Wiederkehrende Gewalt im Cauca
Das Departement Cauca durchlebt momentan eine erschreckende Gewaltwelle. Die Zeitschrift Semana hat einen Artikel publiziert, in dem sie im Detail beschreiben, wie und weshalb es zu solch einem schlimmen Zustand kommen konnte. Andere aktuelle Artikel zur Gewalt im Cauca ergänzen unseren Artikel hier.
Seit mehr als zwei Jahren leben die Bewohner der ländlichen Regionen des Cauca in Angst und Schrecken. In den 29’000 km2 und 42 Gemeinden bewegen sich mindestens sechs grosse kriminelle Strukturen, die von den ehemaligen FARC abstammen und unter der Dachgruppe Comando Coordinador de Occidente vereint sind. Dann gibt es auch den Clan del Golfo, eine paramilitärische Struktur, sowie zwei ELN-Fronten. Diese Mischung aus verschiedenen illegalen Gruppen löst einen Krieg aus um die Kontrolle über den Drogen- und Waffenschmuggel in der Region, sowie den illegalen Goldabbau.
Gegeneinander kämpfen die Gruppen allerdings eher wenig. Es ist die Zivilbevölkerung, die mit einer Grausamkeit bekämpft wird, die man nur mit den 90-er Jahren vergleichen kann, wo FARC und Paramilitär ganze Dörfer massakriert hatten. Laut Daten der Polizei wurden im Cauca in den letzten vier Jahren mehr als 3’200 Personen umgebracht. Es werden Politikerinnen, Guardias Indígenas, soziale Führungspersonen, Umweltschützer, ehemalige FARC-Kämpfer, Bauernführerinnen, Präsidenten von Gemeinderäten, Afrokolumbianer, Indigene und Kinder umgebracht. Sowie jeder, der gegen eine von den illegalen Gruppen verordnete Regel verstösst, zum Beispiel die Ausgangssperre während der Coronakrise.
Der Erzbischof von Popayán sagt, das Niveau der Gewalt im Cauca habe menschenverachtende Höhen erreicht. Das Departement bietet alles, was die Illegalität sich wünscht: Zwei Kordilleren, ausgedehnte rurale Gebiete, Wälder, Berge, Hanfpflanzungen im Norden und Kokapflanzungen im Süden, staatliche Vernachlässigung, einen Zugang zum Pazifik und Gold in den Flüssen.
Während Kolumbien und die Welt versuchen COVID19 zu besiegen ist dies im Cauca noch eines der kleineren Übel. Seit Beginn der nationalen Quarantäne wurden 37 Personen umgebracht (Stand 24.5.2020).
Warum diese verstärkte Gewalt gerade jetzt?
Die Antwort hängt laut Semana davon ab, welches politische Lager sie gibt. Laut dem Gouverneur vom Cauca, Elias Larrahondo, hat die nationale Regierung nicht genug für das Departement getan. „Es gibt Gebiete, die brauchen unbedingt staatliche Institutionen, und insbesondere auch Investitionen.“
Der Cauca durchlebte eine Zeit der Ruhe und des Friedens während knapp zwei Jahren, dank dem Abzug der sechsten Front und der Kolumne Jacobo Arenas der FARC während dem Friedensprozess 2016. Der Frieden dauerte bis 2017, als Drogenschmuggler Geld aufwarfen, um diejenigen Ex-FARC, die mit dem Friedensvertrag nicht zufrieden waren, wieder zu den Waffen zu bringen. Die Narcos brauchten einen Stosstrupp, um die indigene Bevölkerung zu konfrontieren, die mit dem vermeintlichen Ende des Konflikts einen Prozess der Harmonisierung des Territoriums einleiteten. Dieser spirituelle Prozess sah auch die Entfernung von illegalen Pflanzungen aus ihren Dörfern vor. So wurden plötzlich die grossen Hanfpflanzungen in den nördlichen Gemeinden des Caucas durch das entschlossene Vorgehen der Ahnenwache (guardia ancestral) gefährdet. Die erste illegale Gruppe, die in Miranda, Corinto, Caloto und Toribío, auch goldenes Hanfdreieck genannt, auftauchte, war die Kolumne Dagoberto Ramos, eine FARC-Dissidenz. Ihre erste Aktion war, eine Abschussliste mit mehr als 100 indigenen Namen zu zirkulieren. Die indigenen Organisationen reagierten auf die gleiche Weise, wie sie es früher mit den FARC getan hatten: Sie warteten eine formelle Vorladung ab, um dann mit den Kommandanten zu verhandeln. Nur verhandeln die Dissidenzen nicht, sie handeln bloss. Zwischen 2017 und 2020 brachten sie 121 indigene WächterInnen und Gouverneure um, und dies nur im Norden des Departements.
Die unglaubliche Stärke der Indigenen
Mit den ersten Morden wurde klar, dass die Dissidenzen von mexikanischen Kartellen finanziert waren. Die Kadaver erschienen gezeichnet von Folter und begleitet von Drohnachrichten, um Angst zu verbreiten und massive Vertreibungen zu erreichen.
