Trotz Pandemie: Morde und Drohungen gegen KleinbauernführerInnen und gewaltsame Kokaausrottung

Apr 18, 2020

Von Stephan Suhner

Während das Land gebannt auf die Ausbreitung des Coronavirus schaut oder hofft, dass die Ausgangssperre bald gelockert wird, kämpfen viele Gemeinschaften ums nackte Überleben. Viele ländliche Gemeinschaften haben keinerlei Gesundheitsversorgung, ausser vielleicht einem schlecht dotierten Gesundheitsposten, und werden auch nicht von der Nothilfe erreicht, die vielerorts gewährleistet wird. Viele indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften sind wegen Kämpfen zwischen dem ELN und paramilitärischen und kriminellen Gruppen in ihren Gemeinschaften eingesperrt. Sie können weder auf ihren Feldern Nahrungsmittel holen, noch Medizinpflanzen sammeln. Viele Kinder sind unterernährt und krank, schon drei indigene Kinder der Noman und Embera Wounan sind gestorben[1]. 110 Gemeinschaften rufen die Regierung und bewaffnete Gruppen deshalb nicht nur zu einem umfassenden Waffenstillstand während der COVID19-Krise auf, sondern verlangen dringend auch Nothilfe und medizinische Unterstützung. Die Regierung Duque hat bisher auf diese Aufrufe zu einem Waffenstillstand nicht reagiert, ebenso wenig die paramilitärischen und kriminellen Gruppen und Drogenmafias.[2] Derweil gehen das Morden und die Vertreibung von sozialen Führungspersonen ungebremst weiter. Von der Kleinbauernorganisation Piamonte wurden am 3. April Hamilton Gasco Ortega und seine zwei minderjährigen Söhne ermordet. Auch in Piamonte begannen die Drohungen und Morde (fünf bis heute) mit der Unterzeichnung der Abkommen zur freiwilligen Substitution. Gemäss der Kleinbauernführerin Maidany Salcedo wurde ihre Organisation ASINTRACAMPIC vom Cartel de Sinaloa, ‘La Constru’, „La Mafia” und/oder von den Dissidenten FARC-Gruppen zum militärischen Ziel erklärt.[3]

Im Cauca denunziert das Red por la vida y los Derechos Humanos del Cauca, dass sich der bewaffnete Konflikt trotz COVID19 verschärft und das zur gewaltsamen Vertreibung von fünf sozialen Führungspersonen des Gemeinschaftsrates AFRORENACER in Micay sowie zur Vertreibung von 15 weiteren Personen geführt hat. FARC-Dissidenzen kamen am 8. April zum Haus des Kleinbauernführers Henry Agudelo in der Gemeinde Tambo, bedrohten ihn mit dem Tod und zwangen ihn, den Hausschlüssel zu übergeben und sofort wegzugehen.[4] Auch die Bauernbewegung der Perla Amazónica bei Puerto Asis (Putumayo) hat mehrere Todesdrohungen und Morde in den letzten Wochen zu beklagen. U.a. ist Jani Silva schwer bedroht worden, ein Plan sie umzubringen wurde aufgedeckt. Jani ist eine der Führungspersonen der Kleinbauernorganisation der Zona de Reserva Campesina Perla Amazónica (ZRCPA).[5] Ebenso wurde der charismatische Bauernführer Marco Rivadeneira am 19. März ermordet. Er war auch Wortführer der CCEEU für seine Region und setzte sich vehement für die freiwillige Kokasubstitution des Programmes PNIS ein. Im Moment als er verschleppt und dann umgebracht wurde, war er gerade an einem Treffen über freiwillige Substitution. Das Red de Derechos Humanos del Putumayo verzeichnet ebenfalls drei bedrohte MenschenrechtsverteidigerInnen: Yuri Quintero, Yule Anzueta und Wilmar Madroñero. Seit der von der Regierung verordneten Quarantäne sind im Putumayo 12 Personen umgebracht worden, darunter sind soziale Führungspersonen wie auch Opfer von Abrechnungen im Drogenhandel. Im Putumayo streiten sich die FARC-Dissidenz Frente Carolina Ramírez und die Drogenbande „La Mafia“ um die Vorherrschaft.[6] 

