Mehrheit der organisierten Sektoren und Gruppierungen aus über 500 urbanen Zentren und Gemeinden des Landes. Das Streikkomitee war der Aufrufer und am 21. November der Auslöser, aber die Bewegung geht jetzt viel weiter und es sind neue Formen der Mobilisierung entstanden, die eine andere Logik haben als die traditionellen Märsche oder Streiks, die eine einheitliche Führung haben. In jeder Region und in jeder Stadt organisieren sich die Leute, und es gibt eine unglaubliche Synchronisierung von Parolen und Gefühlen in diesem Aufstand gegen die asozialen Politiken der Regierung und in Verteidigung des Lebens und des Friedens.
Ask: Wie schätzen Sie die Repression der Polizei und des Militärs ein?
C.G.: In diesen sieben Tagen haben sich Millionen von Personen auf friedliche Art und Weise mobilisiert. Sie haben sich mobilisiert gegen die Gewalt, gegen Morde an Führungspersonen und gegen die Rückkehr zu Kriegstechniken wie die Militarisierung von gewissen Gebieten und die Autorisierung zu wahllosen Bombardements. Beispielsweise jenes, welches den Tod von 12 Kindern gefordert hat und von der Regierung gerechtfertigt wurde. Es ist eine Bewegung gegen den Krieg und für den Frieden, die jegliche Art von Gewalt verurteilt, sogar diejenige, die sich innerhalb der Demonstrationen abspielt. Gegenüber dieser eindrucksvollen Demonstration von Selbstkontrolle der Jugend und der mobilisierten Gesellschaft gab es eine Antwort von massloser Gewalt durch die Bereitschaftspolizei. Das Resultat davon sind bisher hunderte von Verletzten und vier Tote, darunter der junge Dilan Cruz, der in Bogotá aus kürzester Entfernung und mit einer nicht-konventionellen Waffe von einem Polizisten getötet wurde.
Die friedliche Mobilisierung zeigt sich in Bildern, auf denen Demonstranten Polizisten grüssen, die sich passiv und ohne Aggressivität verhalten, und in der Ablehnung von Infiltrierten und Saboteuren, welche in einigen Fällen Teil der Polizei zu sein scheinen. In Santander de Quilichao (Cauca) gab es ein Attentat gegen eine Polizeistation mit zwei toten Polizisten und neun Verletzten. Die Reaktion der Bevölkerung war eine totale Ablehnung dieser lokalen bewaffneten Gruppen oder Drogenschmuggler, die in gewissen Gebieten weiterhin aktiv sind. Wir stehen vor einer Friedensmobilisation, die unter anderem durch die neue Stimmung nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages zustande kam, in dem die Gewehre das Wort an die Stimme des Bürgerprotests abgetreten haben.
Ask: Wie ist die Situation aktuell? Wurde der Gebrauch von Gewalt seitens der Polizei und des Militärs vermindert angesichts der unzähligen Klagen über den masslosen Gebrauch von Gewalt?
C.G.: Die nationale und internationale Ablehnung gegen den masslosen Gebrauch von Gewalt hat den Effekt, die Brutalität der Repression zu mässigen, obwohl es weiterhin kritische Situationen gibt. Internationale Menschenrechtsorganismen, inklusive des Büros der Frau Bachelet [2], haben die Regierung dazu aufgefordert, nicht das Militär in der Repression gegen den sozialen Protest einzusetzen und sich auf Polizeimethoden bei der Kontrolle der öffentlichen Ordnung zu beschränken. Bis jetzt wurde das Militär mit seinen Kriegswaffen im Hintergrund für die Sicherheit eingesetzt, mit grosser Präsenz auf den Überlandstrassen, im Schutz von Infrastruktur, einschüchternder Mobilisierung von Panzern und anderen Formen der Einschüchterung. Es wurde aber nicht zur direkten Repression auf den Strassen und in den Vierteln eingesetzt. Es gab Situationen starker Militarisierung wie die Ausgangssperren in mehreren Städten (Bogotá, Cali, Popayan, Manizales), speziell in den Nächten des 21. und 22. Novembers. Diese Militarisierung und Ausgangssperren mit der Erlaubnis, auf jeden zu schiessen, der sich auf der Strasse befindet, wurde mit einer Panikwelle legitimiert, die in einigen Städten mit Gerüchten verbreitet wurde, dass sogenannte „Vandalen“ in „Horden“ innert Kürze Häuserkomplexe und Märkte überfallen würden. Das Klima von Angst und Panik gründete die Ausgangslage für den militärischen Einsatz.
