Auf Töpfen für soziale Gerechtigkeit – Beobachtungen vom Nationalstreik
Von Laura Knöpfel
„A parar para avanzar, viva el paro nacional!“, innehalten um weiterzukommen, es lebe der Nationalstreik!“. Diesem Aufruf folgten am 21. November 2019 tausende von Kolumbianerinnen und Kolumbianer. Schon früh morgens durchzogen friedlich protestierende Menschen das städtische Kolumbien von Barranquilla und Cartagena über Bogotá und Medellín nach Cali und Ibagué. Sie gingen auf die Strassen, um für ein gerechtes und funktionierendes Pensions-, Ausbildungs- und Gesundheitssystem, für den Friedensprozess, für die Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger sowie gegen die Regierung von Iván Duque zu protestieren. Der Ruf nach einem Nationalstreik sollte auch in den folgenden Tagen und Wochen nicht abklingen: „El paro sigue“, der Streik geht weiter.
Am ersten Donnerstag des Nationalstreiks fühlte sich Bogotá anders an als sonst. Die Luft war rein und die Quartierstrassen im Chapinero alto, „meinem“ Quartier, ruhig. Öffentliche Gebäude wie Bibliotheken, Universitäten, Schulen sowie Läden, Restaurants und Bars blieben geschlossen. Das Leben fand an diesem Tag entweder zu Hause oder auf der Carrera Séptima, der Calle 26 und dem Hauptplatz Plaza Bolívar statt. Die Protestierenden bewegten sich langsam aber kontinuierlich vom Portal del Sur und Portal 20 de Julio im Süden und vom Portal de Suba im Norden dem Zentrum zu. Erstmal gemeinsam protestierend, besetzten die Studierenden der privaten Universität Ponty (liebevoll für Pontificia Universidad Javeriana) und die Studierenden der öffentlichen Universidad Distrital schon frühmorgens die Séptima. In den Strassenblöcken der Séptima vermischten sich an diesem Donnerstag die sozialen Schichten, welche die kolumbianische Gesellschaft noch immer strukturieren.
Zur selben Zeit gingen die Studierenden der Universidad Nacional der Calle 26 in Richtung Flughafen entlang. Sehr weit kamen sie nicht. Auf der Höhe des Zeitungsverlages El Tiempo, Carrera 69, löste die ESMAD (Escuadrones Móviles Antidisturbios de la Policía Nacional), die berüchtigte polizeiliche Sondereinheit gegen Unruhestiftung, den friedlichen Protest mit Tränengas und Wasserwerfern auf. Die Studierenden der Nacho (dieses Mal liebevoll für die Nacional) waren auf das forsche, rechtsstaatlich fragwürdige Vorgehen der Polizei vorbereitet. So wurde auf Whatsapp nicht nur der Routenplan, sondern auch eine Art Packliste verbreitet: Sonnencrème, Gesichtstuch, feste Handschuhe und mit Essig oder Bikarbonat vermischtes Wasser. Letzteres diente als Gegenmittel zum Reizstoff des Tränengases.
Am 21. November machten die Studierenden nur einen Teil der protestierenden Menschen aus. Das Nationale Streikkomitee umfasste neben den Studenteninnenvereinigungen Gewerkschaften, Frauenvereine, sowie Organisationen von Indigenen und Kleinbauern. Für Kolumbien einmalig verliessen an diesem Tag aber auch Familien und grosse Teile der Mittelschicht im ganzen Land ihre Wohnungen. Neue Formen der Mobilisierung, ohne einen sichtbaren „Kopf“ oder Anführer, kennzeichneten den Nationalstreik. Mit Hilfe des sozialen Nachrichtendienstes Twitter wurden kleine Personenansammlungen schnell zu Plätzen des Protests. Und wie durch Geisterhand ertönten dieselben Parolen im Süden und im Norden Bogotás. Des Weiteren, wiederum auf Twitter, rief der Sänger Santiago Alarcón einige Tage nach dem 21. November dazu auf, ein Konzert für den Nationalstreik abzuhalten [1]. Unter dem Namen ‚Un Canto x Colombia’ solidarisierten sich sodann am 8. Dezember auf der Séptima mehr als 400 Musikerinnen und 40 Bands aus dem ganzen Land gegen die Regierung Duques.