Die Strategie der Angst beeindruckte die Indigenen allerdings nicht, die es gewohnt waren, ohne mit der Wimper zu zucken mit der FARC zu sprechen und in riesigen Mingas [1] in ihre Lager zu marschieren, um sich über die gewalttätigen Aktionen gegen ihre Bevölkerung zu beschweren. Mit den Dissidenzen wollten sie das gleich handhaben, nur konnten diese nicht gefunden werden. Sie bewegen sich schnell und bleiben nie lange am gleichen Ort. Sie greifen in kleinen Gruppen an und immer Ziele, die sie vorher eingehend studiert hatten. Sie agieren wie eine grosse Killerbande, die in den Bergen Zuflucht sucht und dafür sorgt, dass niemand die Drogenschmuggelkette zu irgendeinem Zeitpunkt unterbricht.
Die Indigenen wählten schliesslich, sich gemeinsam zu organisieren und eine 24-stündige Wache in ihren Territorien zu installieren. Dies mit dem Gedanken, dass ihre Einheit die Gewalttätigen abhalten würde, jedoch ohne Erfolg. 2019 gab es 46 Verbrechen gegen Gemeindebewohner und sechs Massaker bloss im Norden des Departements. Eines der berüchtigtsten geschah am 29. Oktober in Tacueyó.
Die indigene Gouverneurin Cristina Bautista, bestürzt über die ständigen Morde und Rekrutierungen von Minderjährigen in ihrer Gemeinde, schwor an einer Minga, dass sie sich beim nächsten Mal mit den Gewalttätigen auseinandersetzen würden. „Wenn wir reden, töten sie uns, und wenn wir schweigen, töten sie uns auch“ sagte sie. Diese Gelegenheit kam bald. Am 29. Oktober entführten vier Dissidente der Dagoberto Ramos Front zwei Kinder aus einem Haus im Dorf La Luz. Am Dorfeingang wurden sie von der Guardia Indígena gestoppt, die ein gepanzertes Auto quer über die Strasse parkiert hatten. Sie retteten die entführten Kinder und diskutierten, was sie mit den Dissidenten machen sollten. Da wurden sie durch das Donnern von Langstreckenwaffen, die aus nächster Nähe abgefeuert wurden, unterbrochen. Mehr als zehn Minuten waren sie unter Beschuss. Einige Dorfbewohner, die keine andere Verteidigung als ihren Führungsstab hatten, stürzten sich in einen Abgrund von mehr als 20 Metern; andere flüchteten in den Panzerwagen, und die Unglücklichsten erhielten das Gewehrfeuer. Cristina starb. Außerdem fünf einheimische Wachen.
Am nächsten Tag kehrten die Dissidenten zurück und verbrannten das Auto, das unter den Schüssen zerstört wurde.
In La Luz gab es in den nächsten Tagen eine grosse Minga. Indigene aus allen Ecken des Cauca kamen. Mit ihren traditionellen Führungsstäben in der Luft schworen sie, nie auch nur einen Schritt zu weichen.
Terror im Westen
Während die Indigenen im Nordosten des Caucas stoischen Widerstand leisten, scheint der Westen in der Angst gefangen. Im Vorgang zu den Kommunalwahlen im September 2019 ermordeten Dissidente der Jaime Martínez Front, die diese Seite des Departements kontrollieren, die liberale Bürgermeisterkandidatin von Suárez, Karina García. Einige Tage zuvor zitierte alias Mayimbú, Kommandant der Jaime Martínez Front, alle Kandidaten der Region in die Berge um Jamundí, wo er sein Lager hatte. Er versprach, sich nicht in ihre Kampagnen einzumischen. Trotzdem liess er einige Tage später Karina Garía ermorden. Sie war auf dem Weg zu einer Wahlkampfveranstaltung, als ihr Auto unter Beschuss kam. Am nächsten Tag konnten die Behörden zuerst weder die Kandidatin noch ihre Begleiter finden und sprachen schon von Entführung. Später stellte sich heraus, dass die Dissidenten das Auto angezündet hatten und dieses die ganze Nacht brannte. Die Reste der Insassen waren mit dem Metall des Autos verschmolzen.
Mayimbú, der Verantwortliche der Jaime Martínez Front, ist laut Semana ein FARC-Dissidenter mit starken Beziehungen zum mexikanischen Sinaloa-Kartell. Er kontrolliert eine zentrale Stelle für den Drogenschmuggel mit Zugang zum Meer. Seine Männer übergeben die Drogen anscheinend den Mexikanern in Puerto Merizalde, von wo diese sie dann nach Zentralamerika verschiffen.
