Wie erreicht Kolumbien den totalen Frieden? 

Okt 1, 2022

Von Stephan Suhner

Eines der grossen Ziele der Regierung von Gustavo Petro ist es, den totalen Frieden zu erreichen. Die „paz total“ ist in diesem Konzept viel mehr als das Schweigen aller Waffen oder Sicherheit für alle Bewohner des Landes. Es beutet auch Sicherheit vor Hunger und Armut oder Bewältigung der Umwelt- und Klimakrise. Das war auch eine der Kernaussagen von Petro an der UNO Vollversammlung: es gibt keinen totalen Frieden ohne soziale, wirtschaftliche und Umweltgerechtigkeit. Im Endeffekt strebt Petro als Vision einen totalen Frieden an, der auch den Drogenkrieg beendet und die Klimakrise überwindet, um letztlich die Spezies Mensch zu retten. Deshalb auch sein Appell, die Abhängigkeit von Erdöl und Kohle zu reduzieren und den Amazonas zu retten. Der Aufbau eines Entwicklungsplanes in 50 partizipativen Dialogen in den (gewaltgeprägten) Regionen ist ein wesentlicher Baustein dieses Planes.

In Bezug auf das ELN gibt es hoffnungsvolle erste Signale, wie die Willensbekundungen beim Treffen des Friedensbeauftragten Danilo Rueda mit der Verhandlungsdelegation des ELN in Kuba und die Zusicherung der Unterstützung seitens Venezuelas. Gleichzeitig bestehen die sozialen Konflikte fort, gibt es Drohungen von Grossgrundbesitzern, sich bewaffnet gegen die Landreform zu wehren und auch die lokalen Machtkämpfe bewaffneter illegaler Gruppen gehen unvermindert weiter. In den ersten paar Wochen der neuen Regierung kam es schon zu neun Massakern und acht Morden an sozialen Führungspersonen sowie zu Angriffen auf das Sicherheitsschema von Präsident Petro. Im Cauca kam es zu Konflikten zwischen Indigenen und Afrokolumbianerinnen und Spannungen wegen Landbesetzungen durch Indigene im Norden des Departements.

Selbst wenn das Friedensabkommen mit den FARC wortgetreu umgesetzt und ein Abkommen mit dem ELN getroffen werden könnte, würde das noch nicht das Ende von Gewalt und Konflikten bedeuten, wie Beispiele aus Ländern wie Mexiko, El Salvador oder Brasilien zeigen, die keine offiziellen Konflikte, aber hohe Gewaltniveaus haben. Es geht also auch darum, dass der kolumbianische Staat seine Fähigkeiten erhöht, Sicherheit für die Bürger zu gewährleisten, wozu es nicht nur mehr Sicherheitspersonal braucht, sondern auch eine neue Qualität des Staates, v.a. in den von Gewalt am meisten betroffenen Gebieten. Dazu sollte der Staat auf lokale Regierungsformen wie afrokolumbianische Gemeinderäte, indigene Cabildos oder z.B. die Quartierversammlungen (Juntas de Acción Comunal JAC) abstellen. Zudem brauch es strategische Intelligenz, um bewaffnete Gruppen und organisiertes Verbrechen aufzulösen, sei dies über Verhandlungen, Unterwerfung unter die Justiz oder andere Instrumente.

Ein wichtiges Konzept von Petro ist die menschliche Sicherheit. Das Konzept steht, aber noch fehlt eine klare Strategie, wie der soziale Dialog, die Reform der Sicherheitskräfte, die regionalen humanitären Dialoge und eine neue Drogenpolitik zusammenspielen sollen. Jeder Friedensprozess hat die Gewalt – zumindest vorübergehend – reduziert. Aber der Krieg in Kolumbien hat eine erstaunliche Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden, sei es wegen den sozialen Ungerechtigkeiten, sei es wegen den Anreizen der illegalen Ökonomien.

Auch die Verhandlungen mit dem ELN brauchen eine klare Roadmap, zumal das ELN in jeder der vier Regionen wo es operiert anders aufgestellt ist. Die Regierung hat aber schon sehr früh die Bereitschaft zu weitreichenden  Zusagen wie ein Waffenstillstand oder ein Verzicht auf Auslieferungen signalisiert, ohne dass das ELN bis jetzt vergleichbare Angebote gemacht hätte. Vertrauensbildende Massnahmen funktionieren nur bei Gegenseitigkeit. In Arauca und im Catatumbo ist das ELN nach Ansicht von Experten zudem militärisch so gestärkt, dass wenig Bereitschaft zur Waffenabgabe und Demobilisierung bestehe, ohne dass die Regierung den militärischen Druck erhöhe.

