Weniger als zwei Wochen vor den Parlamentswahlen nimmt die politische Gewalt in Kolumbien weiter zu

Mrz 1, 2022

Von Carla Ruta

In weniger als zwei Wochen sind in Kolumbien Parlamentswahlen. Die Gewalt, besonders in den Gebieten, die in der Vergangenheit am stärksten vom Krieg betroffen waren, verschärft sich weiter. In der letzten Februarwoche wurden ein demobilisierter Kämpfer und fünf soziale Führungspersonen ermordet.[1] Diese Situation gefährdet eine breite politische Beteiligung und die effektive Verwirklichung der politischen Rechte der Gemeinschaften, die seit jeher unterrepräsentiert und ausgeschlossen wurden.

Am 13. März werden 296 Parlamentarier*innen gewählt, darunter 10 Abgeordnete der Comunes-Partei, die aus der ehemaligen FARC-EP entstanden ist, und 16 Vertreter*innen der speziellen Friedenswahlkreise, die durch das Friedensabkommen geschaffen wurden. Die grösste Herausforderung für eine wirkliche breite politische Partizipation ist aber nach wie vor die direkte Gewalt gegen Kandidaten*innen und Stimmbürger*innen. Wie die Wahlbeobachtungsmission (Misión de Observación Electoral MOE) von Zivilgesellschaftsorganisationen[2] feststellte, befinden sich die Gemeinden mit der traditionell niedrigsten Wahlbeteiligung in Konfliktgebieten, nämlich in Antioquia, Bolívar, Caquetá, Cauca, Córdoba, Chocó, La Guajira, Meta, Nariño, Norte de Santander, Sucre, Arauca und Putumayo.

Die MOE veröffentlichte am 6. Februar einen Bericht,[3] in dem sie feststellte, dass es heute zwar weniger wahlgefährdete Gemeinden gibt als 2014 und 2018, die Risiken aber sehr wohl fortbestehen. Im 2014 und 2018 waren es 260 bzw. 170 Gemeinden, die u. a. durch Gewalt, Wahlbetrug, Klientelismus, fehlende Kontrollmechanismen und mangelnden Zugang zu angemessenen Informationen gefährdet waren. Heute sind es 131 Gemeinden. Darüber hinaus gibt die MOE an, dass zwischen dem 13. März 2021 und dem 13. Januar 2022 147 Gewalttaten gegen politische, soziale und kommunale Führungspersonen in allen 16 Friedenswahlkreisen registriert wurden. Dies würde einen 150%-igen Anstieg der Angriffe auf soziale Führungspersonen in diesen Gebieten bedeuten. All dies kann dazu führen, dass sich der Trend zu einer geringen oder durch bewaffnete Akteure oder korrupte politische Apparate erzwungenen Beteiligung fortsetzt.

Am 13. Februar 2022 war es die Stiftung für Frieden und Versöhnung (Pares), die ihren Bericht[4] zur politischen Gewalt während des Wahlkampfes publizierte. Seit März 2021 wurden laut ihrem Bericht 124 Gewalttaten gegen 163 Personen gemeldet, von denen die meisten (144) Drohungen sind. Es wurden aber auch 19 Kandidaten*innen und Politiker*innen ermordet. Pares warnt vor einer Zunahme der Gewalttaten, je näher der Wahltag rückt.

In Kolumbien ist die Gewalt bei Wahlen nicht nur mit lokalen Dynamiken des bewaffneten Konflikts verbunden, sondern auch mit klientelistischen und korrupten politischen Dynamiken. Traditionell sei in Kolumbien die Gewalt eine Wahlkampfstrategie unter anderen, sagt Pares. So existieren “ausgeklügelte Korruptionsmechanismen” zwischen politischen Clans und kriminellen Gruppen – Erben der Parapolitik -, die “alle Formen der Korruption kanalisieren, um die millionenschweren klientelistischen Maschinen in ihren Regionen in Gang zu halten”.[5]

