«Ich bin, weil wir sind»
Von Lisa Alvarado
Kolonialismus, Sklaverei, patriarchale Strukturen, Umweltzerstörung. Das sind Worte mit Gewicht. Gefüllt mit Geschichte(n), mit Bedeutung, mit Verantwortung. Es sind Begriffe, über die ewig diskutiert werden kann, werden soll. Wir wünschen uns einen Wandel, weg von diesen Begriffen. Eine echte Transformation, nicht bloss eine erneute Reform des ewig gleichen Systems. Doch eine Transformation passiert nicht über Nacht. Eine Transformation ist eine wellengleiche Entwicklung, vor und zurück, bis irgendwann die Welle überschlägt und an einem bestimmten Ort ein neuer Rhythmus beginnt. Überschlägt da gerade eine Welle in Kolumbien?
Francia Elena Márquez Mina verkörpert eine transformative Bewegung in diese Richtung. Sie hakt alle Punkte ab. Afrokolumbianerin, Frau, Umweltaktivistin. Das sind starke Worte. Gefüllt mit der Kraft, Wellen zum Überschlagen zu bringen. Sie kommt aus einer afrokolumbianischen Gemeinschaft im Cauca, La Toma. Dort hat sie bereits jahrelang und mit Erfolg dafür gekämpft, dass der illegale Minenbetrieb eingestellt wird. Der Fluss, der durch La Toma fliesst, sollte nicht länger mit Zyanid und Quecksilber vergiftet werden. Dieser Kampf hat sie als Umweltschützerin auf die nationale Bildfläche gebracht, und sie hat dafür im Jahr 2018 den Goldman-Umweltschutzpreis gewonnen.
«Ich bin, weil wir sind» ist Francia Márquez’ Wahlspruch und der Name ihrer politischen Bewegung. Das ist die Bedeutung des Worts ‘ubuntu’ aus dem Süden Afrikas und umschreibt die Macht einer Menschheit, die auf Freundlichkeit, Mitgefühl und Interdependenz beruht. Für Francia bedeutet dies, dass wir alle Teile eines grossen Ganzen sind und unsere Beziehungen in einem System gegenseitiger Abhängigkeiten sehen sollten, die aber gleichberechtigt sein müssen. Das bedeutet auch, dass sie die Wahl ihrer Person als Präsidentschaftskandidatin nicht persönlich nimmt, sondern als Vertreterin der historisch marginalisierten Bevölkerungsgruppen wahrnimmt. Auf politischer Ebene übersetzt sich das in einen Fokus auf die ländlichen Regionen, auf Ernährungssouveränität und dem Einbezug aller Bevölkerungsgruppen in die Planung öffentlicher Politik.[1]
Bei den Vorwahlen am 13. März ging Gustavo Petro für den Historischen Pakt (Pacto Histórico) als Sieger hervor. Wenn er die Präsidentschaftswahlen am 29. Mai gewinnt, wird Francia Márquez Vizepräsidentin. Sie wäre die erste Afrokolumbianerin, die zweite Frau, und die erste Umweltaktivistin in dieser Position in Kolumbien. Dazu kommt, dass sie in der Allianz mit Petro die erste linke Regierung in der Geschichte Kolumbiens überhaupt bilden würde. Das sind ziemlich viele ‘firsts’ und für viele, die teilweise seit Jahren, andere erst seit Kurzem, sich für einen Wandel in Kolumbien heiser schreien, absolut wundervolle Hoffnung.
Hier in der zynisch kalten Schweiz traut man sich fast nicht, positive Voraussagen zu treffen. Erst mal abwarten, und wenn es dann nicht klappt, haben wir uns das schon gedacht. Sollte es wider Erwarten die Welle doch überschlagen, umso besser. Aber dann war das ja nur der Beginn des harten und steinigen Weges zu einem Wandel in Kolumbien.
Nein, sage ich, das war auf keinen Fall bloss der Beginn. In den letzten drei Jahren hat Kolumbien eine ungesehene Protestwelle erlebt. Darin befinden sich all die Jungen, die keine Zukunft mehr für sich gesehen haben, die vom System ungesehen gefressen werden. Darin befinden sich auch die Kleinbauern und Indigenen, die seit Jahrhunderten unterdrückt und diskriminiert werden. Darin befinden sich Frauen, die endlich mehr Gleichberechtigung und eine bessere Zukunft für ihre Kinder wollen. Und darin befinden sich auch Männer und Frauen der Mittelschicht, die daran glauben, dass ein anderes Kolumbien nicht nur notwendig, sondern auch möglich sein muss.
Es ist also nicht nur möglich, es ist sogar tatsächlich wahrscheinlich, dass da gerade ein mittelgrosser Tsunami im Anmarsch ist, der Kolumbien auf dem Weg der Transformation erreichen wird. «Soy porque somos y como pueblo no nos rendimos, ¡carajo! »[2]
[1] https://volcanicas.com/soy-porque-somosla-filosofia-ubuntu-detras-de-la-apuesta-politica-francia-marquez/