„Zuerst Gesundheit und Ausbildung“: Die Forderung des Nationalstreiks
„El pueblo lo dice y tiene la razón, primero lo primero salud y educación“, die Menschen sagen es und sie haben Recht, das Erste zuerst: Gesundheit und Bildung. Dieser Satz war Inhalt einer der meistgesungenen Protestrufe der Märsche. Die Parole bringt den gemeinsamen Nenner der sehr unterschiedlichen Forderungen des Nationalstreiks zum Ausdruck: Der Staat soll ein sozialer sein und sein Zweck in wohlfahrtsstaatlichen Institutionen für die Jungen, die Alten und die Schwachen bestehen. In diesem Sinne repräsentierte das Nationale Streikkomitee keine Partikularinteressen, sondern eine Vielzahl von Sorgen, Unzufriedenheiten und Forderungen unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen. Der Nationalstreik war kein spontaner Protest, sondern seit langem geplant. Damit unterschied er sich auch deutlich von den zeitähnlichen Ereignissen in Chile oder Ecuador. Dennoch entfachte schnell eine Debatte darüber, ob sich der kolumbianische Nationalstreik in einen lateinamerikanischen Zeitgeist gegen die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte einordnete. Denn die Parolen liessen erahnen, dass ein Grossteil der Protestierenden auf die Strassen ging, um sich gegen das „paquetazo de Duque“, das Massnahmenpaket der Regierung Duque, zu wehren. Es umfasste Steuererleichterungen und –anreize für Unternehmen in den Bereichen Landwirtschaft, Tourismus und der Kreativindustrie, Privatisierungen von öffentlichen Unternehmen, eine Erhöhung der Energiepreise, Arbeits- und Rentenreformen. Das paquetazo wurde somit zu gleich zum Stolz des Präsidenten sowie zum Auslöser und Grund der Proteste vieler.
Am Wochenende nach dem 21. November, ein Donnerstag, antwortete Duque auf die Forderungen mit einer Strategie, welche sehr an Emmanuel Macrons Reaktion auf die französische Protestbewegung der ‚gilets jaunes’ erinnerte. Er wolle eine „conversación nacional“, ein nationales Gespräch, mit den frischgewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern und Gouverneuren beginnen. Claudia López, die designierte Bürgermeisterin von Bogotá, erinnerte ihn zu Recht öffentlich daran, dass sie nicht die Meinungen der Menschen auf der Strasse vertrete. Er solle lieber direkt auf diese zugehen. Anstelle dessen forderte die Regierung den linken Politiker und ehemaligen Bürgermeister Bogotás Gustavo Petro dazu auf, die Proteste zu stoppen. Auf den sozialen Medien erklärten daraufhin viele Personen, dass ihre Opposition gegen die Regierung nicht mit einer Unterstützung Petros zu verwechseln sei.
Ferner rief Claudia López die Regierung dazu auf, Demut zu zeigen: Demut um anzuerkennen, dass es Dinge gäbe, die schlecht liefen. Demut um zuzugeben, dass der Regierung unverzeihliche Fehler unterlaufen seien. Ein Dialog sei nicht dazu da, um die eigene Politik besser zu erklären, sondern um mit Demut Fehler einzugestehen, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten und Veränderungen vorzunehmen. Die Wahrnehmung von Duque auf den Strassen Bogotás hätte nicht weiter vom Appell López’ entfernt sein können. Er wurde empfunden als ein Präsident, welcher weit weg von der Bevölkerung regiert, ein Präsident, der sich nicht für das Volk interessiert. Präsent war die Antwort Duques auf die Frage eines Journalisten, mit welcher dieser sich danach erkundigte, was er über eine kürzlich erfolgte Militäraktion gegen Dissidenten der FARC, welcher 18 Kinder zum Opfer fielen, denke (nach der Aktion stellte sich dann heraus, dass die Regierung darüber Bescheid wusste, dass sich Kinder im gebombten Gebiet befanden). Die Antwort Duques: „De qué me hablas, viejo?“, wovon redest du, Mann? Auf vielen Protestbannern gaben die Kolumbianerinnen und Kolumbianer ihrem Präsidenten dann am 21. November eine Antwort: „Del Paro nacional“, vom Nationalstreik und von den Kindern, welche beim Angriff starben, vom Frieden und der sozialen Ungerechtigkeit.
