Einen humanitären Runden Tisch im Chocó, eine neue Hoffnung?

Mai 31, 2022

Von Carla Ruta

Seit Jahresbeginn hat die bewaffnete Gewalt im Department Chocó wieder besorgniserregend zugenommen. Nach mehrjährigen Forderungen der Zivilgesellschaft nach einem humanitären Abkommen zwischen den bewaffneten Akteuren zum Schutz der Zivilbevölkerung wurde nun im April ein humanitärer Runder Tisch errichtet. Dieser stellt eine sehr grosse Hoffnung in diesem Department – eines der ärmsten Kolumbiens – dar, nicht nur für ein Reduzieren der Gewalt, aber auch für eine Versöhnung, nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und soziale Gerechtigkeit.

Am 09. April wurde in Quibdó, Hauptstadt des Departments Chocó, der humanitäre Runde Tisch für den Chocó errichtet. Dieser Runde Tisch ist eine Initiative der Zivilgesellschaft dieses Departments der kolumbianischen Pazifikküste. Er vereint verschiedene Plattformen der indigenen, afroamerikanischen und Mestizo-Bevölkerung. An diesem Runden Tisch beteiligen sich auch die Kirchen und die nationalen und regionalen Behörden. Es hat die Deeskalation der Gewalt, den Schutz der Zivilbevölkerung und die Priorisierung des Dialogs zum Ziel, wie die Zivilgesellschaft es schon im «Humanitären Abkommen Jetzt»[1] forderte. Die Organisationen wollen mit diesem Forum den kolumbianischen Staat auffordern, Maßnahmen zu ergreifen, um den bewaffneten Konflikt zu beenden, der die Existenz der bäuerlichen, afrokolumbianischen und indigenen Gemeinschaften im Departement bedroht. Die Organisationen der Zivilgesellschaft im Chocó verlangen, dass der Dialog im Rahmen des Runden Tisches genutzt wird, um die Ursachen der aktuellen Sicherheitslage zu ermitteln und zu überwinden und der bewaffneten Konfrontation Grenzen zu setzen, während gleichzeitig Fortschritte bei den politischen Verhandlungen zur Beendigung des internen bewaffneten Konflikts erzielt werden.

Die Neuordnung des Konfliktes zwischen den verschiedenen bewaffneten Akteuren (nach der Demobilisierung der FARC-EP), die Vernachlässigung dieses Departments durch den Staat und die langsamen Fortschritte in der Umsetzung des Friedensabkommens von 2016 zwischen FARC-EP und kolumbianischer Regierung haben zu einer komplexen humanitären und Menschenrechtskrise im Departement Chocó geführt, die sich laut den Berichten von verschiedenen humanitären Missionen von Tag zu Tag verschärft.  

Der Konflikt im Chocó ist aber nicht neu. Seit mehr als zwei Jahrzehnten müssen viele Gemeinschaften mit Guerillas und Paramilitärs koexistieren, und werden kaum bis gar nicht vom kolumbianischen Staat geschützt. Oft arbeiten sogar gewisse staatliche Akteure und Paramilitärs in ihren verschiedenen Formen (früher «AUC», heute “Clan del Golfo”) zusammen um das Territorium zu kontrollieren und die ehemaligen FARC-EP und ELN zu vertreiben.[2] Grund dieser Gewalt ist unter anderem der Drogenhandel, der in dieser Region nach wie vor sehr präsent ist, da durch den Chocó Kokaexportkorridore (von den Anden zum Meer) verlaufen.

Seit Anfang 2022 haben kolumbianische und internationale NGOs vor der Zunahme der Gewalt im Chocó gewarnt. Besonders in der Region des San Juans, im Süden des Departements, ist es zu einem starken Anstieg der Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Gruppen im Streit um Land, illegale Bergbaugebiete, Drogenhandel und deren Routen gekommen. Die Zivilgesellschaft machte darauf aufmerksam, dass immer wieder die Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen wird. Durch Morde, Drohungen, Einschüchterung und Entführungen versuchen die bewaffneten Akteure, die Gemeinschaften zu kontrollieren und soziale Führungspersonen zum Schweigen zu bringen. Die mehrheitlich afrokolumbianischen und indigenen Gemeinden werden in vielen Fällen vertrieben, oder können wegen den Kämpfen ihre Dörfer nicht mehr verlassen und ihre Felder nicht mehr bewirtschaften.[3]  

Als Vergeltung für die Auslieferung von ihrem Anführer, alias Otoniel, an die Vereinigten Staaten rief der Clan del Golfo vom 05. bis zum 09. Mai einen nationalen bewaffneten Streik aus und verübte Anschläge in mehreren Städten im ganzen Land.[4] Mitte Mai 2022 befanden sich nahezu 30 Gemeinden im Chocó weiterhin im Alarmzustand,[5] trotz der verstärkten Patrouillen der Armee und Polizei.

