Vier Jahre seit der Unterzeichnung des kolumbianischen Friedensabkommens: Verschlechterung der humanitären Situation und Stagnierung des Umsetzungsprozesses

Nov 27, 2020

Von Lisa Alvarado

Am 24. November jährt sich die Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC im Teatro Colón in Bogotá zum vierten Mal. Die Unterzeichnung sollte einen 52 Jahre dauernden Konflikt beenden, der mehr als 8 Millionen Opfer hinterlassen hat. Das Abkommen war das Resultat einer vierjährigen Diskussion und beinhaltet Massnahmen um die strukturellen Ursachen des Konfliktes zu lösen und somit seine Wiederholung zu verhindern. Nach den ersten vier Jahren der Umsetzung ziehen wir eine Bilanz. 

Laut dem KROC-Institut, welches für das Monitoring der Umsetzung verantwortlich ist, wurden 25% des Abkommens bereits vollständig umgesetzt, während weitere 23% noch überhaupt nicht angegangen wurden. Wenn die Umsetzung in diesem Tempo weitergeht, wird nur die Hälfte der für 2020-2022 vorgesehenen Massnahmen zum Ende der jetzigen Regierung vollendet sein. Das Kapitel zur Landreform ist das zur Zeit am wenigsten fortgeschrittene: Nur 4% sind bereits vollständig umgesetzt. 

Auch die transversalen Elemente des Abkommens (Gender und Ethnie) werden im Vergleich zum gesamten Abkommen langsamer umgesetzt. Laut GPAZ wurden bisher nur 13 von 122 Massnahmen ergriffen. Die jetzige Regierung hat eine Priorisierung vorgenommen, welche 71 von den 122 Massnahmen links liegen lässt. Das Friedensabkommen hat zwar neue Partizipationsräume für Frauen geschaffen, gleichzeitig hat unter dem Kontext der steigenden Gewalt vor allem in ländlichen Räumen aber auch das Risiko für Frauen in Führungspositionen zugenommen. Die LGBTI Bevölkerung wird systematisch von den Umsetzungspolitiken des Abkommens ausgeschlossen. Vom ethnischen Fokus wurden lediglich 10% umgesetzt, während gleichzeitig die Gewalt an indigenen und afrokolumbianischen Führungspersonen steigt. 

Die fehlende integrale und rasche Umsetzung des Friedensabkommens ist einer der Faktoren, die eine Verschlimmerung der Konfliktsituation auf dem Land fördern. Dies führt zu Massenvertreibungen, Massakern an der Zivilbevölkerung (74 im Jahr 2020 ), Drohungen und Morden und betrifft in grossem Mass die ländliche Bevölkerung. Die Weigerung der Regierung, den Dialog mit der zweitgrössten Guerilla ELN wieder aufzunehmen, trägt auch negativ zu dieser Entwicklung bei. 

Auch der halbjährlich erscheinende Bericht von Somos Defensores, einer Menschenrechtsorganisation, zeigt den fehlenden Willen der Regierung bei der Umsetzung des Friedensabkommens. Das letzte halbe Jahr war zusätzlich zu den bereits bestehenden Schwierigkeiten geprägt vom Virus der Gewalt, der COVID-19 Pandemie sowie einer Verfolgung demokratischer Institutionen wie die Sonderjustiz für den Frieden (JEP) sowie das Verfassungsgericht seitens der Regierungspartei.  Die ersten 50 Seiten des Berichts sind gefüllt mit Nachrufen auf die 95 sozialen Führungspersonen, die in der ersten Hälfte von 2020 ermordet wurden. Der Rest des Berichts ist aufgeteilt in 4 Kapitel. Das erste Kapitel heisst Taparse la boca (sich den Mund bedecken), wobei es um die verstärkte Militarisierung der ländlichen Gebiete geht. Im zweiten Kapitel, Lavarse bien las manos (sich gut die Hände waschen) geht es um die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber sozialen Führungspersonen. Das Kapitel gibt eine Übersicht über all das, was die Regierung gesagt und versprochen aber bisher noch nicht umgesetzt oder eingehalten hat. Es wird auch gezeigt, wie die Regierung jegliche Fehler oder Inkompetenz ihrerseits abstreitet. Dies kann beispielhaft an der trotzigen Kritik der Regierung an den Berichten der Beobachtermissionen der UNO aufgezeigt werden. Im dritten Kapitel, welches Levantar la voz para recuperar oxígeno (die Stimme erheben um Luft zu bekommen) heisst, geht es um die sozialen Führungspersonen und zivilgesellschaftlichen Organisationen selbst, und wie diese die ganze Situation sichtbar machen und die Einhaltung der Menschenrechte fordern. Das vierte Kapitel schlussendlich beinhaltet Daten des SIADDHH (Informationssystem über Aggressionen gegen MenschenrechtsverteidigerInnen) welche aufzeigen, wie schlimm die Gewaltsituation wirklich ist, wie es immer schwieriger wird, die Verantwortlichen zu identifizieren und wie sich die regionalen Tendenzen, wo und wer umgebracht wird, festigen. Im ersten Halbjahr von 2020 gab es eine Steigerung der Morde um 61% im Vergleich zum Vorjahr. Dies kann teilweise mit der Quarantäne erklärt werden, die aufgrund von COVID-19 verordnet wurde. Während dem Lockdown wurden mit 48% fast die Hälfte aller Morde an sozialen Führungspersonen begangen. Dabei sind Gemeindeführer am meisten betroffen, gefolgt von Kleinbauern, Indigenen und gewöhnlichen Dorfbewohnern. Dies zeigt die Ineffizienz der Art, wie die Regierung ihre BürgerInnen schützt. Zudem steigerte sich der Anteil der öffentlichen Sicherheitskräfte (Polizei, Militär) an Aggressionen gegen MenschenrechtsverteidigerInnen um 157% im Vergleich zum Vorjahr. Dies zeigen beispielsweise die Statistiken der sogenannten Zonas Futuro, Gebiete welche mittels Militarisierung entwickelt werden sollen. 

Der Bericht von Somos Defensores zeigt klar den fehlenden Willen der Regierung bei der Umsetzung des Friedensabkommens auf. Es ist nicht so, als würde die Regierung nichts unternehmen. Aber die Massnahmen, die sie unternimmt, sind entweder nicht genug oder gar kontraproduktiv, wie zum Beispiel die Militarisierung ländlicher Regionen. Es gibt vier Jahre nach Abschluss des Friedensabkommens durchaus Fortschritte zu verzeichnen. Aber es muss auch gesagt werden, dass das Verhalten der Regierung und ihrer Partei dem Abkommen bereits mehrere Male geschadet und den Prozess verlangsamt hat, was wiederum den Erfolg einer gesamthaften, integralen Umsetzung gefährdet. 

Gleichzeitig gibt es in Kolumbien eine starke Zivilgesellschaft, die sich besonders im letzten Jahr sehr stark engagiert hat und mit Protesten und Streiks immer wieder ihren Unwillen kundgetan hat. Die Kraft der Minga im letzten Monat hat gezeigt, dass trotz Pandemie und immer mehr steigender Gewalt die Menschen nicht aufgeben, weil sie nämlich gar nicht mehr viel zu verlieren haben. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die internationale Gesellschaft hinschaut und die Menschenrechtsverteidiger und sozialen Führungspersonen in ihrem Kampf unterstützt.