Die sozialen Bewegungen in Arauca – zwischen Angriffen der bewaffneten Gruppen und gerichtlichen Verfolgungen durch den Staat

Apr 11, 2022

Von Carla Ruta

Seit Ende 2021 und besonders Anfang 2022 haben sich in Arauca die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen bewaffneten Akteuren verschärft, ebenso die gerichtliche Verfolgung und die Gewalt gegen soziale Bewegungen und ihren Führungspersonen. Die sozialen Bewegungen sind nicht nur mit der Stigmatisierung und gerichtlichen Verfolgung durch den Staat konfrontiert, sondern auch mit zunehmenden Fällen von Drohungen, Angriffen und Ermordungen, wie zum Beispiel der Autobombenanschlag vom 19. Januar 2022 gegen den Sitz von mehreren sozialen Organisationen in Saravena. Angesichts dieser Situation unternahm Sonia López, Präsidentin der Stiftung für Menschenrechte «Joel Sierra», im März eine Reise nach Europa und auch in die Schweiz.

Seit Ende 2021 haben sich die Auseinandersetzungen zwischen Staat und Guerilla im Departement Arauca und in den Grenzregionen zu Venezuela deutlich verschärft. Seit dem 2. Januar 2022 haben sich auch die Kämpfe zwischen dem ELN und Splittergruppen der ehemaligen FARC-EP intensiviert. Gewisse Mitglieder dieser Splittergruppen hatten sich schon vor dem Friedensprozess demobilisiert und bilden jetzt neue bewaffnete Gruppen mit vorwiegend kriminellen Interessen, die versuchen, die ehemaligen Gebiete der FARC-EP zurückzuerobern. Am 09. Januar 2022 deklarierte Antonio Medina[1], Chef einer FARC-EP Splittergruppe, mehrere soziale Bewegungen zum militärischen Ziel. Gleich ging es mehreren Gemeinschaftsprojekten und lokalen Kooperativen in Saravena, wie zum Beispiel einem Schokoladeproduktionsprojekt und einer Flaschenabfüllkooperative, die ebenfalls zum militärischen Ziel erklärt wurden. Alle wurden beschuldigt, dem ELN anzugehören. Diese Drohung wurde dann am 19. Januar in die Tat umgesetzt: Ein mit Sprengstoff geladenes Auto explodierte vor dem Sitz mehrerer NGOs in Saravena. Die Explosion tötete eine Person und verletzte rund 20 weitere Menschen. Trotz Frühwarnungen an die Behörden und der grossen militärischen Präsenz in Saravena und im ganzen Department Arauca konnte das Attentat nicht verhindert werden.

Angesichts dieses Angriffs und der Bedrohungslage haben rund 50 Mitglieder der sozialen Bewegungen das Department verlassen und mehrere Gemeinschaftsprojekte wurden geschlossen. Diese Krisensituation beunruhigt nicht nur in Kolumbien; sogar der UNO Sicherheitsrat sprach die Gewalt in Arauca während der Debatte zum Quartalsbericht[2] der Beobachtungsmission der UNO zur Umsetzung des Friedensabkommens an und sprach seine Besorgnis aus.

Angesichts der Lage unternahm Sonia López, Präsidentin der Stiftung für Menschenrechte «Joel Sierra», im März eine Reise nach Europa und auch in die Schweiz. Die Stiftung wurde 1996 in Arauca gegründet und setzt sich für die Einhaltung der Menschrechte ein. Sie berät und begleitet Opfer von Menschrechtsverletzungen und soziale Organisationen und fördert die Bildung der Gemeinschaften in Menschrechtsfragen. In Zusammenarbeit mit der Red de Hermandad y Solidaridad con Colombia organisierte die ask! eine öffentliche Veranstaltung in Bern, während der Sonia Lopez sehr eindrücklich die Lage in Arauca schilderte. Zusätzlich fanden Austausche mit dem EDA und mit mehreren Parlamentariern statt.

