Reintegration – aber mit Sicherheit?
Von Lisa Alvarado
Im Punkt 3 des Friedensabkommens geht es um vier Themen, die sich allesamt dem Ziel widmen, den Konflikt zwischen der ehemaligen FARC Guerilla und der kolumbianischen Regierung endgültig zu beenden. Dazu zählen der definitive Waffenstillstand und die Waffenabgabe, die soziopolitische Reintegration ins zivile Leben der ehemaligen FARC Kämpfer*innen, die Sicherheitsgarantien sowie ein integraler Plan zur Entschärfung aller Antipersonenminen.
Das Kapitel über den Punkt 3 des Friedensabkommens im neusten KROC-Bericht[1] zeigt klare Linien. Gleich zu Beginn der Implementierung gab es grosse Fortschritte, da einige Punkte wie die Waffenübergabe und Demobilisierung der FARC-Kämpfer*innen unmittelbar umgesetzt wurden. Dieser Teil wurde bis heute zum grössten Teil (97%) erfüllt und abgeschlossen, die restlichen drei Prozent beziehen sich auf die wenigen Mitglieder, die ihre Waffen nie abgegeben haben und heute Teil der FARC-Dissidenzen sind. Was fehlt sind Massnahmen zur Reintegration der ehemaligen FARC-Kämpfer*innen ins zivile Leben, sowie die dazu nötigen Sicherheitsgarantien. Betrachtet man die Umsetzungskurve gab es seit Mitte 2018 keine grossen Veränderungen mehr. Trotzdem hat das KROC-Institut auch im letzten Jahr einige wenige Punkte gefunden, wo die Umsetzung vorangegangen ist. Wo aber auch sie die grössten Mängel und Rückstände sehen ist bei der Sicherheit und Reintegration für die ehemaligen FARC-Mitglieder.
Reintegration
Die politische Reintegration in Form der Partei Comunes (früher FARC) funktioniert laut dem KROC-Bericht nach Plan. Die Partei hat weiterhin neun Sitze im Kongress und zudem wurde letztes Jahr die Comunes-Senatorin Griselda Lobo als zweite Vizepräsidentin des Senats gewählt. Allerdings wird auch festgehalten, dass die Mitglieder der Partei weiterhin stigmatisiert werden, was unter anderem Auswirkungen auf ihren Zugang zu finanziellen Mitteln hat.
Ein für die Reintegration sehr wichtiges Thema ist der Zugang zu Land. In diesem Zusammenhang hat die Regierung Ende 2020 ein Dekret erlassen, welches erlaubt, Personen im Reintegrationsprozess Grundstücke zuzusprechen, damit diese ihre produktiven Projekte, die auch im Rahmen des Friedensabkommens gefördert werden, umsetzen können. Dies gilt sowohl für individuelle Personen wie auch für Kollektive. Im Jahr 2020 wurden die Ländereien von 4 ETCR (Wiedereingliederungsräume) für die Bewohner von der Regierung gekauft. Für die 75% der Ex-FARC Mitglieder, die ausserhalb von ETCRs wohnen, ist es aber immer noch sehr schwierig, Zugang zu Land und Sicherheitsgarantien zu erhalten.
Aufgrund von fehlender Sicherheit sind viele der produktiven Projekte zum Stehen gekommen. So war Ende 2020 das grösste Hindernis für die Umsetzung der produktiven Projekte, aber auch der Reintegration als Gesamtes, die fehlende Sicherheit besonders in ländlichen Gebieten. Dazu kam noch die Pandemie, welche die Kommerzialisierung der Produkte erschwerte oder gar verunmöglichte.
Antipersonenminen
In Bezug auf das Thema der Antipersonenminen wurden im Jahr 2020 41 Gemeinden als von Antipersonenminen gesäubert definiert, somit sind insgesamt 407 von 715 betroffenen Gemeinden gesichert. Von diesen Gemeinden sind 27 indigene Territorien. Wie der KROC-Bericht richtig festhält, ist diese Säuberung nicht nur für die lokale Zivilbevölkerung von grosser Wichtigkeit, sondern trägt auch zur gesicherten Rückkehr für vertriebene Gemeinschaften bei. Trotzdem sterben leider immer noch regelmässig am Krieg Unbeteiligte, weil sie auf dem Weg zur Arbeit oder in die Stadt auf scharfe Landminen treten, wie das Beispiel von Jhon Alberto Pascal, indigener Awá, diesen Monat gezeigt hat.[2] Wie der KROC-Bericht nämlich weiter festhält, werden im Rahmen des Konflikts weiterhin Minen gelegt, und im Vergleich zum Vorjahr sind 144% mehr Leute wegen Antipersonenminen ums Leben gekommen.