Die UNO ihrerseits berichtete im Mai über die extrem prekäre Situation in der Region des Alto Baudós[6]. Zwischen dem 13. und 16. Mai registrierte die UNO in dieser Region die Vertreibung von mindestens 197 Personen (52 Familien) aus den Embera Dóbida-Gemeinden (Resguardo Dearade-Biakirude) wegen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen bewaffneten Akteuren. Zuvor, am 21. April, wurden 60 Personen (13 Familien) aus der Gemeinde Villanueva, die zu demselben Resguardo gehört, von einer bewaffneten Gruppe vertrieben, die damit drohte, in das Gebiet des Resguardos einzudringen. Die Vertriebenen leben nun in den Häusern von Bekannten, die selbst in einer sehr prekären Situation leben und wegen der Sicherheitslage ihre Dörfer nicht verlassen können. Laut der ONU sind in dieser Region 20’253 Menschen (4’774 Familien) aus 25 afrokolumbianischen Gemeinschaften und sieben indigenen Reservaten seit Januar von dieser Gewalt direkt betroffen, sei es durch Kämpfe, Drohungen, illegale Kontrollpunkte der bewaffneten Gruppen, der Verlegung von Antipersonenminen, Zwangsrekrutierung, Ausbeutung von Kindern und des Verbots der Mobilität entlang der Flüsse durch die bewaffneten Gruppen.

Angesichts dieser Situation sind die Hoffnungen und Erwartungen an den humanitären Runden Tisch natürlich enorm. Ziel des Runden Tisches sind nicht nur kurzfristige humanitäre Lösungen zu finden, sondern auch längerfristig Vertrauen zu schaffen, einen Dialog zu ermöglichen und auf eine Versöhnung hinzuarbeiten. Zudem soll die Nachhaltige Entwicklung eines der ärmsten Regionen Kolumbiens und die Stärkung der politischen Partizipation der bisher marginalisierten Gemeinden zur Sprache kommen.  Wie es das Espacio de Cooperación para la Paz[7] in seiner Medienmitteilung vom 3. Mai[8] unterstreicht, ist es zudem dringend notwendig, dass der kolumbianische Staat seine verfassungsmäßige Verantwortung wahrnimmt und wirksame Maßnahmen ergreift, um das Leben von Menschenrechtsverteidiger*innen, Führungspersönlichkeiten und sozialen Führungspersönlichkeiten, ihren Gemeinschaften und Organisationen, sowie den demobilisierten FARC-EP Mitglieder zu schützen. Es sind umfassende Aktionen erforderlich, die über die Militarisierung der Region – bisher die Standardantwort der Regierung – hinausgehen.

Padre Rafael Castillo Torres, Direktor des nationalen Sekretariats der Pastoral Social von Cáritas Colombiana erklärt, dass diejenigen, die sich entschlossen haben, diesen Runden Tisch zu begleiten und an ihm teilzunehmen, sich darüber im Klaren sind, dass es nicht nur darum geht, Träume und Hoffnungen für den Chocó zu sammeln und aufzulisten, sondern auch darum, die Wahldebatten, die Regierungsmandate und kurzfristige politische Agenden zu überwinden, mit viel Geduld auf die Verwirklichung von mittel- und langfristige Forderungen zu insistieren und den Runden Tisch weiterzuentwickeln. Der Runde Tisch habe die große Aufgabe, zur Bildung von neuen (friedlicheren) Beziehungen zwischen den Menschen und den Gemeinschaften beizutragen. Das Ergebnis des Runden Tisches müsse ein Beitrag zur Existenzsicherung, zum Zugang zur Bildung, zur Kultur, für die Verwirklichung der Menschenrechte, der Demokratie, der Gerechtigkeit und für ein würdiges und sicheres Leben für alle Bewohner*innen des Chocós sein.[9]  

 

[1][1]  «Humanitäres Abkommen Jetzt»: Appel der afrokolumbianischen Gemeinschaften des Pazifiks an die nationale Regierung, den anhaltenden bewaffneten Konflikt zu beenden. Siehe zu diesen Thema auch: Sistema Integral para la Paz hace un llamado sobre la grave situación humanitaria y aboga por la no repetición del conflicto en el Chocó – Comisión de la Verdad Colombia (comisiondelaverdad.co)

[2] La grave situación humanitaria en el Chocó (pares.com.co) Oktober 2021

[3] Grave situación de violencia en el Chocó, deja 550 familias confinadas – Infobae Januar 2022

[4] Siehe mehr dazu im ask! Artikel…

[5] Marcha por la paz en Nóvita, Chocó, tras hechos de violencia (noticiasrcn.com) Mai 2022

[6] Alerta de Situación Humanitaria: Desplazamiento de tres comunidades Embera Dóbida y confinamiento de 25 comunidades afrodescendientes y siete resguardos indígenas del Alto Baudó (Chocó). 26/05/2022 | HumanitarianResponse

[7] Plattform der internationalen NGOs, die in Kolumbien im Menschenrechts, Friedensförderungs-, humanitären und Entwicklungszusammenarbeitsbereich arbeiten. Die Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien ist auch Teil des Espacio de Cooperación para la Paz

[8] @EspacioPazenCol sur Twitter : “🇨🇴📣#SOSCHOCÓ A 20 años de #Bojayá 28 organizaciones y ONG internaciones #alertan sobre continuidad de la grave crisis humanitaria sostenida en el departamento del #Chocó y reiteran su compromiso y presencia en el territorio @espaciopazencol https://t.co/U98TUu0ewD” / Twitter

[9] La Mesa Humanitaria del Chocó – Cáritas Colombiana – SNPS (caritascolombiana.org)