Wichtige Schritte auf dem Weg der Wahrheit

Jan 31, 2022

Von Lisa Alvarado

Beim Punkt 5 des Friedensabkommens geht es um die Opfer des Konflikts und wie diese gerecht entschädigt werden können. Dabei geht es vor allem um Wahrheit, aber auch um Gerechtigkeit und Wiedergutmachung sowie um die Garantie der Nicht-Wiederholung. Dazu wurde ein Gerüst (SIVJRNR) von drei Entitäten entwickelt, welche in diesem Artikel näher beleuchtet werden sollen. Der Fokus liegt dabei, wie auch in den anderen Artikeln dieser Serie, auf dem aktuellen Stand der Umsetzung.

Die drei Hauptentitäten für die Umsetzung des Punkt 5 des Friedensabkommens sind die Wahrheitskommission (CEV), die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) und die Spezialeinheit für die Suche nach Verschwundenen (UBPD).

Wahrheitskommission – CEV

Die Wahrheitskommission, welche zum Ziel hat, möglichst viele Zeugenaussagen von vom Konflikt Betroffenen zu sammeln und damit einen Bericht zu schreiben, hätte eigentlich ihre Arbeit im November 2021 abschliessen sollen. Da es aufgrund der Pandemie aber sehr schwierig gewesen war, überall hinzureisen und die Aussagen einzusammeln, entschied das Verfassungsgericht, das Mandat der CEV für neun Monate zu verlängern. Somit muss der Schlussbericht bis am 27. Juni 2022 fertiggestellt sein, und danach noch während zwei Monaten verbreitet werden.

Zu den wichtigsten Ereignissen in der Wahrheitskommission im letzten Jahr zählen die Aussagen der vier Ex-Präsidenten Santos, Uribe, Pastrana und Samper. Während Santos die Ernsthaftigkeit der aussergerichtlichen Hinrichtungen anerkannt hat, die während seiner Zeit als Verteidigungsminister unter Uribe geschehen waren, und bei den betroffenen Familien um Entschuldigung gebeten hat, benutzten Uribe und Pastrana ihre Aussagen eher als politische Bühnen (für Uribe siehe Apropos im Newsletter Nr. 616).

Weiter leisteten ehemalige Paramilitär und FARC-Mitglieder wie Salvatore Mancuso und Rodrigo Londoño ihren Beitrag zur Wahrheitsfindung in öffentlichen Dialogen mit Francisco de Roux, dem Präsidenten der Wahrheitskommission. Mancuso sagte dabei aus, dass die AUC (Autodefensas Unidas de Colombia) in Komplizenschaft mit dem Staat gewachsen seien und Londoño gab zu, dass die Angriffe der FARC auf Polizei- und Militärposten ein grosser Fehler gewesen sei, da hauptsächlich die Zivilbevölkerung davon betroffen gewesen war. Am 23. Juni haben ehemalig hohe Mitglieder des FARC-Sekretariats wie Rodrigo Londoño, Carlos Antonio Lozada und Pastor Alape öffentlich und vor Opfern wie Ingrid Betancourt und Helmut Angulo die Misshandlungen anerkannt, die sie mit Entführungen begangen haben. Dabei wurde kritisiert, dass sie nicht um Entschuldigung gebeten hatten. An anderen Veranstaltungen haben die FARC aber durchaus um Entschuldigung gebeten. So zum Beispiel am 30. September vor den Bewohnern von San Pedro de Urabá. FARC-Mitglieder anerkannten die Verantwortung für das Massaker, das sie dort verübt hatten, und baten um Entschuldigung.

Auch seitens der Armee wurde um Entschuldigung gebeten. Mitglieder der Armee wie der Mayor Soto Bracamonte akzeptierten Verantwortung in der Ausübung von aussergerichtlichen Hinrichtungen (‘falsos positivos’), und betonten, dass sie stets von den Vorgesetzten unter Druck gesetzt wurden, mehr Gefechtsopfer zu liefern. Am 1. Dezember anerkannten zwei hochrangige Militärs (Oberst Luis Fernando Borja und Mayor Cesar Maldonado) öffentlich und im Namen ihrer KollegInnen die Verantwortung der Armee in der Ausübung der aussergerichtlichen Hinrichtungen. Sie gaben zu, dass die Doktrin der Armee seit den 1980er Jahren Menschenrechtsverletzungen begünstigt hat und die fehlende Rechtsprechung dies noch verstärkt hat. Das Wichtigste für viele Opfer war dabei, dass die JEP anerkennt, dass es sich um systematische Handlungen dreht und nicht um Einzelfälle, wie es die Staatsanwaltschaft (fiscalía) darstellen wollte.

