Droht Bojayá nach 17 Jahren eine erneute humanitäre Tragödie?
Von Stephan Suhner
Paramilitärische Kontrolle der Autodefensas Gaitanistas dehnt sich aus
17 Jahre nach der Tragödie von Bojayá, wo fast hundert Personen bei Kämpfen zwischen den FARC und Paramilitärs umkamen, besteht der paramilitärische Terror weiter und dehnt sich sogar wieder in weitere Gemeinden und kollektive Territorien des Chocó und des Mittleren und Unteren Atrato-Flusses aus. Paradoxerweise geschieht dies inmitten eines angekündigten einseitigen Waffenstillstandes der Autodefensas Gaitanistas de Colombia AGC, von dem die lokale Bevölkerung nichts spürt. Auf Flugblättern verkündeten sie den Waffenstillstand, um die Weihnachtsfeierlichkeiten zu respektieren und forderten andere bewaffnete Gruppen auf, es ihnen gleich zu tun. Die Menschenrechtsorganisation Justicia y Paz machte am 30. Dezember 2019 die Zunahme paramilitärischer Kontrolle durch die AGC öffentlich.[1] Betroffen waren Dörfer und Kleinstädte wie Necoclí, Turbo, Apartadó, Mutatá, Frontino, Dabeiba, Urrao, Chigorodó, Riosucio etc., sowie die kollektiven Territorien Cacarica, Curvaradó, La Larga, Pedeguita Mancilla und Jiguamiandó. Die verstärkte paramilitärische Präsenz führte zu massiven Vertreibungen und im Cacarica zu einer totalen Kontrolle der Paramilitärs, davon ausgenommen war lediglich die humanitäre Zone Nueva Esperanza. Justicia y Paz denunzierte auch die Zählung sämtlicher Kinder und Jugendlicher im ganzen Bajo Atrato, verbunden mit dem Verteilen von Weihnachtsgeschenken. Die AGC warnte die Bevölkerung unter Androhung von Mord oder Vertreibung, niemandem davon zu erzählen.
Viele Führungsleute verliessen daraufhin wegen gezielten Morddrohungen die Gegend, da sie kein Vertrauen in den Staat haben und den Friedensprozess als gescheitert erachten. Sie hätten ehemalige Kämpfer der FARC und des ELN heute als Paramilitärs handeln sehen, und die paramilitärischen Autodefensas Gaitanistas würden Hand in Hand mit der Armee und der Polizei arbeiten. Die territorialen Entwicklungspläne PDET würden nur auf dem Papier existieren und die wirkliche Kontrolle übten die AGC und die neuen Besetzer des Lands mit ihren agroindustriellen Projekten aus. Zudem herrscht grosse Angst vor Zwangsrekrutierung der Söhne und Prostitution der Töchter, da es kaum wirtschaftliche Alternativen gibt. Die Kinder mussten die Geschenke und Erwachsene mussten Vieh unter Zwang akzeptieren und stehen so in der Schuld der Bewaffneten. Viele Vorfälle werden wegen dem Klima der Angst nicht denunziert.
Die verstärkte Präsenz der AGC begann aber nicht erst um Weihnachten herum, Justicia y Paz denunziert dies seit September 2019. So installierten die AGC „Puntos“, Häuser in denen zivil gekleidete Männer mit Pistolen die Bevölkerung kontrollieren. Auch gibt es Camps wo Uniformierte mit Gewehren stationiert sind. Dies alles geschah unter den Augen der Armee, die behauptet, sie hätte das ganze ländliche Gebiet unter Kontrolle. Die paramilitärische Kontrolle geht einher mit Geschäften, die die Menschenrechte und das Recht auf kollektive Territorien verletzen und der Umwelt schaden. Es kommt zu Landraub, Monokulturen werden erstellt und Bergbau gefördert. Häufig führt die Armee parallel zum paramilitärischen Vormarsch Operationen durch, soziale Führungspersonen werden festgehalten und bedrängt, bewaffnete Personen mischen sich in die Organisationsprozesse in den kollektiven Territorien ein.
