Das neue Friedensabkommen – ein Rückschritt für die kleinbäuerliche Landwirtschaft
Von Stephan Suhner
Am 24. November 2016 wurde das neue Friedensabkommen in einem protokollarischen Akt von Präsident Santos und dem Oberkommandierenden der FARC, Rodrigo Londoño alias Timochenko, feierlich unterzeichnet. In gut dreiwöchigen intensiven Verhandlungen wurde über die rund 400 Änderungsvorschläge der Gegner des ersten Abkommens beraten. Viele Punkte wurden aufgenommen, Präsident Santos stellte aber auch schnell klar, welche Themen und Vorschläge nicht verhandelbar waren.
Die Einigung in La Habana kam am 12. November 2016 zustande. Die wesentlichen Änderungen aufgrund der Nachverhandlungen sind die Folgenden: 1) Besitztümer der FARC: die FARC müssen alle Besitztümer deklarieren; diese werden für Reparation der Opfer eingesetzt; wenn die FARC nicht alle Besitztümer angeben, verlieren sie die juristischen Vorteile des Abkommens; 2) „Gender – Ideologie“: Das ganze Abkommen wurde nochmals auf die sogenannte Gender-Ideologie überprüft, hinter der religiöse und konservative Kreise einen Angriff auf die traditionellen Familienwerte sahen; auch die katholische Kirche bestätigte nach der Überprüfung, es gebe keine Gender-Ideologie; den Frauen als vom Konflikt besonders betroffenen Gruppe wird jedoch weiterhin spezielle Beachtung geschenkt; 3) Übergangsjustiz: entgegen der ursprünglichen Version wird es keine ausländischen Richter geben, höchstens ExpertInnen die Empfehlungen abgeben können; die Übergangsjustiz gilt während maximal 10 Jahren, Anträge auf Untersuchungen müssen innerhalb der ersten zwei Jahre gestellt werden; 4) Drogenhandel: Alle Personen, die vor die Übergangsjustiz treten, müssen über ihre Kenntnisse von Drogenhandel Auskunft geben; 5) Verfassungsrang des Abkommens: Das Abkommen wird nicht Teil der Verfassung, sondern es wird einen Übergangsartikel geben, der Staat und Behörden auf die vollständige Umsetzung des Abkommens verpflichtet. Beibehalten wurde, dass die FARC sich an politischen Prozessen beteiligen können, in diesem Punkt wurden die Anliegen der Nein-Fraktion nicht aufgenommen.[1]
Die Regierung hat beschlossen, das neue Abkommen nicht nochmals dem Volk vorzulegen, sondern es durch den Kongress verabschieden zu lassen. Die Regierung erteilte auch der Hoffnung eine Abfuhr, es könnte noch ein drittes Mal nachverhandelt werden. Dieses Abkommen sei das definitiv letzte, damit müsse man nun arbeiten und sich an die Umsetzung machen. Am 29. Und 30. November soll die Debatte im Kongress stattfinden, am Donnerstag 1. Dezember soll dann über das Abkommen abgestimmt werden. Verschiedene Stimmen des Regierungslagers betonten, die VertreterInnen des „Nein“ hätten gar kein Interesse, Zugeständnisse zu machen, sondern wollten das Thema bis zu den Wahlen 2018 weiter köcheln lassen. Daher wurde auch ein Konklave für den Frieden abgesagt, bei der zwischen allen Sektoren ein nationaler Pakt für den Frieden hätte gesucht werden sollen, und wo auch Expräsident Alvaro Uribe teilzunehmen versprach. Uribe und die AnhängerInnen des No sind im Kongress in der Minderheit, weshalb sie den Kampf auf die Strasse tragen wollen, einerseits mit Aktionen von zivilem Ungehorsam, andererseits mit Unterschriften sammeln, damit doch ein Referendum abgehalten werden müsse. Alvaro Uribe wolle sich zwar der Debatte im Kongress stellen, versprach aber auch, dass die „Mutter aller Schlachten“ geschlagen werden müsse gegen dieses Abkommen. Ungewiss ist noch die Haltung des Verfassungsgerichts, ob es die alleinige Zustimmung durch den Kongress akzeptiert, oder nicht doch verlangt, dass das neue Abkommen dem Volk erneut vorgelegt werden muss.[2]