Der Umgang mit den Kokapflanzungen und dem Drogenhandel ist auch in Mitten dieser Pandemie hoch umstritten. Verschiedene soziale und Menschenrechtsorganisationen forderten nicht nur einen generellen Waffenstillstand, sondern auch einen Unterbruch der gewaltsamen Kokaausrottung. Die Regierung kümmert es einen Deut. Vielmehr gehen die gewaltsamen Ausrottungsaktionen mitten in der Quarantäne weiter, wie soziale Organisationen in Norte de Santander, Nariño, Caquetá und Putumayo denunzieren. Diese gewaltsame Ausrottung der Koka erfolgt vor allem in Gemeinden, die kollektive Abkommen zur freiwilligen Substitution PNIS unterschrieben haben. Leider Miranda vom nationalen Vorstand der Koordination der Koka-, Schlafmohn- und MarihuanapflanzerInnen COCCAM erwähnte, wie die Armee am 30. März 2020 in den Weiler El Carmelo in Cajibío (Cauca) kam und mit der gewaltsamen Ausrottung der Koka begann. Obwohl mit dem Friedensabkommen viele Gemeinschaften ihren Willen bekräftigen, legale Alternativen für den Lebensunterhalt zu suchen, hält die Regierung die Abkommen nicht ein und setzt die gewaltsame Ausrottung fort. Die Bevölkerung dieser Gemeinschaften versteht v.a. nicht, wie die Regierung ihnen befiehlt, zu Hause zu bleiben, die Armee sich aber bewegen und sogar Koka ausrotten darf. Die in ihren Häusern isolierten Gemeinschaften haben klar gemacht, dass sie es trotz Quarantäne nicht zulassen würden, dass die Armee ihre Kokafelder zerstört, aber die Zahlungen des PNIS durch die Regierung nicht geleistet werden. COCCAM befürchtet deshalb Zusammenstösse der Bevölkerung mit den Sicherheitskräften und dass die Menschenaufläufe die Verbreitung des Virus begünstigen könnten.

Während einer Aktion zur gewaltsamen Ausrottung von Koka wurde am 26. März 2020 im Weiler Santa Teresita in der Gemeinde Sardinata (Norte de Santander) der 20-jährige Alejandro Carvajal durch die Armee getötet, wie die regionale Bauernorganisation ASCAMCAT denunzierte. Am 31. März tauchte die Armee frühmorgens in den Weilern La Chamba und Casa Vieja in Ancuya (Nariño) auf, um Koka auszurotten, obwohl auch dort ein PNIS-Abkommen unterzeichnet wurde, dessen Umsetzung aber noch nicht begonnen hat.[7] Generell ist der Einsatz der KleinbauernführerInnen für die freiwillige Substitution mit grossen Risiken verbunden. Allein im Süden des Departements Córdoba wurden schon 7 Nutzniesser des PNIS ermordet, ohne dass die Behörden bis jetzt Schutzmassnahmen ergriffen hätten. In der Gemeinde Puerto Libertador sind am Palmsonntag zum zweiten Mal in diesem Jahr Kokaausrottungstrupps aufgetaucht. 60 Ausrotter kamen in Begleitung von 40 Armeesoldaten, weshalb die Bevölkerung befürchtet, dass durch diese auswärtigen Personen das Coronavirus eingeschleppt werden könnte. Beim ersten Mal kam es zu Protesten der Kleinbauern und zu Zusammenstössen mit der Aufstandsbekämpfungspolizei ESMAD. Jetzt gibt es keine Demonstrationen, aber ein dringender Aufruf der Kleinbauernbewegung vom Süden Cordobas ACSUCOR, dass sie das Einkommen aus der Koka jetzt in der Krise brauchen, respektive die Regierung ihnen Alternativen für die Ernährung bieten soll. In Puerto Libertador haben 1752 Familien Abkommen zur freiwilligen Substitution unterzeichnet, aber heute, zwei Jahre später, werden erst die Projekte für Ernährungssicherheit gestartet. Wenn jetzt mitten in der Krise die Koka ausgerottet wird, bevor die Unterstützung des PNIS greift, bedeutet das für die Kleinbauernfamilien Hunger. Denn es gibt auch viele Familien, die keine Abkommen zur freiwilligen Substitution unterzeichnet haben und vom Einkommen aus der Koka abhängig sind. Gemäss ACSUCOR haben viele Familien wegen Drohungen der paramilitärischen AGC keine PNIS-Abkommen unterzeichnet.[8]

