Weder Koka noch Dissidenzen tragen die alleinige Verantwortung
Von Lisa Alvarado
Fast jede Woche wurden letztes Jahr ehemalige FARC Mitglieder beerdigt. Seit Unterzeichnung des Friedensabkommens 2016 bis Ende 2020 wurden 250 Ex-FARC KämpferInnen ermordet. Die Morde haben auch nicht aufgehört, nachdem eine Delegation von Ex-FARC Mitgliedern nach Bogotá marschiert ist, um mit Duque über ihre Sicherheit zu diskutieren. Die Regierung sucht die Schuld gerne beim Kokaanbau bzw. Drogenhandel sowie Auseinandersetzungen mit dissidenten Gruppen. Laut einer Reportage von Cerosetenta braucht es aber eine genauere Analyse der Situation, um die Ursachen für die Mordwelle genau zu verstehen.
Wer wurde getötet?
Die Mehrheit der Ermordeten waren Mestizos (82%), zwischen 25 und 44 Jahre alt (71%) und ihre Schulbildung dauerte nur bis zum Vorschulalter (66%). Die grosse Mehrheit war nicht in einem produktiven Projekt integriert, um Geld zu verdienen. Nur 7 Personen hatten ein individuelles Projekt, 11 waren in einem kollektiven Projekt.
Fast alle (96%) wurden mit Schüssen getötet, und zwar ausserhalb der ETCR (Übergangszonen), wo sie ihre Waffen abgegeben hatten. Mehr als die Hälfte aller Opfer wurde an öffentlichen Orten wie in Läden, Bars und Parks ermordet, und hauptsächlich in ländlichen Gebieten.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass 69 von den 150 Mordopfern vorher im Gefängnis waren und dank einer Begnadigung aufgrund des Friedensabkommens freigekommen sind. 60% davon wurde über ein Jahr später umgebracht, nachdem sie aus dem Gefängnis kamen, und es ist nicht klar ob der Aufenthalt im Gefängnis und die Beziehungen, die dort geknüpft wurden, mit den Morden in Verbindung steht.
Die Gewalt gegen die Ex-Guerilleros ist recht fokussiert. Über die Hälfte der Morde wurde in bloss 20 Gemeinden verübt, während die Ex-Guerilleros auf insgesamt 565 Gemeinden verteilt leben. Die höchste Konzentration von Morden findet sich in den Regionen Norte del Cauca, Uribe-Yarí-Guayabero und Catatumbo. Wenn man die Karte genau betrachtet fällt auf, dass der Drogenhandel allein nicht alles erklären kann.
Die Schuld liegt nicht nur bei der Koka
Das offizielle Narrativ der Regierung, aber auch der Spezialuntersuchungsbehörde für Morde an Ex-Guerilleros der Staatsanwaltschaft (UEI), besagt dass der Drogenhandel und die angebliche Verwicklung der Ex-FARC darin die Morde erkläre. «Es ist offensichtlich, dass diese schlimmen Konsequenzen [Morde] aufgrund des Konflikts über illegale Einnahmen (Drogenhandel und Erpressung) entstehen», sagte die UEI im Mai 2020. Auch während der Anhörung, welche die JEP im November 2020 zur Evaluation der Schutzmechanismen für Ex-Guerilleros abhielt, unterstützten sowohl die Regierung wie auch die Staatsanwaltschaft dieses Argument.
Aber die Evidenz zeigt, dass der Drogenhandel oder das Begehren, diesen zu kontrollieren, das Mordphänomen nicht vollständig erklärt. Zum Beispiel hat die UIA (Untersuchungs- und Anklageeinheit der JEP) rausgefunden, dass in über der Hälfte (63%) der Gemeinden, wo Koka angebaut wird, keine Ex-FARC Mitglieder ermordet wurden. Die Tatsache, dass in 70% der Gemeinden, wo Morde passierten, Koka angebaut wird, zeigt zwar, dass der Drogenhandel ein wichtiger Faktor ist, aber nicht der einzige, da ja in den restlichen 30% der Mordgemeinden keine Koka angebaut wird. Somit ist es zu einfach zu sagen, dass der Drogenhandel der einzige Grund für die Morde ist. Auch die Aussage, dass die Dissidenzen für den Rest verantwortlich sind, hält nicht wirklich.
Die Rolle der Dissidenzen
Die Nachforschungen der UEI deuten darauf hin, dass Stand Mai 2020 die FARC-Dissidenzen für fast die Hälfte der Morde (49%) verantwortlich sind. Danach kommen der Clan del Golfo oder AGC (15.6%), die ELN (11.7%), die Pelusos oder Dissidenzen des EPL (10.7%) und andere illegale Gruppen (13%). Das Problem mit dieser Kategorisierung der Verantwortlichen ist, dass wenn von Dissidenzen gesprochen wird, dies wie eine einzige kriminelle Organisation dargestellt wird, ohne Unterscheidungen zwischen Kommandostrukturen, territorialer Kontrolle oder deren Beziehung zur Zivilbevölkerung zu machen. Dies sind aber alles wichtige Variablen.
Die Stiftung CORE hat im Jahr 2020 29 verschiedene dissidente Gruppen der FARC identifiziert, welche grob in drei Kategorien unterteilt werden können: Diejenigen, die durch Gentil Duarte koordiniert werden, Untergruppen der Segunda Marquetalia (Dissidenz von Iván Márquez und Jesús Santrich) und autonome Dissidenzen. Inwiefern sich die Dissidenzen unter Gentil Duarte koordinieren ist dabei unklar.
