Viel Hoffnung auf eine friedlichere und sozial gerechtere Zukunft mit dem Wahlsieg von Gustavo Petro und Francia Márquez 

Jul 1, 2022

Von Stephan Suhner und Carla Ruta

Nach einer enormen Angstkampagne und dem Verdacht auf Wahlbetrug haben Gustavo Petro und Francia Márquez die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen doch erstaunlich deutlich gewonnen. Zuvor war die Stimmung „Alle gegen Petro“, der Kolumbiens Wirtschaft und Demokratie zerstören will. Plötzlich war der für viele unwählbare Tik Tok Opa Rodolfo Hernández eine Option, um den noch schlimmeren Petro zu verhindern. Doch noch-Präsident Duque und der unterlegene Kandidat Hernández haben erstaunlich schnell den Wahlsieg von Petro/Márquez anerkannt und es blieb relativ ruhig, es kam nicht zu den befürchteten Unruhen oder zum Einschreiten der staatlichen Sicherheitskräfte. Die Anhänger und Unterstützer feierten den hart erkämpften Wahlsieg Petros ausgelassen. Dieser Wahlsieg soll eine Zeitenwende markieren, endlich ist die Linke zum ersten Mal in der Geschichte an der Macht!

Wir versuchen uns an dieser Stelle mit einer ersten Einschätzung. So wie die Dinge momentan stehen, wird es nicht zum von vielen befürchteten Putsch oder zu weiteren Anschlagsversuchen auf Petro und Márquez kommen. Es ist aber davon auszugehen, dass die rechten Kreise alles versuchen werden, um ihnen das Regieren zu erschweren. Der Pacto Histórico hat im Parlament keine Mehrheit, Petro/Márquez werden Zugeständnisse machen müssen. Es ist auch wahrscheinlich, dass die Gewalt von Paramilitärs, Drogenbanden und FARC-Dissidenzen zunimmt, wenn soziale Führungspersonen, Landrechtsaktivisten und Menschenrechtsverteidiger jetzt Aufwind verspüren. Reaktionäre Kreise könnten auch mit Gewalt versuchen, ihre Interessen –gegen Landumverteilung, für fossile Rohstoff-Ausbeutung – durchzusetzen.

Eine Gefahr sehen wir darin, dass NGO, Sozialbewegungen, die „nadies“ und die kolumbianische Linke sehr grosse Hoffnungen und Erwartungen in die Regierung von Petro und Márquez stecken, die diese kaum erfüllen können. Das Spektrum an Tendenzen, die Petro und Márquez unterstützen ist sehr breit und sie werden sich nicht in allen Punkten einig sein. So wurde schon im Wahlkampf kritisiert, dass Petro und der Pacto politische Sektoren aufnahmen, die zu weit rechts seien. Es ist aber zu hoffen, dass all die Unterstützer*innen von Petro und Márquez das grosse Ganze nicht aus den Augen verlieren und ebenfalls bereit sind, Kompromisse einzugehen. Petro wird nicht all die Probleme Kolumbiens in vier Jahren lösen und alle Partikularinteressen und teils extremen Forderungen erfüllen können. Zudem muss er auf die makroökonomische Lage Rücksicht nehmen, die Märkte beruhigen und auch den Sicherheitskräften und gewissen US-Kreisen die Angst nehmen. Das Finanz-, das Aussen- und das Verteidigungsministerium sind deshalb Schlüsselressorts. Angesichts all dieser Herausforderungen wäre es sehr schade, wenn wegen nicht erfüllten, sehr hohen Erwartungen viele heutige Petro-Wähler sich enttäuscht abwenden und ev. sogar wieder eine rechte Regierung wählen, oder wenn sich die Linke in Grabenkämpfen verliert – wie leider häufig in der kolumbianischen Geschichte.

Petro und Márquez können aber viele Weichen stellen und Veränderungen beginnen. Petro und Marquez haben nach den Wahlen sehr versöhnliche Töne angeschlagen, auch gegenüber ihren ärgsten Gegnern, was für sich alleine schon eine wahnsinnige Erleichterung für das Land ist. Es besteht die Chance, dass mit Petro/Márquez wieder Anstand in der Regierung Einzug hält. Gemeinsam mit anderen Mitte-Links-Regierungen Lateinamerikas könnte Petro auch auf dem internationalen und regionalen Parkett für positive Veränderung und bessere Zusammenarbeit sorgen. Dass schon zwei Tage nach dem Wahlsieg ein Telefonat mit US-Präsident Biden stattfand, scheint ein gutes Zeichen zu sein.