Eingeschlossene Gemeinden – bedrohte Führungsleute
Am 31. Dezember denunzierte Justicia y Paz die Besetzung respektive Einnahme der Gemeinschaft Pogue in der Gemeinde Bojayá durch die AGC und dass es permanent Gefechte zwischen den AGC und dem ELN gebe. 300 Mitglieder der AGC marschierten in mehreren Dörfern der Gemeinde Bojayá auf. Rund ein Dutzend soziale Führungspersonen erhielten darauf Drohungen, es wurde von ihnen Geld oder Munition verlangt, oder wie im Falle von Leyner Palacios wurde eine Frist von wenigen Stunden gegeben, um die Gegend zu verlassen. Führungspersonen beklagten, dass die Warnungen und Hilferufe der Bevölkerung nicht ernst genommen würden und der Staat nicht handle, obwohl ein neues Massaker wie dasjenige von 2002 befürchtet werde. So sagte ein hoher Armeeführer zu Beginn, es seien ein paar wenige hungrige Banditen nach Pogue gekommen und hätten um Essen gebeten. Eingeschlossene oder belagerte Gemeinschaften gebe es nicht.[2] Als die Zeugnisse der Bevölkerung immer zahlreicher wurden und eine internationale humanitäre Mission erbeten wurde, versprach dann die Armee, mehr Soldaten zur Kontrolle zu schicken und die Lage zu evaluieren. Die Armee könne nicht überall sein, würde aber die strategischen Punkte kontrollieren, über die die Bewaffneten sich verschieben würden. Soziale Organisationen betonen, es brauche für die Sicherheit der Bevölkerung nicht mehr Soldaten, sondern die Wiederaufnahme der Gespräche mit dem ELN und die Auflösung oder juristische Unterwerfung der Autodefensas Gaitanistas.[3] Ebenso fordern soziale Führungspersonen eindringlich soziale Verbesserungen wie Spitäler, Schulen und Elektrifizierung. In den Flusssiedlungen von Bojayá gibt es keine Ärzte und 60% der Siedlungen haben keinen Strom.
Am Wochenende vom 4./5. Januar 2020 warnten verschiedene Persönlichkeiten vor einer erneuten Tragödie in Bojayá, so Pater Francisco de Roux, der Präsident der Wahrheitskommission. Menschenrechtsinstitutionen wie die Defensoria warnen seit Monaten vor der verstärkten Präsenz von illegalen bewaffneten Gruppen im Chocó, auch in Pogue. Der Chocó ist ein Schlüsselgebiet für den Drogenhandel, da die Flüsse Zugang zum Pazifik und von dort Richtung Zentralamerika und die USA gewähren. Nachdem die Bewohner von Pogue die Bedrohung durch die Paramilitärs öffentlich machten, kamen auch höhere Regierungsfunktionäre nach Bojayá, so der Innenminister a.I. Daniel Palacios, der sich auch mit dem ebenfalls bedrohten Opfervertreter Leyner Palacios traf und die Entsendung von mehr Soldaten ankündigte. Auch der Hohe Präsidialberater für den Frieden Miguel Ceballos zeigte sich und brachte humanitäre Hilfe sowie eine Einladung des Präsidenten Duque an Leyner Palacios für ein Treffen. Auch verschiedene linke und friedensaffine Parlamentarier setzten sich für humanitäre Lösungen für die gewaltgeplagte Region ein.[4] Schon kurz darauf, am 9. Januar 2020 denunzierte Justicia y Paz, dass die Armee in der Humanitären Zone Nueva Vida im Cacarica Präsenz markiere, ohne irgendetwas gegen die Paramilitärs zu unternehmen, die dauerhaft im Territorium anwesend sind. Schon 2016 gab es Zeugenaussagen, wonach im Cacarica 120 Paramilitärs aufgetaucht sind, dass Frauen belästigt, Ausgangsperren verhängt und Jugendliche mit Geld angelockt werden, ohne dass der Staat und die Armee entschiedene Schritte dagegen unternommen hätten.[5]
Staat reagiert kaum
Die Armee machte sich nicht nur über die Anzahl der Paramilitärs keine Sorgen, die sie als wenige hungrige Wegelagerer bezeichneten, sie zweifelten auch offen die Wahrheit der Aussagen der Bevölkerung an. Der Kommandant der Vereinigten Operationseinheit Titán, verlangte mit einem formellen Auskunftsbegehren von Leyner Palacios genaue Angaben und Beweise für seine öffentlichen Anklagen über die Präsenz der Paramilitärs. Der Kommandant verlangte genau Angaben, welche Einheiten und Armeeangehörigen angeblich mit den Paramilitärs zusammenarbeiten würden, und eine Liste der Gemeinschaften, die 2019 durch Paramilitärs eingeschlossen wurden sowie eine Liste aller Organisationen, die die Präsenz der Paramilitärs denunzierten. Damit dreht die Armee den Spiess um und verlangt von der Bevölkerung Beweise und Handlungen, die klar Staatsaufgabe sind. Zudem scheint der Kommandant der Einheit Titán mehr an den Zeugen als an den Tätern interessiert zu sein.[6]