Die „Cacerolazos“
Am 21. November gegen 18.00 Uhr abends durchzog Bogotá plötzlich ein Klang, welcher bis zu diesen Stunden in Kolumbien fremd war: Der Klang des „cacerolazo“. In der offiziellen Geschichtsschreibung ertönte der Klang des cacerolazos erstmals in Chile im Jahr 1971. Wohlhabende Frauen schlugen aus Protest gegen die Politik von Salvador Allende mit Löffeln auf leere Töpfe, um ihren Unmut über die Nahrungsmittelknappheit kundzutun. Erst ein Jahrzehnt nach dem chilenischen ‚Marsch der leeren Pfannen’ erlangte der leere Topf durch die cazerolazos Argentiniens allgemeine Bekanntheit als Protestmittel. Am Tag des Nationalstreiks begannen nun auch zum ersten Mal in Kolumbien die Bogotanos den Caleños folgend, mit Holzlöffeln und Kellen auf Bratpfannen und Kochtöpfe zu schlagen. In Chapinero alto versammelten sich Hunderte von Personen an den Kreuzungen der Séptima von der Calle 46 bis hoch zum Parque de los Hippies in der Calle 60. Bis spät in die Nacht bekundeten die Einwohnerinnen und Einwohner von Bogotá, Cali, Barranquilla, Bucaramanga und Medellín auf Töpfen und Pfannen ihren Unmut gegenüber der Regierung von Iván Duque. Der „cacerolazo“ hatte begonnen. In den Tagen und Wochen danach gehörte für viele Bogotanos die „cacerola“, der Topf, wie zum Beispiel auch der Regenschirm, zu den alltäglichen Dinge, welche am Morgen in die Tasche gehörten.
Eine staatliche Strategie der Angstmacherei?
Als ich am Tag vor dem 21. November einen Taxifahrer fragte, ob auch er am Streik teilnehmen würde, antwortete er, dass er zu viel Angst hätte. Zwar unterstütze er den Nationalstreik, aber er werde diesen lieber am Fernseher verfolgen. Das Sechser Pack Bier dazu hätte er schon gekauft. Am 21. November erging es vielen wie meinem Taxifahrer. Schon Wochen vor dem Streik berichteten die Hauptmedien, dass Banden von Vandalen planten, an diesem Tag Geschäfte und Wohnungen zu plündern. Der Ursprung und die Quellen dieser Behauptungen sollten ungeklärt bleiben. In einem Interview mit der ask! erklärte Camilo González, Präsident der NGO Indepaz, sodann, dass Angst als strategisches Mittel eingesetzt wurde, um die Bevölkerung zu demobilisieren. Dazu passte auch, dass die Regierung am Tag vor dem Protest die Landesgrenzen schloss und vier Venezolaner auswies.