Anstatt alle Dissidenzen in einen Topf zu werfen wäre es also hilfreich zu wissen, welche Untergruppen genau verantwortlich für welche Morde sind, um zukünftige Mordfälle zu verhindern.
Strategische Konflikte
Von den 250 Ermordeten führten 21% politische, wirtschaftliche oder gemeinschaftliche Projekte, die mit dem Friedensabkommen in Verbindung stehen. Dies ist die Haupthypothese, weshalb sie getötet wurden. Dabei hatten diese Personen nicht unbedingt hohe Ränge innerhalb der Guerilla inne, sondern nahmen erst während des zivilen Lebens Führungsrollen ein. Die Mehrheit dieser politisch aktiven Ex-Guerilleros wurde im Nordosten von Antioquia, im Süden Cordobas und im Norden des Caquetá ermordet.
Eine weitere Erkenntnis zeigt, dass eine bedeutende Anzahl Morde in ehemaligen Rückzugsgebieten des Ost-, Süd- und Westblocks der FARC begangen wurden, wo ein Streit zwischen verschiedenen Dissidentengruppen um diese strategischen Standpunkte stattfindet. Konkret sind dies der Norden des Caquetá, das Departement Nariño und das Dreieck zwischen der Bota caucana (Zipfel rechts unten auf Karte des Departements), Süden des Caquetá und mittlerer und südlicher Putumayo.
In diesen Rückzugsgebieten wurden 91 Ex-Guerilleros umgebracht. Die Mehrheit davon waren junge Erwachsene zwischen 18 und 34 Jahren mit einer starken Verwurzelung in der Region. Das heisst, sie wuchsen auf und lebten in den Gemeinden, in denen sie umgebracht wurden. Dabei ist nicht klar, ob sie auch während des Krieges in diesen Gemeinden waren. In diesen Regionen gibt es bewaffneten Widerstand gegen die Umsetzung des Friedensabkommens sowie einen offensichtlichen Bedarf, Leute mit Geschick und vorgängiger militärischer Erfahrung zu rekrutieren.
Eine letzte, wenig erforschte Hypothese bezieht sich auf das Territorium des ehemaligen Westblocks, welches dissidente Gruppen erobern wollen und verhindern wollen, dass Ex-Guerilleros Informationen über dessen genaue Lokalität sowie Zugangsmöglichkeiten freigeben.
Land und Macht
Meta ist eines der Departemente, wo die FARC am meisten Land beansprucht und dann mit dem Friedensabkommen zurückgegeben hatten. An der Grenze zwischen Meta, Caquetá und Guaviare haben die Dissidenzen, die von Gentil Duarte kommandiert werden, eine Enklave etabliert und machen sich die gesetzliche Unsicherheit über dieses Land zu Nutze, indem sie heimlich Strassen bauen, welche ihre strategischen Korridore erweitern und Abholzung und den Anbau von Koka ermöglichen. Häufig werden diese abgeholzten Flächen auch an Viehhalter verpachtet oder verkauft, lukrative Geschäfte, die auch politische Macht mit sich bringen. Die Dissidenzen treiben zudem auch eine Steuer für den Verkauf von Ländereien ein. «Gentil Duarte ist einer der Ex-Kommandanten der FARC mit den meisten Ländereien in seinem Besitz in denjenigen Gemeinden, wo auch Ex-FARC Mitglieder umgebracht wurden.» Dies steht im Bericht der UIA.
Beispielsweise hat die Staatsanwaltschaft in San José del Guaviare eine Finca von 50 ha und über 500 Stück Vieh in Caño Angoleta registriert, die von den illegalen Pachtzinsen der ‘Ersten Front’ profitiert, die von Iván Mordisco befehligt wird. In La Catalina, einem Weiler in La Macarena, besitzt Duarte mehrere Fincas am Guayabero-Fluss und an der Strasse nach Puerto Chicamo, alle im Namen verschiedener Hintermänner. Auch in Vistahermosa, Meta gibt es Fincas, die unter dem Besitz der ‘siebten Front’ laufen, und somit Duarte gehören.
Diese Verbindungen zwischen einflussreichen Kommandanten, lokalen Grossgrundbesitzern, Abholzung und territorialen Ansprüchen ist ein Thema, dessen Weiterverfolgung sich lohnen würde, den Umfang dieses Artikels aber sprengen würde. Auf jeden Fall erinnert es an bereits erforschte Beziehungen zwischen Paramilitärs, Politik und Landbesitzern.
Aus dieser Analyse zieht der Artikel von Cerosetenta den Schluss, dass die Morde an Ex-FARC Mitgliedern ein ziemlich komplexes Thema mit vielfältigen Ursachen und Faktoren sind, einschliesslich illegaler Ökonomien, Landkonflikte, Auseinandersetzungen zwischen illegalen bewaffneten Gruppen und Racheakten. Solange also die Regierung weiterhin den Drogenhandel als einzigen Grund für diese Situation (und alle weiteren Sicherheitsprobleme des Landes) sieht, werden die Beerdigungen von ermordeten Ex-Guerrilleros Teil des Bildes bleiben.