Ein Gespräch ohne Angst über die Nation, die wir sind

Aug 2, 2022

Von Lisa Alvarado

Am 28. Juni 2022 hat die im Friedensabkommen beschlossene und von der Regierung eingesetzte Wahrheitskommission die bisher umfassendste Untersuchung des bewaffneten Konflikts in Kolumbien veröffentlicht. Während dreieinhalb Jahren wurde der Bericht aufgrund von Aussagen von 28’562 Personen, 14’928 Interviews und 1’203 Berichten von NGOs, Unternehmen und Opferorganisationen erstellt.

Der Schlussbericht der Wahrheitskommission bestätigt sehr viele der Aussagen und Argumente, die linke politische Bewegungen und Menschenrechtsorganisationen seit Jahrzehnten machen, die aber von der traditionellen kolumbianischen Elite bisher, auch international, immer relativ gekonnt infrage gestellt und als politische Propaganda abgetan wurde. Gleichzeitig widerlegt der Bericht eben solche Aussagen der politischen Elite, die jahrzehntelang als Legitimation ihrer Machtstellung benutzt worden sind.

Zur zweiten Gruppe zählt dabei die Stigmatisierung von zivilgesellschaftlichen Gruppen, egal welcher Art. Der Endbericht der Wahrheitskommission hält im Schlussteil fest, dass Rebellengruppen während der langen Zeit des bewaffneten Konflikts mit Teilen der Zivilbevölkerung und linken Parteien interagierten, dass dies aber nicht bedeute, dass sich alle Sektoren, die Forderungen an den Staat stellten, mit der Guerilla identifizierten. Dies war laut dem Bericht «ein entscheidender Faktor bei der Stigmatisierung sozialer und politischer Bewegungen sowie von Teilen verschiedener bäuerlicher und ethnischen Gemeinschaften.»[1] Diese fehlende Differenzierung zwischen sozialen Organisationen und Rebellengruppen hat zu wiederholten Menschenrechtsverletzungen wie Verfolgung, Massaker und aussergerichtlichen Hinrichtungen geführt, in Verbindung mit dem Konzept des ‘internen Feindes’, das während Jahrzehnten soziale Bewegungen und Organisationen kriminalisiert hat.

In Verbindung mit dem Konzept des ‘internen Feindes’, welches unter anderem aus den USA stammt, hat auch dieses Land eine grössere Rolle gespielt, als von ihnen immer wieder betont wurde. Die Wahrheitskommission hatte Zugang zu Dokumenten[2], welche aufzeigen, dass die US-Regierung sehr wohl Bescheid wusste über viele Verbindungen und Gräueltaten der kolumbianischen Armee und trotzdem über Jahrzehnte ihre militärische Verbindung zu Kolumbien vertieft hatte. Die Dokumente zeigen die Verbindungen zwischen der kolumbianischen Armee und paramilitärischen Gruppen auf. Ebenso Verstrickungen zwischen der vierten Brigade der Armee und dem Medellín-Kartell sowie Beweise, dass die zehnte Brigade der Armee den Tätern Namen geliefert hat für das Massaker 1988 an Arbeitern und Gewerkschaftsmitgliedern von Bananenplantagen. Auch Informationen über Ölfirmen, die Paramilitärs für Schutzfunktionen bezahlt und dafür aktiv Informationen zu Guerilla-Aktivitäten entlang der Öl-Pipelines an das Militär ausgeliefert haben, was bei einem Militäreinsatz 1997 zu rund 100 getöteten FARC-Mitgliedern führte. Auch über die Praktiken der ‘falsos positivos’ wusste die US-Regierung Bescheid und trotz all dieser Informationen schickten sie all die Jahre Millionen Dollar an Hilfsgeldern nach Kolumbien, ganz zu schweigen von der militärischen Zusammenarbeit.[3]

Ein weiteres Argument, das hauptsächlich die Regierung immer wieder negiert hat ist, dass illegale Gruppen Staatsfunktionen übernommen haben in Gebieten, wo der Staat nicht präsent war. Der Endbericht der Wahrheitskommission bestätigt dies als Faktor für das Fortbestehen des Konflikts: «Der Staat hat sich als (teilweise) unfähig erwiesen, bestimmte Gebiete unter Kontrolle zu halten und seine Integrationspolitik und -präsenz war selektiv bezüglich bestimmter Konfliktgebiete und oft auf militärische Macht beschränkt.»[4] Dies hat dazu geführt, dass beispielsweise ganze Gebiete vom Staat als ‘rote Zonen’ betitelt wurden, weil dort Guerillas aktiv waren. Die Zivilbevölkerung in diesen Gebieten wurde somit Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen in dem Versuch, sie mit militärischen Mitteln davon abzuhalten, mit der Guerilla zu kooperieren oder sie sogar dafür zu bestrafen, obwohl sie gar keine Wahl hatten.

Diese Art (teilweise sicher auch Taktik) von alles in einen Topf werfen führte dazu, dass z.B. so viele Mitglieder der Union Patriótica systematisch umgebracht wurden, weil sie immer noch als Guerilleros gesehen wurden, obwohl sie nichts (mehr) mit Waffen zu tun hatten. Deshalb ist der folgende Satz im Bericht der Wahrheitskommission von so grosser Bedeutung: «Die Kommission weist nachdrücklich darauf hin, dass politische Sympathien und ideologische Zugehörigkeit nicht gleichbedeutend sind mit Mitgliedschaft oder Unterordnung unter Guerillastrukturen und dass es keine Rechtfertigung für die Stigmatisierung, Verfolgung oder Beseitigung von Mitgliedern politischer und sozialer Bewegungen gibt.»[5] In diesem Zusammenhang macht die Wahrheitskommission auch einen Aufruf an die bewaffneten Gruppen, sie sollen damit aufhören, soziale Protestbewegungen zu infiltrieren und so zu ihren Zwecken zu sabotieren, was natürlich weiter zur Vermischung der verschiedenen Akteure führt.