«Zusätzlich zu dem, was im Gericht passiert ist, haben wir in der Wahrheitskommission erreicht, dass jemand wie Juan Manuel Santos, der Verteidigungsminister war, als die 6.402 Fälle [der aussergerichtlichen Hinrichtungen] auftraten, öffentlich anerkannt hat, dass unsere Angehörigen nicht die Guerilla waren, als die sie dargestellt wurden.» Dies ist die Aussage von Jacqueline Castillo, Anführerin der Organisation der Mütter von Opfern von aussergerichtlichen Hinrichtungen in Soacha (Mafapo) und zeigt, wie viel die Wahrheitskommission tatsächlich und trotz allen Hindernissen erreicht hat, denn diese Anerkennung bedeutet einen grossen Schritt für die Wahrheit und somit auch für den Heilungsprozess der Opfer und deren Familien. Auch die Entschuldigungen und Anerkennungen von Verantwortung von wichtigen Akteuren des Konflikts sind ein wichtiger Schritt in Richtung Frieden und sollten deshalb nicht unterschätzt oder heruntergeredet werden, auch wenn (noch) nicht alle ihren Beitrag zur Wahrheit geleistet haben.

Sondergerichtsbarkeit für den Frieden – JEP

Die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) wurde geschaffen, um in dem komplizierten Feld zwischen Gerechtigkeit, Wahrheit, Vergebung und Frieden einen Weg des Kompromisses zu finden, der für die meisten Betroffenen irgendwie tragbar ist. Bei der JEP geht es darum, eine Balance zu finden zwischen Wahrheitsfindung und Strafe. Wenn Täter des Konflikts also die volle Wahrheit erzählen, dürfen sie mit einer geminderten Strafe rechnen, konkret maximal acht Jahre Gefängnis statt lebenslang. Entscheidet die JEP aber, dass eine Person nicht die volle Wahrheit erzählt, geht der Fall an die Ermittlungs- und Strafverfolgungseinheit der JEP (die Staatsanwaltschaft der JEP), die über die Strafe entscheidet.

Um ihre Arbeit etwas zu strukturieren, hat die JEP ihre Arbeit in sieben Makrofälle unterteilt: Entführungen, aussergerichtliche Hinrichtungen, der Genozid an der Unión Patriótica, erzwungene Rekrutierungen, sowie die Situation in drei Regionen des Landes (Nariño, Urabá, Norte del Cauca und Sur del Valle). In den dreieinhalb Jahren ihrer Existenz wurden bereits einige Entscheide gefällt, konkret in den Fällen von Entführungen, aussergerichtlichen Hinrichtungen, sowie in der Rekrutierung von Minderjährigen von Seiten der FARC.

Fall 01: Entführungen

Am 26. Januar 2021 erhob die JEP Anklage gegen acht ehemalige Mitglieder des FARC-Sekretariats, darunter Rodrigo Londoño, Pastor Lisandro Alape, Pablo Catatumbo, wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dies war das erste Dokument nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Jahr 2016, das den Hauptakteuren des bewaffneten Konflikts in Kolumbien Verantwortung zuwies. In dieser Entscheidung wurde auch festgestellt, dass in der Praxis Entführungen, Morde, Folter, Verschwindenlassen, sexuelle Gewalt, Zwangsumsiedlungen und grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlungen begangen wurden, die später von der JEP als Sklaverei eingestuft wurden. Letzteres löste eine Kontroverse unter den Unterzeichnern des Friedensabkommens aus, die zwar die begangenen Taten nicht leugnen, aber diese Einstufung einstimmig ablehnen und erklären, dass die gefangenen Personen nicht zur Zwangsarbeit gezwungen wurden.

Zwei Monate nach der Anklageerhebung akzeptierte das Ex-Sekretariat die Anschuldigungen, und die Ermittlungen werden nun fortgesetzt, um die Verantwortung der mittleren Kommandeure der ehemaligen Guerillagruppe zu klären. Familienangehörige von Entführungsopfern fordern aber von der JEP, dass sie strenger mit den Tätern sein soll und konkretere Beiträge zur Wahrheitsfindung verlangen solle. Dies zeigt die feine Gratwanderung, die es braucht, um zu einem Frieden zu finden, der für möglichst alle stimmt.