Die Macht der Dissidenzen wuchs in kurzer Zeit gewaltig. Ihre Waffen verfünffachten sich und der Kampf zwischen den beiden Fronten Dagoberto Ramos und Jaime Martínez hinterliess ab und zu ein paar zerstückelte Leichen auf dem Panamerikanischen Highway, ihrer unsichtbaren Grenze zwischen den Territorien. Ihre Macht ging soweit, dass sogar der Bürgermeister von Corinto Edward García (2016-2019) seine Gemeinde wegen Drohungen verlassen und von Cali aus agieren musste.
Gemeinsam zu einem neuen Ziel
Wie bereits am Anfang dieses Artikels erwähnt, sind die FARC-Dissidenzen im Cauca heute unter dem Comando Coordinador de Occidente vereint. Sie haben die Streitigkeiten untereinander mit dem Ziel zur Seite gelegt, das ganze Departement gemeinsam unter ihre Kontrolle zu bringen. Denn im Süden kontrollieren die Fronten José María Becerra und Manuel Vasquéz des ELN sowie kleinere paramilitärische Gruppen des Clan del Golfo die grössten Gebiete mit Kokapflanzungen. Anfangs 2020 begannen FARC-Dissidenzen, die von der Front Carlos Patiño geführt werden, die Kokafelder und Schmuggelruten des Südens streitig zu machen. Auch im Süden besteht eine wichtige Route mit Zugang zum Pazifik entlang dem Fluss Micay zwischen El Tambo und Argelia. In dieser Region war der Prozess zur Substitution von illegalen Pflanzungen durch BauernführerInnen gut vorangekommen. Sie alle wurden bedroht und erhielten zwei Tage Zeit, ihre Häuser zu verlassen. Diejenigen, die nicht flüchteten, füllen heute die Listen der ermordeten Führungspersonen. Laut dem Institut für Entwicklung und Frieden (Indepaz) gab es dieses Jahr bereits 104 Morde an sozialen Führungspersonen, 30 davon im Cauca (Stand 24.5.2020).
Immer und immer wieder
Nicht nur die Zeitschrift Semana macht auf den Terror im Cauca aufmerksam. Viele Artikel und Berichte belegen immer wieder, wie schlimm es um das Departement steht. Die Wahrheitskommission der Sonderjustiz hat in einem Bericht aufgezeigt, dass definitiv Verbindungen bestehen zwischen Mitgliedern der öffentlichen Sicherheit (Polizei, Militär), dem ELN und dem illegalen Bergbau. Fast 2000 Personen haben freiwillig Zeugnisse vor der Wahrheitskommission abgelegt. Alejandra Miller, Mitglied der Kommission, sagt: „Sie [Die Zeugen] erzählen uns von Allianzen zwischen öffentlichen Sicherheitskräften, Drogenhandel und illegalem Bergbau, wobei es sehr schwierig ist, das eine vom anderen zu unterscheiden. Es gibt die Zeugenaussage eines Militäroffiziers, die Verbindungen zwischen Militär und den mexikanischen Kartellen aufzeigt.“
Laut Semana gibt es seit letztem Montag 25. Mai erneut Grund zur Sorge in den Gemeinden Piendamó, Cajibío, Silvia und Morales, wo bewaffnete Männer Pamphlete verteilten, die eine neue Ausgangssperre ankündigten. Wer diese nicht befolge, werde ganz einfach umgebracht.
Im Norden des Departements, in der Gemeinde Caloto, wurde währenddessen der 21-jährige Cristian Conda umgebracht. Die zehn bewaffneten Männer, die in das Dorf Guabito kamen, suchten nach zwei Ex-FARC Kämpfer, fanden sie aber nicht und griffen stattdessen Cristian an, der ein Cousin von einem der beiden Gesuchten war. Diese Aktion kann in Zusammenhang mit der Gewalt gegen Ex-KämpferInnen gesehen werden, die in den letzten Wochen auch in anderen Regionen des Cauca zugenommen hat.
Laut dem oben zuerst genannten Artikel von Semana hat der Kampf der Indigenen im Cauca heute zwei Ziele: Zu verhindern, dass diese Ereignisse zum langfristigen Alltag werden und möglichst viel nationale und internationale Aufmerksamkeit zu erreichen, um einen integralen Plan anzuregen, der den illegalen Gruppen die Kontrolle entzieht. Es braucht den Staat wie auch internationale Organisationen. Weil es alleine nicht zu schaffen ist.
In Bezug auf nationale Aufmerksamkeit hatte der Artikel immerhin kurzfristigen Erfolg. Mittels einem Communiqué haben fünf Senatoren (Iván Cepeda, Antonio Sanguino, Aída Avella Esquivel, Tístocles Ortega, Feliciano Valencia) und ein Exminister des Cauca und aktueller Leiter von Indepaz (Camilo González Posso) alle illegal bewaffneten Gruppen im Cauca zu einem humanitären, unbefristeten Waffenstillstand aufgefordert. Von den öffentlichen Sicherheitskräften wird uneingeschränkter Respekt vor den Menschenrechten gefordert und von allen Respekt gegenüber der Autonomie indigener Territorien.
[1] Indigene Versammlungen, in denen typischerweise Gemeinschaftsarbeit geleistet wird.