Im Schlussteil weist der Bericht dem Staat, der Gesellschaft und besonders auch dem Unternehmenssektor die Verantwortung zu, die strukturellen Ungleichheiten bezüglich Konzentration von Einkommen, Reichtum und Land zu überwinden, welche Kolumbien zu einem der ungleichsten Länder der Welt machen. Empfohlen werden unter anderem ein Friedensministerium (worunter neu die Polizei fallen würde), ein Ende der Verbotspolitik im Umgang mit Drogen und die Einführung einer Politik der Erinnerung, damit sich der bewaffnete Konflikt nicht wiederholt.[6]  

 

All diese Argumente haben kolumbianische wie auch internationale Organisationen wie die ask! schon seit Jahrzehnten immer wieder hervorgehoben. So gesehen ist der Endbericht der Wahrheitskommission nichts Neues. Doch das war auch nie so gedacht. Ihre Aufgabe war es, alle Aussagen zusammenzutragen und daraus eine Synthese zu formen, etwas, womit Kolumbien weiterfahren kann in ihrem Prozess in Richtung Frieden. Für die ask! ist klar, dass eine wichtige Lehre aus dem Bericht zu ziehen ist (die wir auch immer wieder betonen): Das Bild ist eben grau. Nicht schwarz und weiss. Nicht Gut und Böse. Die verschiedenen Seiten haben sich so stark vermischt, im Guten wie im Schlechten, dass wir davon wegkommen sollten, den einen Schuldigen finden zu wollen. Das hat so ähnlich auch Gustavo Petro formuliert, als er in seiner Rede bei der Veröffentlichung des Berichts betonte, dass die Wahrheit nur einen Sinn habe, nämlich Dialog, Einigung, Koexistenz und Versöhnung.[7] Die Wahrheitskommission hat gezeigt, dass einzelne Schicksale, Staatspolitiken und unvorhergesehene Dynamiken so stark verstrickt sind, dass einzig der Wunsch und der Wille, gemeinsam ein Kolumbien in Frieden zu schaffen, das scheinbar Unerreichbare schaffen kann. Francisco De Roux, der Präsident der Wahrheitskommission, sieht den Bericht als «Einstieg in ein Gespräch ohne Angst über die Nation, die wir sind.»[8] Und so passt auch dieser Satz aus der Einleitung des Berichts sehr gut hier an den Schluss: “Der Abschlussbericht der Wahrheitskommission enthält einen wichtigen Teil der Wahrheit, um von einer traumatischen Vergangenheit in eine zivilisierte Zukunft zu gelangen, in der Differenzen demokratisch gelöst und die Faktoren der Ungleichheit, Korruption und Unmenschlichkeit überwunden werden”.[9] Wir hoffen stark, dass der neugewählte Präsident Gustavo Petro Recht hat mit seiner Aussage, dass diese Empfehlungen endlich in die Geschichte Kolumbiens eingehen werden und sind hoffnungsvoll, wenn wir daran denken, was er auch noch gesagt hat: «Wir müssen den Kreislauf der Rache durchbrechen, der uns immer wieder zur Gewalt führt.»[10]

 

[1] https://www.elespectador.com/colombia-20/informe-final-comision-de-la-verdad/la-relacion-entre-entre-los-grupos-insurgentes-con-la-poblacion-civil-y-la-izquierda-politica-legal/

[2] Diese Dokumente beinhalten unter anderem CIA-Operationsberichte, die vom National Security Archive in den USA organisiert und zusammengestellt wurden. Dieses Archiv mit Sitz in Washington unterstützt Wahrheitskommissionen in mehreren Ländern. Eine digitale Bibliothek mit den vorhandenen Dokumenten soll im August 2022 veröffentlicht werden.

[3] https://amerika21.de/2022/07/259132/enthuellung-rolle-usa-kolumbien?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

[4] https://www.elespectador.com/colombia-20/informe-final-comision-de-la-verdad/la-relacion-entre-entre-los-grupos-insurgentes-con-la-poblacion-civil-y-la-izquierda-politica-legal/

[5] https://www.elespectador.com/colombia-20/informe-final-comision-de-la-verdad/la-relacion-entre-entre-los-grupos-insurgentes-con-la-poblacion-civil-y-la-izquierda-politica-legal/

[6] https://www.npla.de/thema/memoria-justicia/wahrheit-als-dialog-uebereinkunft-zusammenleben-und-versoehnung/?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=npla-newsletter-vom-date-d-date-mtext-date-y_1

[7] https://amerika21.de/2022/07/258879/kolumbien-frieden-wahrheitskommission?pk_campaign=newsletter&pk_kwd=daily

[8] https://cuartodehora.com/2022/06/28/gustavo-petro-recibio-el-informe-final-de-la-comision-de-la-verdad-y-se-comprometio-a-implementar-sus-recomendaciones/

[9] https://www.comisiondelaverdad.co/hay-futuro-si-hay-verdad

[10] https://cuartodehora.com/2022/06/28/gustavo-petro-recibio-el-informe-final-de-la-comision-de-la-verdad-y-se-comprometio-a-implementar-sus-recomendaciones/