Petro will die rücksichtlose Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe zurückfahren und die Energiewende anstossen. Wenn er Schlüsselämter beispielsweise im Umweltministerium, in der Bergbau- und der Umweltlizenzbehörde mit fähigen Fachleuten besetzt, könnte dies einen markanten Unterschied machen, auch z.B. in Fällen, die wir von der ask! seit langem begleiten, wie die Kohlenminen von Prodeco und Cerrejón, oder der illegale Goldabbau. Es ist aber zu befürchten, dass die Regierung Duque und Glencore noch vor der Mandatsübergabe möglichst viele Entscheidungen treffen wollen, z.B. bezüglich der Rückgabe der Titel von Prodeco oder der Umleitung des Arroyo Bruno. Wenn die neue Regierung solche Massnahmen, die einseitig die Unternehmen begünstigen, ändern oder rückgängig machen will, läuft sie Gefahr, von den Unternehmen vor dem Weltbankschiedsgericht verklagt zu werden.

Es ist zu hoffen, dass unter Petro und Márquez die ländliche Entwicklung und eine gerechtere Landverteilung endlich die nötige Priorität erlangt und in diesen Themenbereichen das Friedensabkommen endlich umgesetzt wird. Petro hat dies in der Kampagne versprochen und unterstützt eine vertiefte Umsetzung des Friedensabkommens mit den FARC, auch die Institutionen wie die JEP oder die Sucheinheit für Verschwundene und will die partizipative Planung der PDETs verbessern. Mit dem ELN will er neue Verhandlungen aufnehmen, und auch von Seiten des ELN gibt es positive Zeichen. Die verschiedenen kriminellen Gruppen will Petro vor allem mit einer juristischen Strategie bekämpfen. In der Drogenpolitik will eine Regierung Petro vor allem mit den Glyphosatbesprühungen aufhören und stattdessen den Kleinbauern Landtitel geben und sie bei der Lebensmittelproduktion unterstützen.

Im Rahmen des Espacio de Cooperación para la Paz (Koordinationsplattform der internationalen NGOs in Kolumbien) präsentierte Luciano Sanín, Direktor der NGO Viva la ciudadanía, seine Einschätzungen zum Wahlergebnis und der Zukunft der Regierung von Gustavo Petro und Francia Márquez. Auch er ist vorsichtig optimistisch. Seine Erkenntnisse zur Lage nach den Wahlen sind die Folgenden:

–          Die Wahl von Gustavo Petro und Francia Márquez ist nicht als isoliertes politisches Ereignis zu verstehen. Es ist Teil eines bedeutenden grundlegenden Wandels in Richtung politische Öffnung und breiteren politischen Partizipation, der mit dem Friedensabkommen mit der FARC-EP begonnen hat. Die Wahlbeteiligung hat seit 2016 um 15% zugenommen.

–          Rodolfo Hernandez wird die Wahlen nicht anfechten und hat das Wahlergebnis anerkannt. Viele Personen, die für Rodolfo Hernandez gestimmt haben, sind gegen die etablierten Politiker und traditionellen politischen Parteien und fordern einen politischen Wandel. Nicht alle sind aber eingefleischte Gegner von Gustavo Petro. Wenn Gustavo Petro diesen Wandel realisieren kann, könnte er die Unterstützung gewisser Hernandez-Wähler gewinnen.

–          Es sieht bis jetzt nicht so aus, als würden die rechten Parteien die neue Regierung blockieren wollen (mit Ausnahme der Partei von Präsident Duque, Centro Democrático). Ein breites Spektrum der Politik ist sich bewusst, dass eine Mehrheit der Stimmbevölkerung einen Wandel fordert und dass ein breiter nationaler politischer Dialog nötig ist. Deshalb wird sehr wahrscheinlich eine Mehrheit des politischen Establishments die Petro Regierung nicht boykottieren. Petro hat auch schon angekündigt, dass er eine breite Regierung bilden will (also auch mit Vertreter*innen der rechten Parteien). Es wird also davon ausgegangen, dass ein breiter konstruktiver nationaler Dialog möglich sein wird.

–          Die neue Regierung wird ein klares Mandat haben für bessere territoriale Integration. Die bisher marginalisierten Regionen, wie zum Beispiel Chocó, Guajira und Cauca, haben grossmehrheitlich für Petro gestimmt.