Fall 03: Ermordungen und gewaltsames Verschwindenlassen durch Staatsangestellte

Auch im Fall 03, der allgemein als der Fall der ‘falsos positivos’ bekannt ist, machte die JEP 2021 Fortschritte. Am 18. Februar veröffentlichte sie ein Dokument, in dem 6 Regionen als Kernzonen für dieses Phänomen definiert wurden und das zudem aufdeckte, dass in den Jahren 2002 und 2008 mindestens 6’402 Personen Opfer von aussergerichtlichen Hinrichtungen wurden. Dies gab grosse Diskussionen in den Medien, da dies die Präsidentschaftsjahre von Alvaro Uribe waren. Der Fall 03 wird auch als der schwierigste Fall angesehen, da die Anerkennung von Verantwortung seitens Militärangehörigen bisher praktisch gleich null gewesen war. Im Juli klagte die JEP allerdings 15 Mitglieder des Artilleriebataillons in La Popa (Cesar) an, sowie 10 Militärangehörige und eine Zivilperson für Fälle von aussergerichtlichen Hinrichtungen im Catatumbo. Am 11. Dezember anerkannten dann 21 Ex-Militärs ihre Verantwortung in diesem Verbrechen. Einige baten auch um Verzeihung. VertreterInnen von Opferorganisation kritisieren zwar, dass es sich meist bloss um mittlere oder tiefe Ränge von Militärs handelt (also nicht die obersten Befehlshaber), anerkennen aber, dass es der JEP als Erste gelungen ist, geographische Regionen und militärische Einheiten festzustellen, wo sich die Fälle konzentriert haben. Ende letzten Jahres hat die JEP zudem noch entschieden, dass drei der angeklagten Oberste an die Staatsanwaltschaft der JEP übergeben werden sollen, da sie ihre Verantwortung abstreiten. Dort wird weiter untersucht, ob und welche Verantwortung sie wirklich tragen und dann dementsprechend über die Strafe entschieden.

Einheit für die Suche nach Verschwundenen – UBPD

Die Aufgabe der Einheit für die Suche nach Verschwundenen (UBPD) ist, wie der Name schon sagt, die Suche nach Personen, die während dem Konflikt verschwunden sind, und deren Angehörige bis heute nicht Klarheit darüber haben, was mit ihnen passiert ist. Somit soll auch diese Einheit einen wichtigen Beitrag zur Wahrheitsfindung leisten. Leider wird sie von den drei Einheiten am meisten für fehlende Resultate und umständliche Bürokratieprozesse kritisiert. Soziale Organisationen haben darauf hingewiesen, dass obwohl sie Informationen liefern, wo sich möglicherweise die toten Körper von Angehörigen befinden, es sehr lange dauert bis die UBPD sich aufmacht, die Informationen zu verifizieren. In einem spezifischen Fall dauerte es zweieinhalb Jahre, bis die UBPD zu dem bestimmten Ort reiste, um die Körper von zwei Verschwundenen zu identifizieren. 2021 schaffte es die UBPD aber auch, drei Personen, die als verschwunden geglaubt waren, mit ihren Familien wieder zu vereinen. Ausserdem wurde das Register von allen verschwundenen Personen vervollständigt, welches nun 99’325 Personen umfasst. Davon wurden bisher fünf lebend gefunden und 132 Verstorbene ihren Familien zurückgegeben.

Diese Übersicht über das Erreichte im Punkt fünf zeigt, dass obwohl es noch ein weiter Weg zum Frieden ist und die aktuelle Regierung immer wieder Steine in den Weg legt, doch wichtige Schritte gemacht wurden, gerade in der Wahrheitsfindung. Es ist häufig einfacher, auf das hinzuweisen, was noch fehlt, aber auf einem so langen und steinigen Weg wie diesem finden wir es auch wichtig, Meilensteine anzuerkennen um Energie zu schöpfen und weiterzufahren. Somit endet unsere Serie zum fünfjährigen Jubiläum des Friedensabkommens mit der Hoffnung, dass die neue Regierung, die dieses Jahr gewählt wird, mit viel Kraft die restliche Umsetzung des Friedensabkommens vorantreibt und Kolumbien stärker in Richtung des mehr als verdienten Friedens führt.

Dieser Artikel basiert auf folgenden Quellen:

https://www.elespectador.com/colombia-20/jep-y-desaparecidos/que-hizo-el-sistema-integral-para-la-paz-en-2021/

 

https://www.eltiempo.com/justicia/jep-colombia/cuales-son-los-casos-de-la-jep-613198

 

https://curate.nd.edu/show/05741r69f09