Präsident Santos betonte anlässlich der Unterzeichnung des neuen Friedensabkommens im Teatro Colón, dass es das Resultat eines offenen und ehrlichen Dialogs mit allen gesellschaftlichen Sektoren und das Resultat einer rigorosen Neu-Aushandlung sei. Die Verabschiedung durch den Kongress sei v.a. der grossen Dringlichkeit geschuldet, da der Waffenstillstand immer brüchiger werde. Diese Unsicherheit müsse so schnell wie möglich beendet und die Implementierung des Abkommens gestartet werden. Unmittelbar nach der Verabschiedung durch den Kongress sei der D-Tag, danach würden die FARC beginnen, sich in die transitorischen Aufenthaltszonen zu begeben, 90 Tage später beginne der Prozess der Waffenabgabe. Die GegnerInnen des Abkommens sind weiterhin nicht zufrieden mit dem Abkommen, vor allem mit der Ausgestaltung der Übergangsjustiz und deren Anwendung auf Mitglieder der Streitkräfte, der Auslegung des Drogenhandels als politisches Delikt, und damit, dass Guerilleros die schwere Verbrechen gegangen haben, sich ohne Verbüssung einer Freiheitsstrafe politisch betätigen können. Für die Ex-Präsidentschaftskandidatin Marta Lucia Ramírez sind die Sanktionen gegen die FARC immer noch zu mild und das Abkommen erlange – versteckt – immer noch Verfassungsrang. Ex-Präsident Andrés Pastrana wirft Santos ein antidemokratisches Verhalten vor. Alvaro Uribe betont, dass das neue Abkommen immer noch Straflosigkeit für die FARC garantiere. Die Verbände der Opfer der FARC sind gespalten; einige lehnen das neue Abkommen weiterhin ab, weil ihre Anliegen nicht aufgenommen worden seien, andere stimmen dem nachverhandelten Abkommen als Grundlage für den Aufbau des Friedens zu.[3]
In der Medienberichterstattung untergegangen ist aber ein anderer wichtiger Themenblock, bei dem die VertreterInnen des Neins ebenfalls viele Änderungen beantragten: es geht um die Punkte im 1. Kapitel, über den Agrarsektor, welches fundamental abgeändert wurde.
Rückschritte für die Rechte der KleinbäuerInnen im neuen Abkommen
Das erste Kapitel im Friedensabkommen handelt von der Landwirtschaft, und hätte die Möglichkeit bieten können, die historische Ungerechtigkeit gegenüber den KleinbäuerInnen zu überwinden. Es ist die tragische Erinnerung an viele Jahrzehnte unerfüllter Versprechen und nicht umgesetzter Gesetze, angefangen mit dem Gesetz 200 von 1936 bis zum Gesetz 160 von 1994. Viele gut gemeinte Agrarreformgesetze wurden nicht oder kaum angewandt, andere Initiativen bedeuteten sogar bis heute nachwirkende Rückschritte, wie der Pakt von Chicoral 1972. Das erste Teilabkommen von 2013 legte den Fokus und die Prinzipien fest, nannte aber noch keine konkreten Zahlen und Fristen. Die wichtigsten Themen sind: Zugang zu und Nutzung von Land, Formalisierung des Grundbesitzes, Förderung der kleinbäuerlichen und solidarischen Wirtschaft, Investitionen im Kontext von Vertreibung und Landraub und der Einschluss der KleinbauerInnen in die Grundrechte. Mit dem Schlussabkommen vom August 2016 wurden dann Fristen und Grössenordnungen vereinbart: der Bodenfonds umfasst 3 Mio. Hektaren, formalisiert werden sollen 7 Millionen Hektaren.
Das neue Abkommen weckt einen zwiespältigen Eindruck, v.a. in Bezug auf den Punkt integrale Landreform. Obwohl Uribe und die AnhängerInnen des No nicht mit allen Punkten durchgedrungen sind, wurden doch schwerwiegende Ergänzungen gemacht. So wurde nun explizit festgehalten, dass der Privatbesitz respektiert wird, und dass das Vorgehen bei Enteignung und Besitzrechterlöschung verfassungs- und gesetzmässig sein müsse. Zudem soll die Regierung eine dreiköpfige Expertenkommission einsetzen, um offene Punkte bei der Definition und dem Schutz des Besitzrechtes zu klären. Glücklicherweise wurde das Konzept vom „unwiderlegbaren guten Glauben“ nicht aufgenommen, da dieses Konzept jegliches Landrückgabe- oder Landverteilprogramm praktisch unmöglich gemacht hätte. Der Staat hätte so kaum mehr Instrumente in der Hand gehabt, um gegen die hohe Besitzkonzentration vorzugehen.
Die neue Version des Abkommens ist in Bezug auf die Kleinbauern-, Gemeinschafts- und Familienökonomie wesentlich schlechter. Die ursprüngliche Version des Abkommen legte den Schwerpunkt auf eine integrale ländliche Reform (reforma rural integral). Der neue Vertrag baut stärker auf das Prinzip der integralen ländlichen Entwicklung auf, und verpflichtet sich, die kleinbäuerliche Produktion an andere Produktionsformen mit Skaleneffekten anzubinden sowie die vertragliche Assoziierung zwischen kleinen, mittleren und grossen ProduzentInnen zu fördern. Dies ist aus mehreren Gründen heikel, nicht weil die Assoziierung oder die Markttauglichkeit der KleinproduzentInnen grundsätzlich schlecht wäre, sondern wegen den Tendenzen dieser Politik, die die Assoziierung fördert, ohne die Risiken zwischen kleinen und grossen ProduzentInnen gerecht zu verteilen. Zudem haben die KleinbauerInnen dieses Modell der Produktiven Allianzen schon immer abgelehnt, das v.a. bei Ölpalme, Zuckerrohr, Kautschuk und einigen tropischen Früchten angewendet wurde; und historisch hat der Staat die KleinbauerInnen in den Politiken für den ländlichen Raum nur zweitrangig behandelt.
Das Prinzip der integralen Entwicklung des Landes beruht also auf der Vision der Agroindustrie und marginalisiert die Bedeutung der kleinbäuerlichen Wirtschaft. Dieser Ansatz schwächt die Garantie der Rechte, ein Fokus, der das erste Abkommen auszeichnete: dort heisst es, dass kleinbäuerliche, indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften in der kürzest möglichen Zeit ihre Rechte vollumfänglich ausüben können sollen, und dass die Unterschiede in der Lebensqualität zwischen Stadt und Land beseitigt werden sollen, unter Berücksichtigung der Genderaspekte und der ethischen und kulturellen Diversität.[4] Dieser deutliche Verweis auf assoziative Landwirtschaftsmodelle im neuen Vertrag führt auch schnell zum umstrittenen Modell der ZIDRES, gegen die verschiedene Klagen wegen derer Verfassungsmässigkeit hängig sind. Die ZIDRES und andere assoziative Modelle privilegieren die Agroindustrie für die Entwicklung der Landwirtschaft, weisen der kleinbäuerlichen Wirtschaft nur eine zweitrangige Rolle zu und übergeben die Verantwortung für die Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen wie Bewässerung, Erschliessungsstrassen und technische Beratung an private Dritte, obwohl es staatliche Kernaufgaben sind. Der ersten Version des Friedensabkommens ist zugute zu halten, dass es die historische Forderung der Campesinos aufnahm, damit sie grösseren Protagonismus in den staatlichen Landwirtschaftspolitiken erhalten und diese Politik die Ungleichheit und die Armut auf dem Land effizient angehen sollte. Die nun erfolgten Anpassungen geben wieder ein deutliches Übergewicht den Interessen der GrossgrundbesitzerInnen und der Agroindustrie.
Das erste Kapitel des Friedensabkommens sieht u.a. die Schaffung eines Landfonds (banco de tierras) vor, um Land an Campesinos ohne Bodenbesitz zu verteilen. Dieser Landfonds soll durch staatliches Brachland (baldíos) alimentiert werden. Die Bestrebung, überall im Abkommen den Schutz des Privatbesitzes zu verankern, scheint verhindern zu wollen, dass unrechtmässig angeeignetes Staatsland durch den Staat zurückgewonnen und dem Landfonds zugeführt werden kann; es geht dabei um ca. eine Million Hektaren. Das neue Abkommen umfasst auch eine neue Bestimmung, wonach andere Mechanismen für den Zugang zu Land gefördert werden sollen, wozu die Regierung ein Gesetz erlassen soll. Angedacht sind u.a. Nutzungsrechte (nicht gleichwertig wie Besitzrecht) für kleine und mittlere ProduzentInnen, individuell oder in assoziativer Form. Diese Idee gleicht im Wortlaut stark den ZIDRES, und es scheint, dass trotz Friedensabkommen das Staatsland den Interessen dieser und damit der Agroindustrie dienen soll, und nicht den kleinbäuerlichen Schutzgebiete (Zonas de Reserva Campesina).
Ergänzend zum Friedensabkommen sind aktuell zwei Gesetzesprojekte in Diskussion, die kleinbäuerliche Gemeinschaften allgemein und Landfrauen speziell verstärkt schützen würde. Mit dem ersten Projekt des Senators Alberto Castilla[5] (Kleinbäuerlicher Hintergrund und vom Polo Democrático) würde die Verfassung abgeändert, um die Kleinbauernschaft als politisches Subjekt sowie deren spezielle Verbindung zum Boden zu verankern und ihre Teilhabe an Entscheidungen über die Verwendung der Campesino-Territorien zu garantieren. Die zweite Initiative von drei Parlamentarierinnen will Mindest(prozent)zahlen für die jährliche Zuteilung von Land, Wohnbauprojekten und produktiven Projekten an Frauen festlegen. [6]
[1] Beide Versionen des Abkommens, diejenige vom 24. August 2016 und diejenige vom 12. November 2016, können unter folgendem Link verglichen werden: https://draftable.com/compare/JjypTOknafBktqvc
[2] http://www.elespectador.com/noticias/judicial/ponencia-corte-constitucional-deja-firme-refrendacion-p-articulo-667865
[3] http://www.elespectador.com/noticias/politica/el-necesario-consenso-politico-articulo-665639; http://www.elespectador.com/noticias/paz/estos-son-los-cinco-cambios-mas-importantes-el-acuerdo-video-665623; http://www.elespectador.com/noticias/paz/santos-y-timochenko-firmaran-nuevo-acuerdo-de-paz-el-ju-articulo-666853
[4] Carlos Hernán Montoya Suárez (IPC), Las sorpresas del nuevo Acuerdo de La Habana en el tema agrario. 21. November 2016, in: http://www.ipc.org.co/agenciadeprensa/index.php/2016/11/21/las-sorpresas-del-nuevo-acuerdo-de-la-habana-en-el-tema-agrario/
[5] Vollständiges Projekt hier: http://www.albertocastilla.org/index.php?option=com_content&view=article&id=200:propuesta-para-el-reconocimiento-de-los-derechos-del-campesinado&catid=98:nuestros-proyectos&Itemid=594
[6] El Espectador, Entre Chicoral y La Habana. Una revisión del nuevo acuerdo de paz por expertos en el tema agrario. 20. November 2016, in: http://www.elespectador.com/noticias/nacional/entre-chicoral-y-habana-articulo-666488