Die Siona – ein Volk an der Grenze

Mai 3, 2021

Von Lisa Alvarado

Die Siona sind ein indigenes Volk an der Grenze zwischen Ecuador und Kolumbien. Ihre kulturelle und physische Identität wurde durch externe Einflüsse während der Kolonialzeit und später dem bewaffneten Konflikt fast ausgemerzt. Deshalb hat das Verfassungsgericht 2009 anerkannt, dass ihre physische und kulturelle Existenz bedroht ist. Trotzdem kämpfen sie bis heute um ihr Land, das von Kokapflanzungen dominiert wird, einer Pflanze, die sie traditionell gar nicht benutzt haben. Dieser Artikel zeigt Teile ihres Kampfes um Land und Identität auf.

Ende Februar wurde in Ibarra, Ecuador ein Bericht der kolumbianischen Wahrheitskommission über das Exil und das Leben an und jenseits der Grenze präsentiert. Auf Youtube kann man die Präsentation nachhören [1]. Nach der Begrüssung durch Leyner Palacios und Carlos Beristain trugen verschiedene Personen im strömenden Regen ihre Lebensgeschichte vor, die geprägt ist von der Flucht über die Grenze, da der kolumbianische Staat sie nicht genügend schützen konnte. Ein spezieller Beitrag kam dabei von Mario Erazo Yaiguaje, Siona aus Buenavista, Putumayo. Die Siona sind eine indigene Gruppe, die seit der Gründung der Nationalstaaten Ecuadors und Kolumbiens beidseits der Grenze leben. Erazo hält fest, dass sie aufgrund dieser Grenzziehungen heute aufgeteilt sind auf vier Provinzen in Kolumbien und überdies auch auf zwei Länder, Ecuador und Kolumbien. Deshalb gelten sie als grenzüberschreitendes Volk (pueblo transfronterizo). Doch dieser Begriff ist von Aussen gekommen, von kolonialen und später nationalstaatlichen Behörden. Für die Siona selber gibt es keine Grenzen. Während sie in präkolonialen Zeiten und bis vor relativ kurzer Zeit nomadisch lebten, wurden sie durch die Kolonialisierung und Missionierung schrittweise sesshaft gemacht. Heute ist ihr Territorium aufgeteilt in Länder, Departamente, Provinzen. Auf der einen Seite relative Sicherheit, auf der anderen Seite Krieg.

Erazo erzählt, wie sie als Volk seit den 1960er Jahren Widerstand leisten gegen gewaltsame Vertreibung. Dazumal kam eine Ölfirma nach Orito und fing an, die indigenen Familien von ihrem Land zu vertreiben. Später (1983) kamen bewaffnete Gruppen, die M-19, die FARC, die einschneidende Veränderungen für das Leben und die Autonomie der Siona brachten. In den 1990er Jahren kamen erneut Ölfirmen, diesmal um definitiv zu bleiben. Ohne Rücksicht auf vorhergehende Information und Zustimmung (consulta previa) der Siona liessen sich die Ölfirmen nieder und begannen, Öl zu fördern. Wenig später kommt das Thema der Kokapflanzungen dazu. Die Siona werden Schritt für Schritt entweder dazu gezwungen, ihr Land zu verlassen, oder selber Koka anzupflanzen. Koka ist ein Tabu, alle streiten ab, Koka anzupflanzen. Doch alle haben ihre Felder voll mit Koka. Die Jugendlichen werden für die Guerilla rekrutiert, sie werden bedroht, auf ihrem Land immer mehr eingegrenzt und in einen Konflikt involviert, der nicht der ihre ist. Aus diesen Gründen hat das Verfassungsgericht im Jahr 2009 das Volk der Siona (Ziobain in ihrer Sprache) als in ihrer physischen und kulturellen Existenz bedroht deklariert, wie Mario Erazo in seiner Präsentation festhält.