Sonia Lopez erklärte, dass die Staatsanwaltschaft seit dem Attentat kein Kontakt mit den NGOs – den direkten Opfer des Verbrechens – aufgenommen hat. Die einzige Antwort des Staates auf die Zunahme der Gewalt war bisher, 600 zusätzliche Soldaten nach Arauca zu schicken.[3] Mehr Soldaten hat aber bisher nicht mehr Sicherheit geheissen, sondern häufig mehr Unsicherheit. Sonia Lopez berichtete, wie die Soldaten Aktivitäten mit der Zivilbevölkerung organisieren (Sport- oder kulturelle Anlässe zum Beispiel), um sich beliebt zu machen. Gerade das ist den bewaffneten Gruppen aber ein Dorn im Auge und die Gemeinschaften, die sich an solchen Aktivitäten beteiligen, werden später von den bewaffneten Gruppen belästigt, bedroht, und aus der Region vertrieben.

Es ist kein Zufall, dass Arauca ein Department mit so viel Gewalt und Präsenz zahlreicher bewaffneter Akteure ist. Auf der einen Seite ist Arauca ein wichtiger Korridor nach Venezuela, das für vielfältige Schmuggelaktivitäten und illegalen Handel genutzt wird. Sonia Lopez unterstreicht, dass die Kokaproduktion von der Regierung häufig als Argument für die Militarisierung verwendet wird. «Wir haben aber zwischen 2007 und 2010 ein grosser Teil der Kokafelder selber zerstört. Die Regierung hat die Bauern in diesem Prozess nicht unterstützt und keine Hilfe für alternative Landwirtschaftsproduktionen gegeben.» Kokaproduktion sei also ein Vorwand für die Militarisierung von Arauca. Der Hauptgrund ist aber das Erdöl.

Die Erdölfirmen arbeiten sehr eng mit der Armee für den Schutz ihrer Anlagen und Pipelines zusammen und es besteht auch der Verdacht, dass sie in gewissen Fällen mit den bewaffneten Gruppen zusammenarbeiten (oder zumindest vom Handeln dieser profitieren), um Druck auf Gewerkschaften, Bauernorganisationen oder andere soziale Bewegungen, die gegen die Aktivitäten der Erdölfirmen protestieren, auszuüben. Es gibt zurzeit mehrere Expansionspläne der Erdölproduktion in der Nähe von Arauquita und Saravena, die die sozialen Bewegungen besorgen.  

Auf der anderen Seite greifen bewaffnete Gruppen, besonders die ELN, regelmässig die Erdölinfrastrukturen an und zerstören zum Beispiel die Pipelines. Die ersten Leidtragenden solcher Angriffe sind die Bauern und Anwohner*innen, deren Land und Flüsse verschmutzt werden. Die sozialen Bewegungen in Arauca, die sich kritisch gegen Erdölfirmen und deren Expansionspläne aussprechen und die Bauern, die ihr Land nicht an die Firmen verkaufen/abtreten wollen, werden also von Regierung und Firmen beschuldigt, der ELN nahezustehen und sich an den Angriffen auf die Pipelines zu beteiligen.