Am Donnerstagnachmittag häuften sich Berichte darüber, dass Banden in Cali und Bogotá mit Plünderungen begonnen hätten. Und auf den sozialen Medien kursierten Aufnahmen von Einbrüchen. Als Reaktion darauf verhängten die Bürgermeister von Cali, Bogotá, Popayán und Manizales Ausgangssperren für die Nächte von Donnerstag respektive Freitag. Zusätzlich auferlegten sie den Einwohnerinnen und Einwohnern der betroffen Städte das „ley seca“, wortwörtlich trockenes Gesetz, welches den Verkauf von Alkohol verbietet, dessen Geltungsbereich sich jedoch normalerweise auf den Tag vor – und den Tag von Wahlen beschränkt. In Bogotá sollte die Ausgangssperre zuerst nur für die Quartiere Bosa, Kennedy und Ciudad Bolívar gelten. Ungläubig empfingen die Einwohnerinnen der Quartiere des Nordens von Bogotá kurze Zeit später die Nachricht, dass ab 21.00 Uhr abends die Ausgangssperre für die ganze Stadt gelte. Während „pico y placa“, ein kolumbianisches Fahrverbot, welches sich an Nummernschildern orientiert, für die Stunden vor dem Beginn der Ausgangssperre aufgehoben wurde, stellten die Transmilenios schon am späten Nachmittag ihren Betrieb ein. Hunderte von Menschen waren daher an diesem Abend stundenlang zu Fuss unterwegs, um noch vor 21.00 abends zu Hause zu sein. Der Rektor der Universität Los Andes im Zentrum Bogotás öffnete sodann die Pforten für all diejenigen, welche es nicht mehr rechtzeitig nach Hause schafften. Die Protestierenden auf der Séptima reagierten auf die Nachricht, dass Enrique Peñalosa, der Bürgermeister Bogotás, eine Ausgangssperre ausgerufen hatte, nicht nur ungläubig (die letzte Ausgangssperre wurde 1977 verhängt), sondern auch wütend und gekränkt. Die Regierung würde überreagieren, unnötig Macht demonstrieren und die ganzen friedlichen Proteste verunglimpfen. So ignorierten dann auch einige Personen auf den Kreuzungen der Séptima den hoheitlichen Befehl und der Klang der cacerolazos durchzog die Nacht bis in die frühen Morgenstunden.
In Erinnerungen bleiben damit die unzähligen kreativ und hoffnungsvoll demonstrierenden Kolumbianerinnen und Kolumbianer, welche am 21. November trotz der weitverbreiteten Angst auf die Strasse gingen. In Erinnerung bleiben die Studierenden, welche sich immer wieder schützend vor die Polizei stellten, als vermummte Unruhestifter versuchten, die öffentlichen Sicherheitskräfte anzugreifen. Und in Erinnerung bleiben die Menschen, welche während den Protesten durch die Gewalt der ESMAD zu Tode kamen, allen voran Dilan Cruz. „Todos somos Dilan“, wir sind alle Dilan, der 18-jährige Student, welcher am Samstagnachmittag, den 23. November 2018, von einem Mitglied der ESMAD mit einem Geschoss tödlich verletzt wurde. Er hatte friedlich, umringt von Freunden, die kolumbianische Regierung auf den Strassen Bogotás dazu aufgefordert, sich der sozialen, politischen und ökonomischen Ungerechtigkeiten im Land anzunehmen.
[3] Juan Gabriel Gómez Albarello in der Sendung Punto Crítico der Universidad Nacional ‘Paro Nacional ?De dónde viene y hacia dónde va?, 28 November 2019, https://www.youtube.com/watch?v=SZJan9VUjFs, min 7.32.
[4] https://lasillavacia.com/gobierno-paquetazo-duque-son-sus-exitos-74562
[6] https://www.facebook.com/eltiempo/videos/1189175938139280/?v=1189175938139280
[7] https://www.facebook.com/eltiempo/videos/1189175938139280/?v=1189175938139280
[8] https://www.youtube.com/watch?v=I3L4y46rqgk
[9] http://www.memoriachilena.gob.cl/602/w3-article-100709.html
[10] Roxana Telechea, Historia de los cacerolazos: 1982 – 2001, https://www.razonyrevolucion.org/textos/revryr/ryr16/ryr16-telechea.pdf
[11] https://www.eltiempo.com/bogota/una-multitudinaria-manifestacion-que-termino-en-cacerolazos-436146
[12] Laura Ardila Arrieta von Silla Vacia spricht von “una oleada de miedo”, https://lasillavacia.com/colombia-cacerola-74649.