Einblicke in die Realität der Kokabäuerinnen und wie ihr Einbezug in die Politikformulierung Verbesserungen bringen würde
Von Stephan Suhner
Frauen in ländlichen Gemeinschaften stehen auf Grund von Gender-Stereotypen und der Diskriminierung grossen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen gegenüber, die verhindern, dass Frauen gleichwertigen Zugang zu Ressourcen, Chancen und Dienstleistungen haben. Ihre Arbeit bei der Kindererziehung, im Haushalt und bei der Ernährungssicherheit wird häufig nicht anerkannt. Die kulturellen Barrieren, denen sich Frauen häufig ausgesetzt sehen, verhindern auch, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen und dass sie bei der Entscheidungsfindung einbezogen werden. So sind ihre Rechte auf Zugang zu Land oder die Bezahlung ihrer Arbeit häufig nicht garantiert. Frauen in ländlichen Gebieten, die Koka oder Schlafmohn anbauen, erleiden eine noch stärkere Stigmatisierung weil sie ihr Einkommen aus einer strafbaren Handlung erzielen. Da diese Gebiete mit illegalen Pflanzungen häufig auch höhere Gewaltniveaus aufweisen, sind die Frauen noch verletzlicher. Noch weiss man wenig über die Lebenswelt der Frauen in Drogenanbaugebieten, über ihre Rollen und Aufgaben, über den Beitrag an den Lebensunterhalt der Familien, über die Möglichkeiten alternativer Entwicklung und den Einbezug der Frauen in Organisationsprozesse und Entscheidungsfindungen, gerade auch wenn es um die Substitution der illegalen Pflanzungen geht. Um mehr Einblick in die Realität der Koka- und Schlafmohnbäuerinnen zu erhalten, organisierte die Corporación Humanas einen Austausch zwischen 16 Kleinbäuerinnen aus Peru, Bolivien, Kolumbien und Mexiko.[1]
Grundsätzlich unterscheiden sich die Arbeit und die Aufgaben der Kleinbäuerinnen in Drogenanbaugebieten nicht grundsätzlich von denen anderer Kleinbäuerinnen. Häufig haben sie einen dreifachen Arbeitstag: Auf dem Feld, im Haushalt und in einer sozialen oder politischen Organisation. Ein Grossteil dieser Arbeit ist nicht bezahlt und fördert das Machtgefälle und die Ungleichheit zu den Männern und beschränkt ihre Rechte auf Bildung, Erholung etc. Bei normaler Feldarbeit wird die Arbeit der Frauen nicht bezahlt. Frauen, die in Koka- oder Schlafmohnpflanzungen arbeiten, werden in der Regel aber für diese Arbeiten bezahlt. Auch in Kokaanbaugebieten ist der Zugang für Frauen zu Land aber schwierig, insbesondere für ledige oder geschiedene Frauen. Selbst wo Landbesitz für Frauen gesetzlich geregelt ist, oder das Land beiden Partnern gehört, verhindert der Machismo den effektiven Zugang zu Land.
Koka wird entweder angebaut, weil es traditionellerweise als Medizin und Konsummittel verwendet wird, wie in Bolivien und Peru, oder eher aus wirtschaftlichen Gründen wie in Kolumbien. Insbesondere in Kolumbien ermöglicht der Kokaanbau den Kleinbauern und Kleinbäuerinnen den Zugang zum Markt und bietet insbesondere Frauen Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten, die sie sonst nicht hätten. Der Anbau von Koka ist oft die einzige Möglichkeit, ein eigenes Einkommen zu erzielen, da andere Arbeiten in Haus und Hof in der Regel nicht entlohnt werden. Dabei führen die Frauen sämtliche Arbeiten des Kokaanbaus aus, vom Anbau über Unkraut- und Schädlingsbekämpfung bis zur Ernte der Blätter. Die häufigen Ernten, die konstante Nachfrage nach den Blättern und die Tatsache, dass die Ankäufer bis zur Finca kommen, ermöglicht es den Frauen, das ganze Jahr über ein Einkommen zu erzielen. Dieses Einkommen verwenden die Frauen üblicherweise für den Einkauf von Gütern des täglichen Bedarfs, für Gesundheitskosten und für die Ausbildung der Kinder: Das regelmässige Einkommen aus dem Kokaanbau ermöglicht den Frauen auch Zugang zu lokalen Kreditsystemen, meistens über lokale Ladenbesitzer. Das Einkommen aus dem Kokaanbau und die Möglichkeit, Geld leihen zu können, hat den Frauen wirtschaftliche Autonomie und die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen ermöglicht. Gerade für alleinerziehende Frauen ist Koka oft die einzige Chance, vorwärts zu kommen und den Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Trotz dieses Einkommens sind die Kokabäuerinnen aber nicht reich, da sie häufig in abgelegenen und marginalisierten Gegenden leben, ohne Dienstleistungen und staatliche Investitionen, unter Armut und Exklusion. Die am Austausch beteiligten Frauen berichten von inexistenten Strassen, fehlender Ausrüstung in den Schulen, verlassenen Gesundheitsposten und mangelnder Trinkwasser- und Abwasserversorgung. Der Vorteil, ein regelmässiges Einkommen mit der Koka erzielen zu können, wird häufig durch die Gewalt in den Anbauregionen, die Willkür der bewaffneten illegalen Gruppen und die mangelnde Formalisierung des Landbesitzes wieder aufgewogen.