–          Die regionale geopolitische Lage ist für die neue Regierung auch günstig, mit einer grossen Mehrheit von Mitte-Links-Regierungen in Lateinamerika. Brasilien könnte auch bald wieder eine Mitte- oder Links-Regierung haben. Petro hat schon angekündigt, dass er mit Venezuela die Beziehungen normalisieren will, aber auch mit den USA weiterhin gute Beziehungen pflegen wird.

–          Der neue Aussenminister wird Alvaro Leyva Durán. Er ist ein konservativer Politiker, der sich aber in früheren Regierungen sehr für den Frieden in Kolumbien eigesetzt hat. Die Ernennung eines erfahrenen, rechten, aber friedensbefürwortenden Politiker wird als positives Zeichen für den Frieden in Kolumbien gewertet: Sowohl für eine seriösere und breitabgestützte Umsetzung der Friedensabkommen mit den FARC-EP, als auch für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen mit dem ELN mit weniger Widerstand seitens der rechten politischen Parteien. Die ELN hat bereits ihr Interesse an neuen Gesprächen angekündigt. Auch wäre es möglich, dass sich Kolumbien auf dem internationalen Parket wieder verstärkt konstruktiv für den Frieden in anderen Ländern einsetzt.

Die Herausforderungen werden aber natürlich für die Regierung zahlreich sein. Luciano Sanín unterstrich die folgenden Punkte:

–          Die Regierung muss es zustande bringen, dass Kolumbien aus ihrem chronischen Pessimismus rauskommt und dass der Gewalt ein Ende gesetzt wird.

–          Ein umfassender wirtschaftlicher Wandel muss unbedingt durch den neuen nationalen Entwicklungsplan, der ausgearbeitet werden soll, konkretisiert werden. Die jetzige wirtschaftlich schwierige Situation in Kolumbien wird aber die Umsetzung dieses Plans nicht vereinfachen.

–          Die traditionellen politischen Parteien sind seit den letzten Wahlen sehr schwach und vertreten nur kleine Sektoren der kolumbianischen Bevölkerung. Zusammen mit wenig repräsentativen Parteien zu regieren wird eine Herausforderung sein.

–          Die Bevölkerung hat kein Vertrauen in die Behörden. Viele Leute, die für Rodolfo Hernandez gestimmt haben, lehnen alle politischen Parteien ab. Das Vertrauen der Leute wiederzugewinnen, wird ein langer Prozess sein.

–          Die Reform der Armee und Polizei wird eines der wichtigen Dossiers der neuen Regierung sein. Diese Reform wird von breiten Kreisen der Bevölkerung gefordert und sogar traditionelle Parteien sind sich der Notwendigkeit einer Reform bewusst. Einen Dialog zu diesem Thema findet bereits zwischen höheren Offizieren und der zukünftigen Regierung statt. Aber es wird sicher auch starke interne Widerstände in Polizei und Armee geben.

Wie kann die kolumbianische Zivilgesellschaft zu diesem Wandel beitragen? Luciano Sanín weist auf die folgenden Punkte hin:

–          Die Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung in der Ausarbeitung des nationalen Entwicklungsplan muss durch die Zivilgesellschaft gefordert, gefördert und unterstützt werden, um sicher zu gehen, dass dieser Plan auch den Bedürfnissen der Leute entspricht.

–          Der Beitrag der NGOs zur Stärkung des Dialogs zwischen Bevölkerung, Zivilgesellschaft und Staat und für die Integration der Stimme der Zivilgesellschaft in den politischen Diskussionen ist von grundlegender Bedeutung.

–          Die NGOs sollten sich für eine breite legislative Agenda einsetzen: Insbesondere für die Umsetzung des Friedensabkommens und für die Empfehlungen der Wahrheitskommission, für Umweltschutz und eine Energiewende, für politische Partizipation und eine neue Sozialpolitik.

–          Eine wirkliche Antikorruptionspolitik ist zwar ein Ziel der neuen Regierung, diese wird aber den Druck der Zivilgesellschaft brauchen, um auch tatsächlich umgesetzt zu werden. Sonst wird diese versanden, so wie in der Vergangenheit.

 

Wir von der ask! sehen also vorsichtig positiv in die Zukunft und hoffen, dass die kolumbianische Zivilbevölkerung, die sich in den letzten Jahren so stark und unermüdlich gezeigt hat, weiterhin stark bleibt und Petro mit ihnen zusammen das Land in eine friedlichere Zukunft zu steuern vermag.