Die NGO-Koalition Acciones para el Cambio APC gelangte wegen solcher Vorfälle auch mit einer Petition an die Regierung Duque, während der COVID19-Notlage auf die Kokaausrottung zu verzichten und so die Rechte der Kleinbauerngemeinschaften zu garantieren. APC begründet die Forderung damit, dass es einerseits gelte, die Gesundheit und das Leben zu schützen, andererseits aber, das Einkommen und die Ernährung. APC bezog sich ebenfalls auf Klagen von lokalen Gemeinschaften in verschiedenen Landesgegenden, wo einerseits das Programm PNIS nicht vollständig umgesetzt, und andererseits mit den Ausrottungsmassnahmen die Distanzwahrung nicht eingehalten wird, sowie auf die Ermordung von Alejandro Carvajal und von Marco Rivadeneira. Mit der Ermordung von Rivadeneira wurden schon 60 Führungspersonen die Substitutionsprogramme anführten, gemäss COCCAM ermordet. Drei Tage nach seiner Ermordung, am 22. März, kam die Armee und begann, die Koka mit Handspritzen und Glyphosat zu besprühen. Auch in der Gemeinde Montañita im Caquetá begann die Armee am 23. März mit Gewalt die Koka auszurotten und gab dabei Schüsse in Richtung der Anwohner ab.

Angesichts dieser Ereignisse und gewaltsamen Vorfällen fordert die Koalition APC die kolumbianische Regierung auf, die Morde an Marco Rivadeneira und Alejandro Carvajal zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Auch sollen die gewalttätigen Übergriffe der Armee auf die kokapflanzende Bevölkerung untersucht und sanktioniert werden. Die Armee soll die Isolierungsmassnahmen ebenfalls befolgen und die Operationen zur gewaltsamen Ausrottung der Koka unterbrechen, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern und das Recht auf Gesundheit und Ernährungssicherheit der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen zu respektieren. Ebenso fordert APC die Regierung auf, die freiwilligen Substitutionsabkommen im Rahmen des PNIS zu respektieren und voranzutreiben und auf gewaltsame Ausrottung zu verzichten, wo solche Abkommen zur freiwilligen Substitution unterzeichnet wurden.[9]

 

[1] https://www.contagioradio.com/muere-tercer-nino-indigena-por-confinamiento-forzado-producto-de-enfrentamientos/

[2] https://www.contagioradio.com/alimentacion-salud-agua-y-acuerdo-humanitario-exigen-110-comunidades-a-duque/

[3] https://www.contagioradio.com/masacre-en-piamonte-reflejo-persecucion-campesinos/

[4] https://www.contagioradio.com/se-agudiza-conflicto-armado-en-el-cauca/

[5] https://www.contagioradio.com/lideresa-jani-silva-en-riesgo-tras-descubrirse-plan-para-atentar-contra-su-vida/

[6] https://www.contagioradio.com/se-agudizan-amenazas-contra-defensores-de-dd-hh-en-putumayo-durante-cuarentena/

[7] Contagio Radio, Campesinos cumplen cuarentena mientras Ejército erradica forzadamente en Cauca, 1. April 2020, in: https://www.contagioradio.com/campesinos-cumplen-cuarentena-mientras-ejercito-erradica-forzadamente-en-cauca/

[8] https://www.elespectador.com/coronavirus/en-cordoba-el-ejercito-tambien-erradica-coca-pese-emergencia-por-covid-19-articulo-914387

[9] Dejusticia und andere, Solicitamos al Gobierno suspender los operativos de erradicación forzada durante la contingencia del COVID-19, 31. März 2020, https://www.dejusticia.org/solicitamos-al-gobierno-suspende-los-operativos-de-erradicacion-forzada-durante-la-contingencia-del-covid-19/