Erlebnisberichte von Opfern willkürlicher Verhaftungen

Jun 28, 2019

Von Fabian Dreher

 

Unter dem ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe wurden im Rahmen der Politik der demokratischen Sicherheit viele Kleinbauern willkürlich durch Polizei und Armee verhaftet und juristisch verfolgt. Die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen prägen oft bis heute das Leben der Betroffenen. Mit Erlebnisberichten versuchen sie heute zur Konfliktverarbeitung beizutragen.

Ende der 1990er Jahre spitzte sich der bewaffnete Konflikt in der als Montes de María bekannten Gegend, die 15 Gemeinden der kolumbianischen Karibikregion umfasst, zu. Guerillas und Paramilitärs kämpften um die territoriale Kontrolle während es dem Staat nicht gelang, für Frieden und Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen. Nach dem Amtsantritt von Álvaro Uribe Vélez als Präsident wurde ab 2002 die Region im Rahmen der Politik der Verteidigung und demokratischen Sicherheit (Política de Defensa y Seguridad Democrática) massiv militarisiert. Begleitet wurde diese Militarisierung vom Aufbau eines Informantennetzwerks. Zivilpersonen wurden mit Geld und Strafminderungen für Informationen belohnt, die zur Festnahme oder Tötung von Angehörigen der Guerillas führten.

Die Politik der „demokratischen Sicherheit“ stattete die öffentlichen Sicherheitskräfte, insbesondere die Armee, mit umfassenden Befugnissen zur Aufstandsbekämpfung aus. In den sogenannten Rehabilitations- und Konsolidierungszonen (Zonas de Rehabilitación y Consolidación, ZRC), durften Kommunikationsmittel und Verkehrswege ohne richterlichen Beschluss überwacht und Personen verhaftet werden, auch wenn nur ein vager Verdacht bestand, dass diese einer illegalen bewaffneten Gruppierung angehören. Die Bevölkerung der ZRC wurde an Treffen eingeladen, um über die öffentliche Ordnung zu sprechen. An diesen Treffen wurden viele Daten erhoben, die später für willkürliche Verhaftungen verwendet wurden.

Obwohl die von Präsident Uribe kurz nach seinem Amtsantritt verfügten Dekrete ein Jahr später vom Verfassungsgericht für nicht umsetzbar und verfassungswidrig erklärt wurden, war der Schaden angerichtet. Dank grosszügigen Belohnungen blühte das Spitzelwesen in der meist armen Bevölkerung der Montes de María. Viele Personen wurden wegen Anschuldigungen verhaftet, obwohl sie keinerlei Beziehungen zu irgendeiner bewaffneten Gruppierung aufwiesen. Eine Untersuchung der CCEEU registrierte zwischen August 2002 und Juni 2006 mindestens 6913 willkürliche Verhaftungen in Kolumbien.

Die Regierung und die öffentlichen Sicherheitskräfte verletzten dabei reihenweise rechtsstaatliche Prinzipien. In einem Rechtsstaat ist der Freiheitsentzug eine einschneidende Massnahme, die nur im Ausnahmefall zur Anwendung kommt. Der Freiheitsentzug muss klaren Regeln unterliegen und die betroffenen Personen müssen über die Gründe informiert werden. Eine teils monatelange Inhaftierung auf Grund vager Verdachtsmomente stellt eine gravierende Grundrechtsverletzung dar, wie auch der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte festgehalten hat. Erschwerend hinzu kommt das soziale Stigma, als UnterstützerIn der Guerilla im Gefängnis gewesen zu sein. In den meisten Fällen konnte den Verhafteten, zumeist Kleinbauern, keine Straftaten nachgewiesen werden. Das soziale Stigma jedoch bleibt bestehen und isoliert die Personen und ihre Familien oft innerhalb ihrer Gemeinschaften.

Eine traurige Rolle spielten dabei die regionalen und nationalen Massenmedien. Anstatt in ihrer Rolle als vierte Gewalt das Verhalten der staatlichen Sicherheitskräfte kritisch zu beobachten, publizierten sie oft Namen und sogar Fotos der Verhafteten. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte kritisierte diese stigmatisierende Berichterstattung explizit.

Die meisten Verhafteten wurden ohne Anklage wieder freigelassen. Zwischen 2003 und 2004 wurden gemäss der regionalen Menschenrechtsombudsstelle 328 Personen im Departement Bolívar verhaftet, davon wurden 231 in den folgenden Monaten ohne Anklage freigelassen. Von den 97 Angeklagten wurden die wenigsten verurteilt, wurden aber durch die teils jahrelangen juristischen Verfahren zusätzlich stigmatisiert. Die Verhaftungen zeigen klar den regionalen Fokus der staatlichen Sicherheitskräfte, 52 Prozent der willkürlichen Verhaftungen fanden in der Gemeinde El Carmen de Bolívar statt, obwohl das Departement Bolívar insgesamt 46 Gemeinden umfasst.

Im vorliegenden Bericht[1] der NGO Dejusticia erzählen 19 Personen aus El Carmen de Bolívar die Geschichte ihrer willkürlichen Verhaftung und ihre Folgen. Bis heute wissen viele der damals Verhafteten nicht, ob weiterhin juristische Verfahren gegen sie hängig sind. Viele von ihnen haben bis heute Angst vor Polizei und Armee, und nehmen ihre Rechte gegenüber Behörden und Justiz nicht wahr. Gleichzeitig verlangen sie Genugtuung und Entschädigung für das erlittene Unrecht und die Stigmatisierung. Dank dem Friedensabkommen zwischen den FARC und der Regierung und dem damit verbundenen System für Wahrheit, Gerechtigkeit, Entschädigung und Nichtwiederholung (SIVJRNR) schöpfen die Opfer willkürlicher Verhaftungen neue Hoffnung. Die Erfahrungen und Rechte der Opfer stehen insbesondere bei der Wahrheitskommission (CEV) und der Sonderjustiz für den Frieden (JEP) im Zentrum. Entsprechend wichtig ist die Aufklärungs- und Wiedergutmachungsarbeit dieser Institutionen für die Opfer. Angriffe auf diese Institutionen sind entsprechend als politisch motivierten Täterschutz zu betrachten.

[1] https://www.dejusticia.org/wp-content/uploads/2019/03/Que-nos-llamen-inocentes.pdf