Erazo kritisiert in seiner Rede auch den kolumbianischen Staat, der mit vorgängigen Konsultationen der Ölfirmen Entwicklung in den Putumayo bringen will. Für die Siona bedeutet Entwicklung aber nicht Geld, sondern eine andere Art, in ihrem Territorium zu bleiben. Denn für die Siona, wie auch für die meisten anderen indigenen Gruppen, ist ihr Land untrennbar mit ihrem Leben verbunden. «Sin tierra no somos Indios» (Ohne Land sind wir keine Indigenen), sagt Erazo. Denn das Land gebe ihnen Luft zum Atmen, zum Leben und zum Überleben. Erazo bezieht sich auch auf die Ältesten, die auf spirituelle Weise, mithilfe der Kraft der Anakonda und des Jaguars den Siona geholfen haben, über all diese Zeiten des ‘Unfriedens’, wie er es nennt, hinwegzukommen. Doch wenn die Siona gezwungen werden, ihr Land zu verlassen, sterben sie. Vielleicht lebt ihr Körper weiter, doch ihre Kultur kann nicht weiterbestehen, ihre Spiritualität ist mit dem Land verbunden und stirbt, wenn das Land nicht mehr da ist.

Das spirituelle Leben der Siona ist sehr eng mit der Yajé Pflanze (Banisteriopsis caapi) und dem Schamanismus verbunden. Diese traditionellen Praktiken, die wiederum eng verbunden sind mit der Verbindung zu ihrem Land und den Siona ihre mentale Stärke geben, haben seit langer Zeit als Widerstand gegen externe Kontrolle gewirkt. Die Region des Putumayo wird seit langem immer wieder Ziel extraktivistischer Interessen, beginnend mit Gold im 17. Jahrhundert, Kautschuk um die Jahrhundertwende des 20. Jahrhunderts und weiterführend bis in die Gegenwart mit Erdöl und Koka. Auch gegen den Einfluss der Franziskanermönche im 18. Jahrhundert wurde mit schamanischen Mitteln Widerstand geleistet. Doch der Kautschukboom, Epidemien und die Kapuzinermönche mit ihren brutalen Christianisierungsmethoden haben die Siona so dezimiert, dass der Schamanismus fast verschwunden wäre. Als in den 1950er Jahren die Suche nach Erdöl im Putumayo begann und Siedler aus den Anden in den Amazonas geschickt wurden, um die sogenannt ‘unbelebten’ Gebiete zu kolonisieren, waren die Siona (wie auch andere indigene Gruppen der Region) bereits sehr geschwächt.

Wie Jean Langdon in ihrem Artikel über die Wiederbelebung des Schamanismus der Siona zeigt, gab es in den 1950er Jahren noch ungefähr acht Siona Schamanen in der Region [2]. Sie waren zweideutige Figuren. Einerseits waren sie für das Wohlergehen und die Gesundheit der Gemeindemitglieder notwendig, andererseits schickten sie Krankheit und Unglück zu denen, die sie verärgerten, und zu rivalisierenden Schamanen. Heute wird diese Zeit als «grosser Schamanenkrieg» bezeichnet, da sich die Schamanen aus Rivalität gegenseitig angriffen, was dazu führte, dass in den 1970er Jahren, als Langdon ihre Doktorarbeit bei den Siona machte, alle gestorben waren und niemand sich stark genug fühlte, die Verantwortung eines Schamanen auf sich zu nehmen.
Über ein Jahrzehnt später begannen zwar einige Söhne und Töchter von ehemaligen Schamanen wieder Yajé zu trinken und Zeremonien zu veranstalten, aber die meisten hatten sich an die Lebensweise der Siedler (mestizos), die aus den Anden gekommen waren, gewöhnt. Die Kehrtwende kam in den 1990er Jahren, als eine globale Bewegung für den Erhalt der indigenen Völker aufkam und Kolumbien die Rechte von Indigenen in seiner Verfassung von 1991 festhielt. Während die 1990er Jahre zwar auf der einen Seite von der Brutalität des bewaffneten Konflikts geprägt waren und viele Familien nach Puerto Asís oder Mocoa fliehen mussten, gab es gleichzeitig eine Wiederbelebung von schamanischen Praktiken und somit auch die Stärkung ihrer indigenen Identität. Während Joaquín Carrizosa [3] die zentrale Rolle von Schamanen der Kofán (die auch im Putumayo leben) in Verhandlungen mit bewaffneten Akteuren aufzeigt, scheinen die Siona sich mehr auf die friedlichen Aspekte des Schamanismus zu konzentrieren. Die Söhne des letzten Siona Schamanen der alten Schule zelebrieren heute Heilungszeremonien in Pasto, Cali und Bogotá. Sie haben sich laut Langdon von den dunkleren, bösen Seiten des Schamanismus abgewandt [4]. Somit sind Siona Taitas, wie die Schamanen genannt werden, nicht nur in regionale Curanderismo-Netzwerke integriert, die auf Yaje-Ritualen basieren, sondern sie sind auch auf nationaler und globaler Ebene sehr sichtbar geworden. Dies bringt eine wichtige Einkommensquelle in eine Region, wo man sonst fast nur von Koka überleben kann.