Die Stiftung berichtet, dass es “seit September 2021 eine anhaltende Dynamik des Gewaltanstiegs gibt, wobei die letzten fünf Monate die bisher gewalttätigsten (…) waren”. Die Anzahl der Fälle nimmt zwar nicht unbedingt zu, aber sie werden immer wie schwerwiegender, wie z.B. ein Brandanschlag auf das Haus des Bürgermeisters von El Charco, einer Gemeinde im Departement Nariño (Südwesten) am 4. Februar, oder die Entdeckung eines Sprengsatzes – der nicht explodierte – in einem Haus, das für Veranstaltungen der Comunes-Partei in Bogotá genutzt wurde.[6] Es gab auch zwei Angriffe auf Abgeordnete aus dem Chocó, einem Departement an der Pazifikküste, wo am 7. und 9. Januar Sprengstoff auf ihre Häuser geworfen wurde und alle Mitglieder der Versammlung dieser Provinz in Flugblättern bedroht wurden.

Die MOE hat ihrerseits alleine im Januar 2022 37 Gewalttaten gegen politische, soziale und kommunale Führungspersonen registriert. 2022 gab es neun Drohungen gegen Kandidaten*innen der Legislative, davon eine gegen einen Kandidaten für die Friedenssitze; ein Angriff gegen einen Kandidaten für die Friedenssitze und eine Drohung gegen einen Präsidentschaftskandidaten.

Im Vergleich zu 2018 haben die Gewalttaten im Zusammenhang mit den Wahlen im Jahr 2022 um 27,6 % zugenommen. “Dies ist eine besorgniserregende Situation (…) und wenn keine dringenden Maßnahmen ergriffen werden, um die Sicherheit der Kandidaten zu gewährleisten, und wenn sich dieser Trend in den kommenden Monaten fortsetzt, könnte die Bilanz für 2022 verheerend ausfallen”, betont die MOE in ihrem jüngsten Bericht über den Wahlprozess.[7]

Auch die Wahlbeobachtungsmission der Europäischen Union, an der sich auch die Schweiz beteiligt, äußerte sich am Freitag 25.02.2022 besorgt über die Auswirkungen, die die Gewalt auf die Parlamentswahlen am 13. März und die Präsidentschaftswahlen im Mai haben könnte.[8]

In 70 % der von der Stiftung für Frieden und Versöhnung Pares gemeldeten Fälle von politischer Gewalt konnte nicht geklärt werden, welche Gruppe oder Person hinter den Vorfällen steckt. In den anderen 30 % sind jedoch verschiedene FARC-Dissidenz Gruppen die Hauptverantwortlichen, gefolgt von paramilitärischen Gruppen, wie den Autodefensas Gaitanistas de Colombia oder dem Clan del Golfo.

Zwei Wochen vor den Parlamentswahlen erlebt nun Kolumbien eine Zunahme der Guerilla-Aktivitäten der ELN, der FARC-Dissidenten und des Golf-Clans, die soziale Führungspersonen und demobilisierte Kämpfer*innen angreifen und Gemeinschaften terrorisieren. Die ELN verkündete vom 23. bis zum 26. Februar einen dreitägigen bewaffneten Streik.[9]

Carlos Enrique Moreno, Professor an der Fakultät für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen der Universität Javeriana, erklärte in einem Interview, das im El Espectador erschien[10], dass die bewaffneten Gruppen mit diesen Angriffen in der Wahlkampfzeit zeigen wollen, dass sie noch immer stark sind. “Sie versuchen zu demonstrieren, dass ein Kandidat, der einmal gesagt hat, er werde für Sicherheit sorgen (..), dies nicht tun kann (in Bezug auf das Wahlkampfversprechen von Präsident Iván Duque).» Laut Professor Moreno geht es nicht nur darum Stärke zu zeigen, sondern auch die Unfähigkeit der Behörden aufzuzeigen.