Leyner Palacios schickte am 8. Januar 2020 einen Brief an Präsident Duque, in dem er die Einladung des Präsidenten zu einem direkten Dialog akzeptierte, aber auch die staatliche Untätigkeit anklagte. So erwähnte Palacios zum Beispiel die vielen Frühwarnungen der Defensoría (Büro des Ombudsmannes für Menschenrechte), die Berichte des Büros des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte über die Menschenrechtsverletzungen in Bojayá, sowie die Communiqués der ethnischen Organisationen und der Diözese von Quibdó über die humanitäre Krise. Palacios denunzierte wie das ELN neue Territorien besetzt hat, z.B. mit dem Verlegen von Antipersonenminen Panik in den Gemeinschaften schürt, und wie die Regierung die Gewaltproblematik im Chocó auf den Drogenhandel reduziert und Konfliktursachen wie Infrastrukturprojekte, Monokulturen und Bergbau ignoriert. Im Namen der sozialen, kirchlichen und ethischen Organisationen des Chocó fordert Palacios zur Lösung dieser Probleme die vollständige Implementierung des Friedensabkommens mit den FARC in der Region, namentlich was PDETs und Agrarreform, Substitution der Drogenpflanzungen etc. betrifft. Weiter fordert er die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen mit dem ELN und Anstrengungen zur Unterwerfung der AGC unter die Justiz sowie deren Auflösung. Insbesondere müssten Anstrengungen unternommen, um die Kinder und Jugendlichen vom Krieg fernzuhalten und Rekrutierungen zu vermeiden.[7]
Die Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen ist eines der grössten Probleme im Chocó und beschäftigt Menschenrechts- und humanitäre Organisationen seit Jahren. Hinter der vermehrten Rekrutierung von Minderjährigen stehen vor allem das ELN und die AGC oder Clan del Golfo. Genaue Zahlen über die Anzahl Rekrutierungen gibt es wegen der Angst, die Fälle zu denunzieren nicht, dementsprechend wird eine hohe Dunkelziffer vermutet. Der Bischof von Quibdó, Monseñor Juan Carlos Barreto sprach von mindestens 100 Minderjährigen, die 2019 rekrutiert wurden. Auch das UNO-Büro für humanitäre Angelegenheit wies auf die Unsichtbarmachung der Zwangsrekrutierung von Minderjährigen hin. Die Stiftung Ideen für den Frieden FIP schätzt, dass von Januar bis September 2019 die Rekrutierung Minderjähriger in Kolumbien um 41,6% angestiegen ist und der Chocó zu den meistbetroffenen Departementen zählt. Diese Situation zeigt auch, dass die Umsetzung des Kapitels über ethnische Belange des Friedensabkommens vom 24. November 2016 nicht vorwärts kam. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens bis Mai 2019 registrierte der Chocó 19‘561 Menschenrechtsverletzungen, weit über die Hälfte aller Menschenrechtsverletzungen Kolumbiens. Die Rekrutierung der Minderjährigen in ethnischen Gemeinschaften beschädigt auch die sozialen Netze unwiderruflich, da die Jugendlichen gezwungen werden, in ihren Gemeinschaften Informationen zu sammeln und an die illegalen bewaffneten Akteure weiterzuleiten. Da die Jugendlichen nach der Rekrutierung auch sehr leicht manipulierbar sind, werden sie oft zu der schlimmsten Plage in ihren Gemeinden, oder die Familien leiden unter den illegalen Machenschaften ihrer Kinder. Das Vertrauen unter den Bewohnern und der Zusammenhalt gehen dadurch verloren.[8]
[5] https://www.contagioradio.com/cacarica-mas-de-dos-decadas-bajo-el-asedio-paramilitar/
[6] https://www.contagioradio.com/derecho-de-peticion-ejercito-exige-que-lideres-demostrar-denuncias/
[7] https://verdadpacifico.org/wp-content/uploads/2020/01/carta.pdf; https://www.justiciaypazcolombia.com/las-exigencias-de-leyner-palacios-al-presidente-ivan-duque/
[8] https://verdadabierta.com/la-otra-cara-de-la-guerra-en-choco-el-reclutamiento-forzado/