Ask: Wer, denken Sie, steckt hinter diesen Gerüchten über die sogenannten „Vandalen“?
C.G.: Das Gerücht der „Vandalen“, die sich anscheinend vorbereiteten, am Tag des Nationalen Streiks (21N) zu plündern, ist schon in der Woche vor dem Streik entstanden. Es wurde Teil der Gespräche und Fragen, die aufgrund von Bildern über Plünderungen in Chile und Bolivien entstanden sind, und in den Medien aufgeblasen wurden. Es ist wahrscheinlich, dass dies die Aufgabe von gewissen Strukturen im Sicherheitsapparat erleichtert hat, die Experten darin sind, die Angst als Strategie zur Kontrolle der Bevölkerung zu nutzen. In der Sprache der nationalen Sicherheit wurde von obersten staatlichen Stellen und der Regierungspartei die Aussage verbreitet, dass der Streik eine internationale terroristische Verschwörung sei, um die Regierung Duques zu destabilisieren; es wurde gesagt, dass es ein Werk des ‚Saõ Paulo Forums’ sei und durch von Maduro bezahlte Unruhestifter ausgeführt wurde. Mit diesem Gerücht wurden die Grenzen geschlossen, Ausländer ausgeschafft und davon gesprochen, sich praktisch auf einen Krieg vorzubereiten.
Ask: Unglaublich.
C.G.: Die Leute haben mit aussergewöhnlichen Aktionen geantwortet. Mit dem Lärm der „cacerolazos“ (auf leere Töpfe und Pfannen schlagen), mit Festen in den Wohnvierteln und mit Zusammenkünften unter Nachbarn an den Abenden und in den Nächten. Ganze Familien gehen auf die Strasse, um mit den Töpfen Lärm zu machen und Parolen gegen die Repression und die Regierung zu rufen.
Ask: Wie sehen Sie den Streik in Kolumbien in Verbindung mit den anderen Demonstrationen und Bewegungen, die aktuell in Lateinamerika stattfinden?
C.G.: Die Geschehnisse haben in jedem Land ihre eigenen Logiken, aber wir stehen vor einer internationalen Bewegung, die gegen antisoziale und antidemokratische Politiken einer ausschliessenden Globalisierung protestiert. In Kolumbien wird, wie in Ecuador und Chile, gegen das Massnahmenpacket der Regierung, also gegen eine neue Welle von neoliberalen Politiken, die durch den IWF und die OECD vorangetrieben werden, protestiert. Diese haben negative Auswirkungen auf die Mehrheit der Bevölkerung. Wir stehen vor einer Bewusstseinsrevolution mit grossem Tiefgang. Dies ist eine Antwort auf ein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das Hoffnungslosigkeit und Ungleichheit bietet, verteidigt durch Autoritarismus.
Diese Bewusstseinsrevolution ist ein gemeinsamer Nenner in unseren Ländern. Millionen von Personen sind gegen ein Modell, welches die Jugend und die Frauen diskriminiert, welches die Regeln von multinationalen Konzernen vertritt und bis zu den wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen alles privatisiert. Dazu kommen Forderungen nach Gleichheit, Respekt der Natur, Ablehnung der Korruption, Ablehnung der Durchsetzung des Neokonservatismus und Ablehnung von despotischen und autoritären Regimes.
Ask: Weiss man schon etwas darüber, was das von Duque vorgeschlagene „Nationale Gespräch“ („Conversación Nacional“) beinhaltet?
C.G.: Duque hat in offensichtlicher Ratlosigkeit versucht, mit seiner Antwort auf die Bewegung Zeit zu gewinnen. Er hat damit begonnen, die Ausmasse der Proteste anzuerkennen und damit das Narrativ über die Illegitimität des Streiks seines Chefs, Alvaro Uribe, in den Hintergrund gerückt. Danach ist er mit dem Aufruf zum sozialen Dialog oder „nationalem Gespräch“ gekommen. Dies soll eine Reihe von Treffen zu den Entwicklungsplänen der Regierung beinhalten. Diese Treffen sollen ab jetzt bis März 2020 stattfinden und zu einigen neuen Gesetzesvorschlägen führen. Der Inhalt und die Methoden dieses „Gesprächs“ sind eine kleine Anpassung an die Dialoge, die der Präsident jede Woche in verschiedenen Regionen durchführt. Diese heissen „Talleres, construyendo país“ und Duque hat in seinem ersten Amtsjahr bereits über 140 davon durchgeführt. Es ist eine Art von direkten Beziehungen zu bestimmten Gruppen, um ein Bild der Volksnähe zu projizieren, welche der aktuellen Regierung aber wenig mehr Glaubwürdigkeit verliehen hat.