Die Frauen berichteten auch über ihre eher enttäuschenden Erfahrungen mit den Programmen alternativer Entwicklung um Koka zu ersetzen, die weniger auf eine integrale ländliche Entwicklung und eine Verbesserung der Lebensumstände abzielen, sondern vielmehr auf einen raschen Ersatz der illegalen Pflanzungen. Der Einbezug der lokalen Bevölkerung und insbesondere der Frauen ist ungenügend und sie haben das Gefühl, dass ihre Erfahrungen nicht wertgeschätzt werden. Wo es starke soziale Organisationen gibt und wo auch die Frauen daran teilnehmen, ist die Situation besser, aber vielfach richten sich alternative Entwicklungsprogramme an den Landbesitzer, also den Mann. Häufig fehlen Studien über die soziale Realität, über die Eignung des Bodens und über Vermarktungsmöglichkeiten legaler landwirtschaftlicher Produkte. Das aus dem Friedensabkommen mit den FARC entstandene Programm zur integralen Substitution von Pflanzen mit illegaler Verwendung PNIS setzt auf Partizipation und achtet auf eine angemessen Teilnahme der Frauen und wurde von den am Austausch beteiligten Frauen grundsätzlich als Ansatz positiv erwähnt, aber es wird beklagt, dass die Regierung die Abmachungen nicht einhält. Ebenso beklagten die Frauen, dass die Vorschläge zur alternativen Entwicklung nie legale, nicht psychoaktive Verwendungen des Kokablattes als Lebens- oder Heilmittel mit einbeziehen, das den Frauen in der Verarbeitung des Blattes neue Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten bieten und auch das Problem der Vermarktung entschärfen könnte.
Wie schon erwähnt ist die Gewalt in Drogenanbaugebieten ein grosses Problem, und insbesondere die Frauen sind den verschiedenen Gewaltformen ausgesetzt. Es kommt zu gewaltsamen Vertreibungen, Landraub, Morden, Rekrutierung der Kinder und sexueller Gewalt. Auch ist die intrafamiliäre Gewalt in Drogenanbaugebieten höher, da Männer ihre Einnahmen häufig für Alkohol verwenden und mehr Waffen zirkulieren. Ein grosses Problem stellt für die Frauen auch die gewaltsame Ausrottung oder die Besprühung der Drogenpflanzungen aus der Luft dar, da es die lokale Ökonomie, das Familienbudget und die Ernährungssicherheit unmittelbar beeinträchtigt. Die Besprühung mit Glyphosat bedeutet für die Frauen häufig der Verlust ihrer einzigen Einkommensquelle, stellt die Familie vor grosse Probleme und schränkt den gewonnenen Spielraum der Frauen wieder ein. Im Austausch wurde aber ebenfalls auf die Fähigkeit der Frauen für den Widerstand und die Resilienz gegenüber den Gewaltphänomenen und den sozioökonomischen Schwierigkeiten hingewiesen, z.B. auf Formen des gemeinschaftlichen Selbstschutzes (autoprotección).
Der Bericht der Corporación Humanas über das Austauschtreffen der Koka- und Schlafmohnbäuerinnen schliesst mit ein paar allgemeinen Bemerkungen und Empfehlungen. Die staatliche Politik gegenüber Drogenanbaugebieten sollte die Realität der dort lebenden Bevölkerung einbeziehen, und das Ziel nicht allein auf die Reduktion des Betäubungsmittelkonsums zu fokussieren. Zukünftige Drogenpolitikprogramme sollten die Erfahrungen, Realitäten und Fähigkeiten der Frauen in Drogenanbaugebieten einbeziehen und nicht nur auf die Verletzlichkeit der Frauen Rücksicht nehmen, sondern sie als Subjekte der Veränderung wahrnehmen und ihr Wissen und ihr Engagement in den Gemeinschaften nutzen. Auch sollte der Wichtigkeit der Einkommen aus dem Anbau von Drogen für die Frauen und für die Versorgung der Familie Rechnung getragen werden und dies bei der Formulierung von Substitutionspolitiken und alternativer Entwicklung berücksichtigt werden, damit die Grundbedürfnisse der Familien immer gedeckt werden können. Der Leadership der Frauen in diesen Gegenden sollte gefördert werden und ihre Kenntnisse und Fähigkeiten aktiv genutzt werden. Stereotype Geschlechterrollen und die systematische Benachteiligung der Frauen in vielen Bereichen müssen auch bei der Formulierung und Implementierung der Drogenpolitik angegangen werden. Nicht zuletzt muss der Zugang der Frauen zu Land, Krediten und technischer Unterstützung verbessert werden.
[1] https://www.humanas.org.co/alfa/10_425_Lanzamiento-de-la-publicacion–Politicas-y-programas-de-drogas-con-base-en-la-realidad-y-la-agencia-de-las-mujeres-que-cultivan-coca-y-amapola.html