Schutz und Sicherheitsgarantien
Obwohl die Regierung gewisse Massnahmen trifft und zum Thema Schutz arbeitet, bleibt es ein grosses Problem für die ländliche Zivilbevölkerung, besonders für soziale Führungspersonen und ehemalige FARC-Mitglieder. Das Jahr 2020 charakterisiert sich dadurch, dass einige Mechanismen aufgrund von Gerichtsentscheiden ausgearbeitet wurden, bei der Inkraftsetzung hapert es aber weiterhin. So hat beispielsweise die JEP kollektive Präventionsmassnahmen für ehemalige FARC-Kämpfer*innen angeordnet, da durch die Morde auch jedes Mal ein Stückchen Wahrheit für immer verloren geht. So wurden zwar Sitzungen abgehalten und ‘Inputs gesammelt’ um ein Programm auszuarbeiten, dieses wurde aber nicht in Kraft gesetzt.
Im Jahr 2020 wurden 73 ehemalige FARC-Kämpfer*innen umgebracht, im Jahr 2021 sind es bisher 37 laut der Zählung von Indepaz.[3] Zu den individuellen Morden kommen Massenvertreibungen wie im Juli 2020, als in der Gemeinde Ituango in Antioquia 93 ehemalige FARC-Kämpfer*innen mit ihren Familien flüchten mussten. Weitere Massenvertreibungen fanden in Uribe, Meta, Algeciras, Huila und in Buenos Aires, Cauca statt.
Nachdem am 17. Oktober 2020 Juan de Jesús Monroy und sein Bodyguard ermordet wurden, gab es eine nationale Demonstration und ein Protestmarsch von ehemaligen Kämpfer*innen nach Bogotá, die bessere Sicherheitsgarantien verlangten. Monroy führte nicht nur das Wiedereingliederungsprogramm von 140 Ex-FARC Mitgliedern, er war auch der Vorsteher einer Kooperative, die Kakao produzierte und sein Mord somit ein deutlicher Versuch, den Prozess der Reintegration zu beeinträchtigen. Der Protestmarsch endete in einem Gespräch mit Präsident Duque, welcher versprach, sich besser um die Sicherheit der ehemaligen FARC-Kämpfer*innen zu kümmern. Ausserdem befand das Obergericht von Bogotá im März 2020 aufgrund einer Grundrechtsklage (tutela), dass die Regierung sich aktiver für die Umsetzung der Sicherheitsgarantien, wie sie im Friedensabkommen definiert wurden, einsetzen muss.
Martín Batalla, ehemaliges FARC-Mitglied und Hauptdarsteller des Dokumentarfilms «La Voz de la Montaña» (2020) erzählte am 30. September 2021 im Rahmen eines von der ask! organisierten Filmabends in Hochdorf von den Herausforderungen des Friedensabkommens in der aktuellen Situation. Er hob unter anderem die Wichtigkeit des 6. Punktes des Abkommens, der sich auf die Analyse und Monitoring der Umsetzung bezieht, hervor und meinte, ohne diesen Punkt seien die anderen zwar hübsch, aber unbrauchbar. Er war ausserdem der Meinung, dass der internationale Druck zur Umsetzung bisher entweder nicht funktioniert oder sogar inexistent war. Die Situation der ehemaligen FARC-Kämpfer*innen in dem Territorium, wo der Film gedreht wurde sei mittlerweile sogar eher noch schlechter geworden, obwohl inzwischen etwas finanzielle Hilfe eingetroffen sei. Wie auch ein Artikel der Silla Vacía[4] zeigt, stehen momentan die Pandemie, die Proteste und die wirtschaftliche Reaktivierung des Landes im Fokus sowohl der Regierung wie auch des privaten Sektors. Der Artikel ruft dazu auf, sich wieder vermehrt auf die Schaffung von zukunftsorientierten Projekten und Sicherheit im ländlichen Kontext zu konzentrieren.
[1] https://peaceaccords.nd.edu/barometer/colombia-reports?lang=es
[2]https://www.telesurtv.net/news/asesinan-dirigente-indigena-colombiano-20211002-0004.html?utm_source=planisys&utm_medium=NewsletterEspañol&utm_campaign=NewsletterEspañol&utm_content=7%20%20%20%20%20%20%20%20%20%20%202%20octubre%202021
[3] http://www.indepaz.org.co/lideres-sociales-y-defensores-de-derechos-humanos-asesinados-en-2021/
[4] https://www.lasillavacia.com/historias/historias-silla-llena/tres-retos-para-la-reincorporacion-cuando-poco-se-habla-de-los-firmantes-de-paz/