Gerechtigkeit und die Illusion des Postkonflikts

Apr 30, 2019

Von Fabian Dreher

Im September 2018 nahm die ask! an der Internationalen Juristenkarawane in Kolumbien teil. Im Zentrum standen dabei die Auswirkungen des Friedensprozesses und der Konfliktdynamik auf die Arbeit von MenschenrechtsanwältInnen und MenschenrechtsverteidigerInnen in Kolumbien. Der Bericht der Karawane fasst die aktuellen Herausforderungen der Menschenrechtsarbeit in Kolumbien zusammen.

20 JuristInnen, MenschenrechtsanwältInnen und –expertInnen aus sechs Ländern reisten im September 2018 im Rahmen der sechsten Internationalen Juristenkarawane in sechs Regionen Kolumbiens (Antioquia, Bolívar, Nariño, Norte de Santander, Santander und Valle del Cauca). Dort sprachen sie mit Opfern des bewaffneten Konflikts, sozialen Führungspersonen, MenschenrechtsverteidigerInnen, MenschenrechtsanwältInnen aber auch MitarbeiterInnen staatlicher Institutionen wie der Menschenrechtsombudsstelle (defensoría), der Staatsanwaltschaft (fiscalía) sowie der lokalen, regionalen und nationalen Regierung. Der im April 2019 publizierte Bericht[1] fasst die Erfahrungen aus diesen Gesprächen zusammen.

Nach dem Amtsantritt der neuen Regierung unter Präsident Duque im August 2018 war die Lage in Kolumbien angespannt. Die Zukunft des Friedensprozesses war unsicher und in den vom bewaffneten Konflikt betroffenen Regionen nahmen die Gewalt und die Präsenz von illegalen bewaffneten Organisationen laufend zu. Obwohl seither acht Monate vergangen sind, bleibt die Lagebeurteilung dieselbe. Es ist weiterhin unklar, ob der neue Präsident gewillt ist, das Friedensabkommen und die notwendigen politischen Reformen umzusetzen. Die Gewalt insbesondere gegen MenschenrechtsverteidigerInnen ist weiterhin hoch, beinahe jeden zweiten Tag wird eine soziale Führungsperson ermordet.

Viele Morde und Gewalt hängen mit der Ausrottung und Substitution von Kokapflanzungen zusammen. Personen und Gemeinschaften, die sich für die freiwillige Substitution gemäss Friedensabkommen einsetzen, werden nicht nur von illegalen bewaffneten Gruppierungen bedroht, sondern werden teils auch Opfer der staatlichen Sicherheitskräfte. In sämtlichen Kokaanbaugebieten sowie entlang der lukrativen Drogenhandelsrouten kämpfen bewaffnete Gruppierungen um die Kontrolle des Territoriums und die illegalen Ökonomien. Insbesondere die Armee nimmt dabei bei ihren Aktivitäten ebenfalls kaum Rücksicht auf die Zivilgesellschaft.

Nach der Entwaffnung versammelten sich die ehemaligen KämpferInnen der FARC in sogenannten Übergangszonen. Über 55 Prozent der mehr als 8000 ehemaligen KämpferInnen hatten im September 2018 diese Übergangszonen auf Grund der Unsicherheit bereits verlassen. Bewaffnete illegale Organisationen, die meisten davon paramilitärische Gruppierungen haben bis heute über 120 ehemalige FARC-KämpferInnen ermordet und verursachen rund um die verbleibenden Übergangszonen viel Gewalt. Davon betroffen ist auch die Zivilbevölkerung in den Gebieten rund um die Übergangszonen.

MenschenrechtsverteidigerInnen und insbesondere MenschenrechtsanwältInnen sind in Kolumbien weiterhin grosser Gewalt ausgesetzt. Die Gewalt steht dabei oft in Zusammenhang mit Fällen von Landrückerstattungsklagen, aussergerichtlichen Hinrichtungen oder Klagen gegen internationale Konzerne. Ein hohes Risiko geht auch von Anzeigen wegen Beziehungen von staatlichen Behörden mit paramilitärischen Gruppierungen aus. MenschenrechtsanwältInnen in Kolumbien sehen sich Drohungen, politischen und juristischen Stigmatisierungen, illegaler Überwachung, Datendiebstählen sowie physischer und psychologischer Gewalt gegen sich und ihre Familienmitglieder ausgesetzt. Viele Anwälte erleiden auf Grund des politischen und juristischen Drucks sowie der hohen Arbeitslast ein Burnout. Der freie Zugang zur Justiz, ein Grundpfeiler eines demokratischen Rechtsstaats ist so nicht gewährleistet. Der staatliche Schutz von MenschenrechtsanwältInnen durch die UNP ist ungenügend. Die Gerichte sind meist überlastet und halten grundlegende Datenschutzbestimmungen nicht ein. So lagern vertrauliche Informationen vieler Fälle zum Beispiel im Gericht von Cartagena im öffentlich zugänglichen Bereich.

Es zeichnet sich ab, dass mit der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen der Regierung Kolumbiens und den FARC der Friedensprozess erst gerade begonnen hat. Kolumbien befindet sich gegenwärtig in der Zeit nach dem Abkommen und nicht in der Nachkriegszeit (posacuerdo, pero no posconflicto) oder gar in einer Friedenszeit. Erst die Umsetzung des Friedensabkommens mit den FARC sowie ein Friedensschluss mit der zweiten aktiven Guerillaorganisation, dem ELN, ermöglichen die Transformation der kolumbianischen Gesellschaft zum Frieden. Dazu gehört auch der Schutz von MenschenrechtsverteidigerInnen sowie der JuristInnen, die sich für ihre Rechte einsetzen. Der Rechtsstaat muss gestärkt und die Straflosigkeit bekämpft und minimiert werden. Der internationalen Gemeinschaft kommt dabei die wichtige Rolle zu, Kolumbien in diesem Prozess zu begleiten und den kolumbianischen Staat an seine Verantwortung zu erinnern.

 [1] http://www.colombiancaravana.org.uk/wp-content/uploads/2019/03/Report_Colombian_Caravana_6th-Delegation.pdf