Professor Moreno erinnerte in diesem Interview auch daran, dass die ehemalige FARC vor der Unterzeichnung des Friedensabkommens und der Demobilisierung eine “territoriale Kontrolle hatte, die die Sicherheit in den Gebieten garantierte, in denen sie eine dominante Präsenz hatte”. “Mit der Auflösung und dem Weggang einer großen Zahl von FARC-Mitgliedern blieb die Sicherheit in gewisser Weise ungewiss, und die lokalen oder nationalen Behörden waren nicht unbedingt in der Lage, die Autorität der FARC zu ersetzen (…), was anderen Kräften die Möglichkeit eröffnete, zu versuchen, das Gebiet zu besetzen”, erklärte er. Diese Wahlen finden also in einer für viele Regionen Kolumbiens besonders unsicheren und turbulenten Zeit statt.

Die Situation ist besonders besorgniserregend was die Wahlen für die Friedensitze betrifft. Die 16 Friedenswahlkreise sind ein Versuch, die Opfer des bewaffneten Konflikts zu integrieren und zu Wort kommen zu lassen und den Frieden in den vom Konflikt am stärksten betroffenen Regionen zu konsolidieren. Bei den Wahlen am 13. März werden diese Regionen erstmals ihre Vertreter*innen, die selbst Opfer des Konflikts sind, wählen können. Diese Gebiete sind aber in vielen Fällen immer noch Konfliktgebiete, in denen illegale bewaffnete Strukturen, illegale Wirtschaft und “demokratische Kooptation politischer Clans” fortbestehen, laut dem Bericht der Stiftung Pares. In den 16 Friedenswahlkreisen sind “mindestens 33 Clans vertreten, und es gibt Hinweise darauf, dass sieben von ihnen versuchen, die Kandidaturen für die Friedenssitze zu übernehmen”, warnte Pares.

Auch das Centro de Investigación y Educación Popular – CINEP warnt, das in der gegenwärtigen Situation die Einschränkungen für die Wahlbeteiligung schwerwiegende Folgen haben könnten. Einerseits wird es schwierig sein, dass diejenigen, die die 16 Friedenssitze dann besetzen werden, auch tatsächlich Opfer des Konflikts sind, wie es im Friedensabkommen vorgesehen ist. Es sei laut dem CINEP bereits bekannt, dass traditionelle Politiker und bewaffnete Akteure versucht haben, Kandidat*innen aus diesen Regionen zu kooptieren oder zu verdrängen.

Andererseits erinnert das CINEP auch daran, dass bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im 2022 der zweite Fünfjahreszeitraum für die Umsetzung des Friedensabkommens auf dem Spiel steht. In diesem Zusammenhang ist die Wahl der Legislative, der häufig weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird als der Präsidentschaftswahl, von grundlegender Bedeutung für den Frieden, denn das Parlament verfügt über  Kontrollbefugnisse gegenüber der Exekutive, die es ihm ermöglicht, Druck auszuüben, um die Umsetzung des Friedenabkommens voranzutreiben.[11]

 

[1] En vísperas de elecciones, se incrementa y recrudece la violencia en Colombia | EL ESPECTADOR

[2] La MOE – MOE – Misión de Observación Electoral

[3] Quinto-informe-preelectoral-de-violencia.pdf (moe.org.co)

[4] Microsoft Word – Cuarto Informe Violencia y Dinámica Electoral Febrero 2022.docx (usrfiles.com)

[5] Ibid.

[6] Siehe auch 220202-_Oidhaco_-Comunicado-pre-election-violence-and-humanitarian-situation-EN.pdf

[7] Informes de violencia contra líderes políticos, sociales y comunitarios (moe.org.co)

[8] La UE está preocupada por la violencia de cara a las elecciones en Colombia | Política | Edición América | Agencia EFE

[9] Paro armado: las cifras que dejó la escalada violenta del ELN en Colombia – Infobae

[10] En vísperas de elecciones, se incrementa y recrudece la violencia en Colombia | EL ESPECTADOR

[11] Editorial (cinep.org.co)