Minderjährige im bewaffneten Konflikt

Apr 28, 2020

Von Lisa Alvarado

Das Observatorium (Onca) der Coalico hat eine Informationsbroschüre zum Thema Kinder und Jugendliche im bewaffneten Konflikt herausgegeben. Sie zeigt, wie stark Minderjährige wirklich vom bewaffneten Konflikt in Kolumbien betroffen sind. 

Die Coalico ist eine Art Dachverband von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für den Schutz der Rechte von Minderjährigen einsetzen, speziell auch in Bezug auf den bewaffneten Konflikt. Teil der Arbeit der Coalico ist die Beobachtung von Verletzungen von Menschenrechten, die im Rahmen des bewaffneten Konflikts auch Kinder und Jugendliche betreffen. Zusätzlich wurde auch die Situation von venezolanischen Kindern und Jugendlichen beobachtet, die als Migranten nach Kolumbien einreisen. Im Jahr 2019 betrafen von insgesamt 276 registrierten Vorfällen des bewaffneten Konflikts 222 Kinder und Jugendliche. Mit anderen Worten, in 80% der Fälle waren Minderjährige involviert. Besonders betroffen waren dabei die Departemente Antioquia, Norte de Santander, Chocó, Arauca und Nariño. Die Akteure sind die verbleibenden bewaffneten Gruppen, also ELN, Clan del Golfo, EPL, FARC-Dissidenzen sowie in gut 14% der Fälle die öffentlichen Sicherheitskräfte, also Marine, Militär und Polizei. Die ELN ist dabei mit 53% am meisten involviert. In vielen Fällen sind die Verantwortlichen aber gleich mehrere Akteure. Die Coalico qualifiziert die verschiedenen Fälle in acht Kategorien. Diese werden hier in absteigender Häufigkeit vorgestellt. 

Rekrutierung von Minderjährigen

Dies ist mit 67 Fällen die am meisten vorkommende Kategorie. Dissidenzen der FARC sowie Paramilitärs und ELN rekrutieren Minderjährige für ihre Reihen. Diese Strategie wird sowohl in urbanen wie auch in ruralen Gebieten betrieben. So hat die nationale Ombudsstelle eine Warnung herausgegeben, dass in gewissen Stadtteilen Bogotás die Rekrutierung Minderjähriger zugenommen hat. Aber auch in ländlichen Gebieten, wo der Staat wenig präsent ist, sind lokale bewaffnete Gruppen besonders stark. In dieser Kategorie ist ein Anstieg von 34% im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen. In diesem Zusammenhang nimmt auch der Vorfall im November 2019 Bedeutung an, als Verteidigungsminister Botero stolz „eine erfolgreiche Operation, bei der 14 FARC-Dissidenten getötet wurden“ präsentierte und später herauskam, dass unter den Toten mindestens 8 Minderjährige waren, darunter ein 12-jähriges Mädchen. Der Verteidigungsminister gab dann an, nicht gewusst zu haben, dass sich unter den angeblichen Guerilleros auch Minderjährige befanden, obwohl die Präsenz von bewaffneten Gruppen und deren illegale Rekrutierung öffentlich denunziert worden waren. Dies zeigt, unter welch grosser Gefahr Minderjährige stehen, die für die bewaffneten Gruppen rekrutiert werden. 

Zwangsvertreibung und Notunterkünfte

Die 44 Fälle in dieser Kategorie betreffen mindestens 3500 Kinder und Jugendliche, am meisten im Departement Norte de Santander. Im Vergleich zum Vorjahr sind es zwar rund 20 Fälle weniger in dieser Kategorie, allerdings muss beachtet werden, dass es mehr Schritt-für-Schritt-Vertreibungen (desplazamiento „gota a gota“) gegeben hat. Dabei werden zwar nicht ganze Gemeinschaften aufs Mal vertrieben, aber die schrittweise Abwanderung von einzelnen Familien aufgrund der Drohungen führt schlussendlich trotzdem zur Vertreibung und Zerstörung der Gemeinschaft. 