Auch wenn Siona Schamanen sich offiziell nicht mehr als Vermittler mit mächtigen, bewaffneten Akteuren betätigen, benutzen sie beispielsweise die Yajé-Zeremonien um Junge, die seit dem Friedensabkommen aus der FARC-Guerilla zurückgekehrt sind, wieder in die Gemeinschaft zu integrieren.
Wie Langdon zum Schluss in ihrem Artikel festhält, kämpfen die Siona um Autonomie und Staatsbürgerschaft in einem Kontext von bewaffneten Akteuren und Extraktivismus, die die volle Ausübung ihrer Rechte einschränken.
Ihre traditionellen Lebensgrundlagen wurden zerstört und sie sind heute fast vollständig abhängig von den extraktiven und wirtschaftlichen Aktivitäten (hauptsächlich Koka) der Region. Die Yajé-Zeremonien sind in diesem Kontext zum wichtigsten Mittel geworden, um Allianzen mit externen Akteuren zu schliessen und zusätzliche Einkommensmöglichkeiten zu schaffen und gleichzeitig ihre Identität in einem postkolonialen, gewalttätigen Umfeld auszudrücken.
Zum Schluss seiner Rede vor der kolumbianischen Wahrheitskommission weist Erazo nämlich darauf hin, dass die Siona während der ganzen COVID19-Pandemie keine Hilfe vom kolumbianischen Staat erhalten haben. Die einzige Reaktion der Regierung sei wie immer, Armeetruppen in abgelegene Regionen wie den Putumayo zu schicken, die aber nur mehr zur Verletzlichkeit beitragen, anstatt die Siona zu unterstützen.
Die Einzigen, die sie unterstützt hätten, seien nationale und internationale NGO gewesen, von denen einige bestimmt über das Curandero-Netzwerk der Taitas in die abgelegene Region des Putumayos gelangt waren.

 

 

Die Informationen in diesem Artikel stammen, wenn nicht anders vermerkt, aus folgenden Quellen:

[1] https://www.youtube.com/watch?v=6xoltOCVz04&feature=youtu.be

[2] Esther Jean Langdon (2016): The Revitalization of Yaje Shamanism among the Siona: Strategies of Survival in Historical Context. Anthropology of Consciousness, Vol. 27, Issue 2, pp. 180–203.

[3] Carrizosa, Joaquin (2015): The Shape-Shifting Territory: Colonialism, Shamanism and A’i Kofan Place- Making in the Colombian Amazon Piedmont. Ph.D. dissertation, School of Anthropology and Conservation, University of Kent.

[4] Persönliches Gespräch mit der Autorin, 26. April 2021