Noch komplexer ist die Frage der Unterwerfung unter die Justiz der kriminellen Gruppen. Zum Beispiel gibt es nur wenige klare Informationen was der Clan del Golfo ist und wie er funktioniert. Nur schon die unterschiedlichen Bezeichnungen zeigen das Problem, denn die Regierung nennt sie Autodefensas Gaitanistas, was eine politische Dimension impliziert. Fragen stellen sich auch dazu, wie das Zusammenspiel von grossen bewaffneten kriminellen Gruppen mit lokalen Banden und Gruppen ist und wie weit Abkommen respektiert würden, respektive wie gross die Gefahr einer Zersplitterung in kleine Dissidenzen wäre, was weiterhin zu einem inkompletten Frieden führen würde. Verschiedene Nachfolgeorganisationen der Paramilitärs der AUC und Drogenbanden wie der Clan del Golfo, die Rastrojos oder die Caparrapos haben der neuen Regierung einen Brief geschickt in dem sie im Gegenzug zu juristischen Vorteilen ihre Entwaffnung und Unterstützung bei Wahrheit und Gerechtigkeit offerieren. Viele bewaffnete Gruppen haben heute keine ideologische Agenda, aber haben trotzdem Verbindungen in die Politik und üben Kontrolle und lokale „Regierungsfunktionen“ aus oder übernehmen staatliche Funktionen. Die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Dimensionen all dieser bewaffneten Akteure klar zu haben und die Unterschiede zwischen kriminellen Banden und Aufständischen zu begreifen, ist gar nicht so einfach, da es sehr viele Grautöne gibt.

Der Vorschlag Petros besteht in einer kollektiven Unterwerfung unter die Justiz, was grössere Garantien für die Opfer verspricht und Prinzipien wie Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung enthält. U.a. scheint vorgesehen, dass die Mitglieder der illegalen bewaffneten Gruppen, die sich der Justiz unterwerfen, maximal acht Jahre Haft verbüssen müssen, dass mit den Gütern und Vermögen dieser Gruppen Wiedergutmachung geleistet würde und dass ein neu zu schaffendes Justizorgan über die Mitglieder der Banden nachforscht und diese aburteilt. Im Detail stellen sich aber viele Fragen: zum Beispiel operieren die verschiedenen Gruppen je nach Territorium ganz unterschiedlich; auch bei kriminellen Gruppen, wo der Anführer territoriale Kontrolle hat und Befehle bei der Truppe durchsetzen kann, gibt es keine Garantie, dass die Unterwerfung des Kommandanten die ganze Gruppe auflöst. Individuelle Motivationen können dazu führen, dass Teile weitermachen, v.a. wenn die Motivation wirtschaftlicher Natur ist. Daher muss ein starkes Augenmerk auf die „Arbeitskräfte“ der kriminellen Gruppen gelegt werden. Wenn gewisse wirtschaftliche Anreize, z.B. Schmuggel und Drogenhandel, reduziert werden könnten, wäre es hilfreich.

Auch lokale Mediationsprozesse können effektiv sein, um die komplexen Motivationen der Jugendlichen im Konflikt zu verändern. Dazu braucht es aber die Mitwirkung von Mitgliedern der Zivilgesellschaft die den Zugang zu den Jugendlichen finden, oder z.B. von der Kirche, wie in den 90er Jahren in Medellín mit Programmen wie „No matarás“. Besonders effektiv sind solche Mediations- oder Dialogprozesse, wenn sie von sozioökonomischen Alternativen für die Jugendlichen und Kämpfer/Mitglieder begleitet werden. Das benötigt bedeutende finanzielle Ressourcen über die Zeit und Begleitung durch die lokalen Gemeinschaften. Ein weiteres potentielles Risiko besteht darin, dass Verhandlungsprozesse die bewaffneten Akteure politisieren können und ihr Vorgehen raffinierter und ihre Macht grösser wird, wenn es nicht Gegengewichte und klare Sanktionen bei Regelverstössen gibt. Geschickt aufgegleist, kann dieser Machtzuwachs aber auch für den Friedensaufbau transformiert werden.

Quellen:
La Paz Total, un cambio de paradigma (lasillavacia.com)

La “paz total” de Petro: ¿posible o ilusoria? | Razón Pública (razonpublica.com)

Los dilemas de la paz total | Fundación Razón Pública (razonpublica.com)

Así sería la “Paz total” propuesta por Gustavo Petro: miembros de grupos armados pagarían un máximo de 8 años por sometimiento a la justicia colombiana – Infobae