Missbrauch von Kindern und Jugendlichen für zivil-militärische Kampagnen 

Die 31 Fälle dieser Kategorie stellen eine besorgniserregende Steigerung zum letzten Jahr dar. Es geht dabei um Events, durchgeführt sowohl von ELN, Paramilitärs wie auch Polizei oder Militär, wo Werbung für die jeweilige Institution gemacht wird, Geschenke verteilt werden und angeblich die Kinder und Jugendlichen gefördert und gefeiert werden. 

Verletzungen und Verstöße gegen das Recht auf Leben und persönliche Integrität 

Von den 30 registrierten Fällen betrafen 13 Morde und 17 Verletzungen. Dabei gab es besonders einen Anstieg an Verletzungen und Todesfällen von Kindern und Jugendlichen wegen Antipersonenminen. Auch in den Städten gab es im 2019 einen Anstieg an Gewalt und Drohungen von bewaffneten Gruppen. 

Blockierung der Grundversorgung 

Die meisten der 24 Fälle dieser Kategorie wurden im Chocó registriert (14 Fälle). 23 der Fälle betrafen Strassenblockaden, sodass Gemeinschaften nicht erreicht werden konnten. Diese Blockaden können auch durch Verminung der Strasse geschehen. Das führt dazu, dass Kinder und Jugendliche beispielsweise nicht zur Schule können. Diese Kategorie ist auch eng verbunden mit Zwangsvertreibungen speziell von indigenen und afrokolumbianischen Gemeinden. Die Fälle in dieser Kategorie haben sich im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. 

Angriffe und Besetzung von Schulen und Krankenhäusern und anderen zivilen Einrichtungen 

In dieser Kategorie geht es um Institutionen, die ein schützendes Umfeld für Kinder und Jugendliche darstellen sollten. Von den 16 registrierten Fällen betrafen 15 Schulen und ein Fall eine andere zivile Einrichtung (Häuser, Pärke, Kirchen etc.). Im Vergleich zum Vorjahr gab es 46% weniger Fälle in dieser Kategorie. 

Verletzungen und Verstöße gegen das Recht auf sexuelle Freiheit

In dieser Kategorie wurden 2019 nur 6 Fälle registriert. Allerdings ist die Dunkelziffer von Verbrechen sexueller Gewalt im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt gegen Kinder und Jugendliche sehr hoch. Sei es aus Angst, angeprangert zu werden, sei es aufgrund des Drucks von bewaffneten Akteuren, die in der Region präsent sind, sei es aufgrund der fehlenden Registrierung von Beamten oder der Legitimierung sexueller Praktiken in einigen Gemeinden aufgrund kultureller Aspekte. Dies unterstreicht die Notwendigkeit und die Herausforderung, regionale Strategien zu entwickeln, die es ermöglichen, Fälle im Zusammenhang mit diesem Problem zu identifizieren und Fortschritte bei den Strategien zur Förderung der Prävention dieses Verbrechens zu erzielen. Ein Bericht der Cooperación Sisma Mujer besagt, dass 93% aller sexuellen Gewalt sich innerhalb des bewaffneten Konflikts abspiele. Die Betroffenen seien zu 86% minderjährig und die am meisten betroffene Gruppe seien Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren. Die Analyse von Coalico zeigt, dass es eine klare Verbindung gibt zwischen sexueller Gewalt, Zwangsvertreibung und der Rekrutierung Minderjähriger.

Verletzungen und Verstöße gegen die persönliche Freiheit 

Diese Kategorie ist sehr schwierig zu registrieren. Darunter fallen z.B. willkürliche Verhaftungen oder illegale Nötigung. Es ist auch teilweise schwierig, die Fälle von der Kategorie der Entführungen zu differenzieren, da illegale Nötigung auch Erpressung beinhaltet. Trotzdem wurden vier Fälle identifiziert, wo Kinder und Jugendliche involviert waren.  

Es fällt auf, dass alle Kategorien miteinander und z.T. sehr eng verwoben sind, und sich gegenseitig verstärken. Grundsätzlich betreffen fast all diese Kategorien auch Erwachsene und die Gesellschaft als Ganzes, wobei Minderjährige aber besonders vulnerabel sind und somit mehr Schutz bedürfen