Dies hat auf der einen Seite als Konsequenz, dass die bewaffneten Akteure (Gegner des ELN) dies als Vorwand nehmen, um Vertreter*innen dieser Bewegungen zu bedrohen und, wie am 19.01.2022, anzugreifen. Es ist aber auch der Vorwand für zahlreiche Gerichtsprozesse gegen soziale Bewegungen. Seit 2002 gab es 354 Prozesse gegen Mitglieder der sozialen Bewegungen. In keinem dieser Prozesse kam es zu einer Verurteilung und alle wurden wieder freigesprochen. Die Folgen für die sozialen Bewegungen sind aber dennoch gravierend: Die betroffenen Führungspersonen sind in vielen Fällen jahrelang im Gefängnis, bevor sie frei gelassen werden – nicht selten sind es 4 Jahre bis überhaupt der Prozess beginnt –, ihr Ruf ist nachhaltig geschädigt, obwohl das Gericht sie für unschuldig befindet, die wirtschaftliche Belastung für die betroffenen Familien und Organisationen sind häufig gross. Für viele wirkt dies abschreckend und nicht alle haben den Mut, sich der Gefahr eines solchen Prozesses auszusetzen. Sonia Lopez erklärt, dass das Kooperationsabkommen zwischen den Erdölfirmen und den Behörden ganz sicher einer der Gründe für diese gerichtliche Verfolgungen ist. Teil dieses Abkommens ist die Unterstützung durch die Erdölfirmen der lokalen und departementalen Staatsanwaltschaft. Dies sei ein Anreiz für die Staatsanwaltschaft, Personen und Organisationen, die die Firmen als «störend» befinden – weil sie gegen Expansionspläne protestieren, weil sie sich für die Arbeitsrechte der Arbeiter*innen einsetzen, etc. – strafrechtlich zu verfolgen, selbst wenn keine Beweise oder handfeste Elemente vorliegen. Weiter sei eine Folge des Friedensabkommens, dass die Strafprozessordnung und Strafrecht für Verbrechen im Zusammenhang mit den bewaffneten Gruppen und dem bewaffneten Konflikt verschärft wurden (längere Haftstrafen und besonders längere Fristen während des Prozesses). Mit dem Gesetzesentwurf Ley de seguridad ciudadana (Gesetz für öffentliche Sicherheit – n° 2197 von 2022[4]), das infolge der massiven Demonstrationen während des nationalen Streikes in 2021von der Regierung vorgeschlagen wurde, sollen sich auch die Strafen für Personen, die privates oder öffentliches Eigentum beschädigen, erhöhen. Und wer zum Beispiel die Eingänge eines Gebäudes im Rahmen einer Demonstration blockiert, könnte gar der Entführung beschuldigt werden. Dies sind alles Instrumente, die es den Behörden ermöglichen oder ermöglichen werden, Mitglieder von sozialen Bewegungen noch länger im Gefängnis auf einen Prozess warten zu lassen, bis sie dann für unschuldig gesprochen und wieder freigelassen werden.

Was kann gegen diese Gewalt, Stigmatisierung und gerichtliche Verfolgungen in Arauca unternommen werden: Was die Handlungen des Staates betrifft, erwägen die sozialen Bewegungen Schritte auf internationaler Ebene, wie zum Beispiel mit der Interamerikanischen Menschrechtskommission oder mit dem UNO Komitee für Menschenrechte. Was die Handlung von nicht-staatlichen bewaffneten Akteure betrifft, lobbyieren die sozialen Organisationen gemeinsam mit den Kirchen, dem IKRK und der Defensoría (staatliche Ombudsmanstelle für Menschenrechte) mit dem ELN, damit diese das humanitäre Völkerrecht respektiert und führen eine Kampagne, damit die bewaffneten Akteure minimale humanitäre Prinzipien einhalten. Sonia Lopez rief in der Schweiz die internationale Gemeinschaft dazu auf, Beobachtungsmissionen nach Arauca zu schicken. Diese hätten eine sehr wichtige Schutzfunktion für die sozialen Bewegungen. Auch müsste weiter Druck auf die Regierung ausgeübt werden, damit die infundierten gerichtlichen Verfolgungen gegen die sozialen Bewegungen eingestellt werden, von der Privatisierung der Justiz abgesehen werde und die Verantwortlichen für die Angriffe gegen Mitglieder der sozialen Bewegungen zur Rechenschaft gezogen werden.

 

[1] “Antonio Medina” sería el responsable del atentado en Saravena (elcolombiano.com), ´Antonio Medina´, jefe de las disidencias de las Farc, sería el autor del atentado terrorista en Arauca – Infobae

[2] informe_sp_n2139927.pdf (unmissions.org)

[3] “Antonio Medina” sería el responsable del atentado en Saravena (elcolombiano.com)

[4] LEY 2197 DEL 25 DE ENERO DE 2022.pdf (presidencia.gov.co)