Politisches Schmierentheater
Von Fabian Dreher
Die JEP lehnt in einem Urteil die Auslieferung von Jesús Santrich in die USA ab und ordnet seine sofortige Freilassung an. Daraufhin tritt der Oberste Staatsanwaltschaft im Protest zurück und Präsident Duque redet eine Verfassungskrise herbei. Die sofortige Wiederverhaftung von Santrich nach seiner Freilassung verletzt die Gewaltenteilung und dient der politischen Inszenierung. Ein politisches Schmierentheater einer schwachen Regierung.
Am 15. Mai 2019 wies die Sonderjustiz für den Frieden (JEP) die Auslieferung des ehemaligen FARC-Führungsmitglieds Seuxis Paucias Hernández, alias “Jesús Santrich” ab. Zudem ordnete die JEP die sofortige Freilassung von Santrich an. Die Oberste Staatsanwaltschaft hatte Santrich am 9. April 2018 auf Grund eines Auslieferungsantrags aus den Vereinigten Staaten verhaftet. Gemäss dem Auslieferungsantrag soll Santrich in den Schmuggel von bis zu zehn Tonnen Kokain verwickelt sein. Die JEP musste jedoch vor allem klären, zu welchem Zeitpunkt Santrich die Tat begangen haben soll. Denn sämtliche im Rahmen des bewaffneten Konflikts begangenen Straftaten fallen unter die alleinige Gerichtsbarkeit der JEP. Das Stichdatum dafür ist der 24. November 2016. Nach diesem Datum begangene Straftaten werden von der regulären Justiz behandelt.
Trotz mehrmaliger Aufforderung durch die JEP haben aber weder das zuständige Gericht im Bundesstaat New York noch das amerikanische Justizministerium irgendwelche Beweise für den Zeitpunkt der Straftat vorgelegt. Die JEP kam entsprechend dem juristischen Grundsatz „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) nicht umhin, das Auslieferungsgesuch abzulehnen und die Freilassung von Jesús Santrich anzuordnen. Die Verteidigung von Santrich bezeichnete das Vorgehen der Obersten Staatsanwaltschaft seit der Verhaftung sowie die Vorverurteilung ihres Klienten regelmässig als „montaje judicial“, d.h. als politisch motivierte juristische Inszenierung.
Wenige Stunden nach dem Urteil der JEP reichte der Oberste Staatsanwalt, Néstor Humberto Martínez, seinen Rücktritt ein. Um nicht an seine Stelle zu treten, trat auch die Vizestaatsanwältin, María Paulina Riveros, von ihrem Posten zurück. Martínez begründete seinen Schritt mit seiner „Hingabe für den Rechtsstaat“. Er könne die Freilassung von Santrich nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. In einer letzten Amtshandlung rief Martínez in einer Medienmitteilung und auf Twitter die Bürger Kolumbiens dazu auf, die Legalität wiederherzustellen und den Frieden zu sichern. Eine letzte politische Einmischung und Kompetenzüberschreitung eines umstrittenen Staatsanwalts. Unabhängige Beobachter sehen denn im Rücktritt von Martínez ein gelungenes Ablenkungsmanöver. Die Begründung mit dem Entscheid der JEP sei dabei nur ein Ablenkungsmanöver von den Untersuchungen gegen Martínez wegen seiner Rolle im Korruptionsskandal um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht, der letztes Jahr ganz Südamerika erschütterte. Verschiedene Personen, die gegen Martínez aussagen wollten, sind in den letzten Monaten unter fragwürdigen Umständen zu Tode gekommen. Die juristische Aufarbeitung dürfte für Martínez dennoch heikel werden. Die JEP reichte zudem eine Untersuchungsbeschwerde gegen die Oberste Staatsanwaltschaft ein. Gemäss vorliegenden Dokumenten kam es bei der Beweissammlung durch die Untersuchungsbehörde zu Unregelmässigkeiten.
Präsident Duque zeigte sich enttäuscht über den Entscheid der JEP, versprach aber noch am selben Tag, die demokratische Gewaltenteilung zu respektieren. Dieses Versprechen hielt nur gerade einen Tag an. Bereits am Folgetag sprachen hochrangige Regierungsmitglieder von der Einberufung einer constituyente (verfassungsgebende Versammlung). Damit könnte die kolumbianische Verfassung und damit die Grundlagen des Friedensabkommens mit den FARC im Sinne der Friedensgegner in der Regierung abgeändert werden. Verfassungsrechtsexperten zeigen sich alarmiert über diesen Vorschlag. Im Moment scheint es, als werde die Idee einer verfassungsgebenden Versammlung nicht weiterverfolgt, zu sehr erinnert dieses Vorgehen an die politischen Wirren im Nachbarland. Präsident Duque und sein Regierungskabinett versuchen jedoch einen „Pakt für Kolumbien“ zu schmieden, der ebenfalls Anpassungen am Friedensabkommen ermöglichen soll, dabei strebt Duque insbesondere eine Schwächung der Unabhängigkeit der JEP an. Verschiedene unabhängige (Cambio Radical, Partido de la U, Partido Liberal) und oppositionelle Parteien (Polo Democrático, Alianza Verde, Colombia Humana, etc.) haben jedoch bereits Widerstand gegen die Pläne der Regierung angekündigt. Die Regierung versucht derweil weiterhin, eine institutionelle Krise herbeizureden, die jedoch nur im mangelnden Verständnis der Gewaltenteilung seitens der ExponentInnen der Friedensgegner besteht.
Offen bleibt bis heute die Frage warum die Oberste Staatsanwaltschaft der JEP keine Beweise für Straftaten von Jesús Santrich nach dem 24. November 2016 vorlegte, obwohl sie wiederholt behauptete, über diese Informationen zu verfügen. Die Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft und JEP steht seit Beginn unter einem schlechten Stern. Vermutlich verstand der inzwischen zurückgetretene Staatsanwalt Martínez das Mandat der JEP als Kompetenzbeschneidung seines Amtes und wehrte sich entsprechend dagegen. Mit der Sabotage der Arbeit der JEP tat er jedoch weder der Wahrheitsfindung noch der Gerechtigkeit, denen sein Amt verpflichtet wäre, einen Gefallen.
In einer Eilaktion wurde Santrich zwar am 17. Mai wie von der JEP und weiteren Gerichten verordnet in Bogotá aus der Haft entlassen, aber nach gerade zwei Minuten in Freiheit sofort wieder von der Obersten Staatsanwaltschaft verhaftet. Gemäss Medienmitteilungen der Staatsanwaltschaft habe sich Jesús Santrich in der Folge in der Haft verletzt, mittlerweile befindet er sich rund um die Uhr in ärztlicher Betreuung. Die sofortige Wiederverhaftung begründet die Staatsanwaltschaft mit neuen Beweisen gegen Santrich, die sie nun selbst untersuchen wolle. Die JEP veröffentlichte daraufhin ein Communiqué, worin sie die Frage aufwarf, warum die Staatsanwaltschaft ihr denn diese angeblichen Beweise nicht vorgelegt habe. Auch unter interimistischer Führung inszeniert die Oberste Untersuchungsbehörde Kolumbiens offensichtlich politische Kampagnen und überschreitet damit ihre gesetzlichen Kompetenzen massiv. Mit ihrem Verhalten beschädigt die Oberste Staatsanwaltschaft das Vertrauen der Kolumbianerinnen und Kolumbianer in die Institutionen und den Friedensprozess massiv.
Artikel zum Thema:
– https://atento.com.do/archivos/26465
– https://caracol.com.co/radio/2019/05/15/judicial/1557943319_863388.html
– https://twitter.com/FiscaliaCol/status/1128728076391780352/photo/1