Dieses jetzt vorgeschlagene „nationale Gespräch“ wird als Ablenkungsmanöver gesehen, um als schwaches Propagandainstrument der Regierung zur Demobilisierung der Proteste zu führen. Die Regierung tut so als ob die Unzufriedenheit, zusätzlich zur internationalen Verschwörung und der irrationalen Opposition, auf die fehlende Information über die positiven Seiten ihrer Politiken zurückzuführen sei. Deshalb generiert die Regierung bloss Mechanismen für Propaganda und weigert sich, die Themen der Proteste anzugehen. Deshalb hat sich auch das Streikkomitee von dem ersten Treffen zurückgezogen, in dem der Präsident vorhatte, Gespräche mit Unternehmern, Bürgermeistern, Gremien etc. zu eröffnen. Das Ziel davon war, nur den Dialog mit ihm zugewandten Sektoren zu eröffnen und schlussendlich die mobilisierten Sektoren in den Hintergrund zu drängen. Er weigert sich weiterhin, über die Umsetzung des Friedensabkommens, den Rückzug des Massnahmenpackets des IWF, über die Lebensgarantien für Führungspersonen und die Prekarisierung der Jugendlichen, Pensionierten und Arbeiter zu sprechen.
Diese Gleichgültigkeit und Ignoranz gegenüber Situationen der repressiven Gewalt, die zum Tod des jungen Dilan geführt hat, ist empörend für die Bevölkerung, die den Protest weiterführt. Die Regierung hat mit ihrer Einstellung, dass Politiken der öffentlichen Ordnung und Sicherheit nicht Teil des „Gesprächs“ und noch weniger Teil von Verhandlungen sein können, viele Türen geschlossen. Die Menschen auf der Strasse fordern die Auflösung des ESMAD und die Abänderung der Reglemente in Bezug auf Protest. Zudem sind während den Demonstrationen seit dem 21. November immer wieder Plakate aus der Menge herausgeragt, die eine sofortige Beendigung der Bombardements und Kriegsbefehle als Antwort auf die Situation in den ländlichen Gebieten fordern. Das Thema der Sicherheitspolitik ist zentral für die Verteidigung des Lebens, mehr noch wegen den aktuellen Kriegsstrategien von staatlichen Sicherheitskräften und dem erneuten Aufkommen von Praktiken, die zuletzt auf dem Höhepunkt des Paramilitarismus angewendet wurden.
Ask: Vielen Dank für Ihre informativen Ausführungen. Gibt es noch etwas, das Sie weiter erwähnen möchten?
C.G.: Der Senator Alvaro Uribe empfiehlt der Regierung in einem Interview mit Vicky Dávila [3] die Militarisierung zur Abwehr der Mobilisierung zu verstärken. Er hat auf die Stärke der Militärpräsenz verwiesen, wenn es darum geht, Städte zu kontrollieren. Dies mit dem Beispiel der Ausgangssperre. Dabei hat Uribe kritisiert, dass diese nicht zur permanenten Form der öffentlichen Kontrolle angewandt wurde. Seine Empfehlung ist: Polizei gegen den friedlichen Protest und Militär mit Kriegswaffen gegen die unbewilligten Demonstrationen auf öffentlichen Strassen. Weiter findet Uribe, man sollte den ESMAD stärken, statt ihn zu schwächen und allgemein mit harter Hand gegen die Störung der öffentlichen Ordnung durchgreifen. Der Grunddiskurs lautet: Null Zugeständnis gegenüber den Forderungen des Streiks; stattdessen wieder und wieder die Vorschläge wiederholen, den Unternehmern die Steuern zu senken, die Krankenversicherung der Pensionierten etwas anzupassen und seine Arbeitsreform durchzusetzen. Die Strategie mit den sogenannten neuen sozialen Elementen in der Steuerreform ist Teil des Rezepts des „grossen Dialogs“ für das immer Gleiche.
[1] http://www.indepaz.org.co/quienes-somos/
[2] Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen.