Das kolumbianische Friedensabkommen – doch noch auf gutem Weg?

Jul 2, 2020

Von Lisa Alvarado

Das kolumbianische Friedensabkommen zwischen der Regierung und der FARC ist eines der umfangreichsten der Welt, und auch wenn im Moment manchmal das Leid und die Rückschritte Überhand zu nehmen scheinen, zeigt die jährliche Analyse des KROC-Institutes die Wichtigkeit auf, eine langfristige und vergleichende Perspektive einzunehmen. Doch trotz aller Positivität sehen auch sie die anhaltende Gewalt gegen soziale Führungspersonen und die fehlende Sicherheit für ehemalige FARC-Mitglieder als grosses Hindernis auf dem Weg zum Frieden.

Das KROC-Institut erhielt von den Unterzeichnern des Friedensvertrages das Mandat, den Friedensprozess zu begleiten und zu beobachten. Aus diesem Grund veröffentlichen sie jedes Jahr einen Bericht über den aktuellen Stand. So auch diesen Monat den vierten Bericht zur Periode Dezember 2018 bis November 2019. Unser Artikel beruht, wenn nicht anders vermerkt, auf diesem Bericht.
Im aktuellen Bericht geht das Institut darauf ein, wie weit die einzelnen Komponenten des Friedensvertrags fortgeschritten sind. Zudem vergleichen sie die Fortschritte mittels einer Matrix mit 34 anderen Ländern, die seit 1989 Friedensverträge abgeschlossen hatten.
Der Bericht hält in seiner Einführung fest, dass die Unterzeichnung eines Friedensvertrags der Anfang eines Umsetzungsprozesses ist, der die Absprache vieler neuer Akteure erfordert. Es sei normal, dass in dieser Phase Meinungsverschiedenheiten, Beschuldigungen und Reklamationen entstehen, weil die verschiedenen Beteiligten ihren Fokus häufig darauf setzen, wer die gestellten Forderungen erfüllt und wer nicht. Gleichzeitig hat sich im internationalen Vergleich gezeigt, dass die Post-Konflikt-Gesellschaft sich oft politisch polarisiert, wie es auch in Kolumbien der Fall ist. Deshalb besteht in den ersten Jahren nach der Unterzeichnung häufig eine pessimistische Einstellung. Aus diesen Gründen sei ein unabhängiges Monitoring umso wichtiger.

Der Implementierungsrahmen des Friedensvertrags (PMI) unterteilt die einzelnen Ziele, die zu erreichen sind, in kurzfristige (2017-2019), mittelfristige (2020-2022) und langfristige Ziele (2023-2031). In den ersten Jahren hat sich der Prozess also auf die kurzfristigen Ziele konzentriert. Dazu zählen der definitive Waffenstillstand, die Waffenübergabe, die Vorbereitung der institutionellen Friedensstruktur und die Gründung von Plänen und Programmen, die im Vertrag ausgehandelt wurden. In der analysierten Zeit von Dezember 2018 bis November 2019 ist die Implementierung insgesamt um 6% fortgeschritten, was weniger ist als in den Jahren zuvor. Das lässt sich teilweise damit erklären, dass die kurzfristigen Ziele grösstenteils schon erreicht waren und sich der Prozess zeitintensiveren Zielen zuwandte. Diese erfordern eine grössere interinstitutionelle Koordination und intensive Arbeit im ländlichen Raum, die mehr Zeit brauchen. Dies soll von der Regierung aber nicht als Ausrede genutzt werden, um zu verdecken, dass gewisse Punkte des Abkommens sehr wenig fortgeschritten sind.

Die einzelnen Punkte
Beim Punkt 1 „Integrale Landreform“ zeigen sich Fortschritte in den Programmen zur Entwicklung mit territorialem Fokus (PDET) und dem Kataster, die beide direkt im Nationalen Entwicklungsplan (PND) eingebunden sind. Im Rahmen des PDET-Prozesses stellte die Regierung die 16 Aktionspläne für regionale Transformation (PATR) fertig und erstellte den Fahrplan für dessen Umsetzung. Die grosse Herausforderung wird jetzt sein, die Initiativen auf eine partizipative Art umzusetzen, um das Vertrauen zwischen den Gemeinschaften und dem Staat zu stärken. Für den Kataster hat die Regierung einen Kredit von der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank erhalten. Der Rest von Punkt 1 hat im letzten Jahr wenige Fortschritte gemacht.

Die Umsetzung des Punkt 2 „Politische Partizipation“ stellt eine historische Chance dar, in Kolumbien eine integrativere Demokratie zu schaffen. Die aktive und effektive Teilnahme der Zivilgesellschaft sowie derer, die vom bewaffneten Konflikt direkt betroffen sind, verstärkt die Legitimität des Staates und stärkt die Friedenskonsolidierung.
Bei den Verpflichtungen des Staates, welche eine demokratische Öffnung vorsehen, wurden jedoch kaum Fortschritte erzielt. Dazu gehören die speziellen Wahlkreise für besonders vom Konflikt betroffene Gebiete, politische Reformen und die Gewährleistung von Mobilisierung und friedlichem Protest.
Fortschritte wurden bei der Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Ausarbeitung des Nationalen Entwicklungsplans (PND) erzielt, bei Kampagnen zur Förderung der Teilnahme an den Kommunalwahlen 2019 und bei Medienplattformen, die die Stimmen von sozialen Organisationen, Frauen und ethnischen Gemeinschaften einbeziehen.

Beim Punkt 3 „Ende des Konflikts“ gab es klare Fortschritte in der sozioökonomischen Reintegration der Ex-Guerilla. Dieser Prozess steht jetzt in der Transition zur langfristigen Phase. Teile der kurzfristigen Unterstützungen für Personen, die ihre Waffen abgegeben haben, wie der monatliche Grundlohn, liefen im Dezember 2019 aus.
Im Nationalen Reintegrationsrat (CNR) wurde eine beträchtliche Anzahl der einkommensgenerierenden Projekte gutgeheissen. Allerdings umfassten diese Ende 2019 nur 24% der ehemaligen FARC-KämpferInnen. Es wurden zudem nur wenige permanente Lösungen für die Reintegrationszentren gefunden, deren Mietverträge im August 2019 ausgelaufen waren. Dies zeigt einmal mehr die Wichtigkeit des Landzugangs.
Leider zeigte das Jahr 2019 die höchste Todesrate an ehemaligen FARC-Mitgliedern mit 77 Toten, was fast 23 Mal mehr ist als der nationale Durchschnitt. Die Morde an sozialen Führungspersonen und ehemaligen FARC-KämpferInnen hatten zerstörerische Auswirkungen für die Umsetzung des Friedensvertrags und dessen Wahrnehmung. Die Sonderermittlungseinheit (UEI) der Staatsanwaltschaft und das Elitekorps der nationalen Polizei haben bei der Aufklärung dieser Morde zwar Fortschritte gemacht. Die Sicherheits- und Schutzmechanismen in den Punkten 2 und 3 wurden jedoch in fragmentierter Weise umgesetzt. Dazu gehören das Integrierte Sicherheitssystem für die Ausübung der Politik (SISEP) und die sektorenübergreifende Kommission für die rasche Reaktion auf Frühwarnungen (CIPRAT). Schließlich untergrub der Mangel an effektiver Beteiligung der Zivilgesellschaft in der Nationalen Kommission für Sicherheitsgarantien (CNGS) das Vertrauen in deren Fähigkeit, Fortschritte zu erzielen.

Der Punkt 4 „Lösung für das Problem der illegalen Drogen“ war wiederum Quelle von Kontroversen. Das integrale nationale Programm zur Ersetzung der illegalen Pflanzungen (PNIS) zeigte während der ersten Jahreshälfte Rückschritte. Obwohl ab Mai 2019 einige Fortschritte bei den Projekten zur Ernährungssicherheit erzielt wurden, waren es nicht genug, um das zerstörte Vertrauen aufgrund der vorherigen Rückschritte wiedergutzumachen.
Es gibt Räume für den Dialog im Programm – wie etwa die Territorialen Beiräte (CAT)-, die genutzt werden könnten, um Lösungen zu finden und dem Programm Legitimität zu verleihen. Leider gingen die Morde an Teilnehmern und Führern des PNIS weiter, was bei den CAT und in ihren Gemeinden große Angst auslöste. Der Punkt 4 sieht auch eine allgemeine Reform der Anti-Drogenpolitik unter Beteiligung der Zivilgesellschaft vor, die im letzten Jahr begrenzt war. Es besteht die Möglichkeit, sie in die Planung von regionalen Treffen zu diesem Thema einzubeziehen, was bisher aber noch nicht stattgefunden hat.

Zum Punkt 5 „Abkommen für die Opfer des Konflikts“ gab es die grössten Fortschritte während der analysierten Periode. Dies hauptsächlich, weil die Einheiten des Integralen Systems für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nicht-Wiederholung (SIVJRNR) jetzt in Betrieb sind. Damit es dazu kommen konnte war die internationale Unterstützung sehr wichtig. Das SIVJRNR kam auch in seinem territorialen Einsatz voran und führte breite Beteiligungsprozesse für Opfer, insbesondere für Frauen, Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT) und ethnische Gemeinschaften, was ihm aus Sicht dieser Gruppen Legitimität verlieh. Um weiterhin Fortschritte bei der Erfüllung ihres Mandats zu erzielen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass diejenigen, die der FARC-EP angehörten, rechtzeitig die volle Wahrheit beitragen. Darüber hinaus war eine der größten Hürden, die zu diesem Zeitpunkt überwunden werden musste, die Koordination mit dem Nationalen System für umfassende Betreuung und Wiedergutmachung für Opfer (SNARIV), insbesondere auf territorialer Ebene. Es muss aber auch gesagt werden, dass die kollektiven Wiedergutmachungsprozesse nur geringe Fortschritte machten. Es ist wichtig, dass ihrer Umsetzung Priorität eingeräumt wird.

Der Punkt 6 „Umsetzung, Verifizierung und Billigung“ schliesslich ist essentiell um konstruktive Dialoge zu schaffen und Konflikte zwischen den Parteien zu lösen während der Umsetzungsphase des Friedensabkommens. Tatsächlich weisen Friedensprozesse, die solche Mechanismen beinhalten, weltweit eine 40% höhere Umsetzungsrate auf als solche, die dies nicht tun. Obwohl viele Bestimmungen dieses Punktes bereits zu einem früheren Zeitpunkt abgeschlossen worden waren, wie z.B. die Billigung des Abkommens und die Schaffung der Kommission für Folgemaßnahmen, Umsetzung und Überprüfung (CSIVI), waren die Fortschritte in diesem Punkt im Jahr 2019 minimal. Während des gesamten dritten Jahres der Durchführung wurde die CSIVI bloss genutzt, um einen Konsens in technischen Fragen zu erzielen, Vereinbarungen über wichtige Fragen wurden jedoch keine erzielt, wie z.B. die legislative Agenda und die Sicherheit der Ex-FARC und ihrer Familien. Obwohl die Kommission nicht einberufen wurde, hat sie immer noch das Potential, Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Kommission anzusprechen. Und schließlich kann sich die CSIVI nun, da die Umsetzung in den Regionen vertieft wird, auf die Einrichtung ihrer territorialen Kommissionen konzentrieren.

Das KROC-Institut kommt zum Schluss, dass das kolumbianische Friedensabkommen vielleicht das umfassendste der Welt ist und mehr als ein Jahrzehnt zur vollständigen Umsetzung benötigen wird. Im dritten Jahr ihres Bestehens ermöglichte die von der Regierung vorgenommene Prioritätensetzung wichtige Fortschritte in einigen Fragen. Diese Fortschritte standen jedoch nicht immer im Einklang mit der Integralität des Abkommens. Es besteht daher die Gefahr, dass die erzielten Erfolge gefährdet werden und das bereits aufgebaute Vertrauen verloren geht, wenn das volle Transformationspotenzial nicht ausgeschöpft wird. Das Ziel für diese und die nächsten Regierungen sollte es deshalb sein, die bereits begonnenen Prozesse zu vertiefen und mit der Umsetzung der noch nicht begonnenen zu beginnen, insbesondere auf dem Land.
Der Bericht zeigt, wie wichtig das Vertrauen und die Unterstützung der Zivilbevölkerung für das Gelingen des Prozesses sind und welch grossen Einfluss deshalb die fehlende Sicherheit und bestehende Gewalt auf den Erfolg haben.

 

Hier noch ein Video, wie das Monitoring des KROC-Instituts in Kolumbien funktioniert: https://www.youtube.com/watch?v=TUJ8NxXoEzU&feature=youtu.be