Die verfassungswidrige Situation in der Guajira hält an

Nov 2, 2020

Von Stephan Suhner

Das Verfassungsgericht Kolumbiens hatte mit dem Urteil T-302 von 2017 anerkannt, dass die humanitäre Lage in der Guajira verfassungswidrig ist. Die Unterernährung und hohe Kindersterblichkeit gefährde den Fortbestand der indigenen Wayúu wegen Nahrungs- und Wassermangel und fehlenden Möglichkeiten, an Entscheidungsprozessen teilzunehmen. Mit dem Urteil wurden die nationale Regierung und 25 weitere Behörden aufgefordert, einen Aktionsplan zu erarbeiten, der die generelle und systematische Verletzung der Grundrechte auf Wasser, Nahrung und Partizipation zu überwinden hilft. Indem die humanitäre Situation als verfassungswidrig erklärt wurde, machte das Verfassungsgericht die Unfähigkeit der Verantwortungsträger sichtbar, Massnahmen zu treffen, um den Wayúu-Gemeinschaften würdige Lebensbedingungen zu ermöglichen und die Mangelernährung und die Kindersterblichkeit zu reduzieren.

Heute, 22 Monate später, und nachdem das Gericht in Riohacha unzählige Gesuche der Regierung um Fristverlängerung bewilligt hatte, gibt es immer noch keinen Aktionsplan. Auch wurden zehn frühere Urteile nicht erfüllt und auch vorsorgliche Massnahmen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission wurden nicht umgesetzt. Die Vorgaben des Urteils T-302 wurden nie in die Entwicklungspläne des Departements und der Gemeinden aufgenommen, folglich gibt es auch keine Aktivitäten und kein Budget dafür. Auch gibt es keinen echten Dialog zwischen den Behörden und den Autoritäten der Wayúu darüber, wie die humanitäre Krise angegangen werden soll. Die tragische Folge davon sind weitere verstorbene Wayúu-Kinder: Zwischen der Veröffentlichung des Urteils T-302 im Februar 2017 und 2020 wurden 63 Kinder registriert, die wegen Mangelernährung und damit verbundenen Krankheiten verstarben. Hunderte brauchen dringend bessere Lebensbedingungen, um sich gut entwickeln zu können.

Das Büro des Ombudsmannes für Menschenrechte (Defensoría) und die Kontrollbehörden haben die Erfüllung des Urteils T-302 eng begleitet, Berichte verfasst und Alarm geschlagen, weil das Urteil nicht umgesetzt wird. Da das Gericht in Riohacha aber immer wieder Fristverlängerungen bewilligt, kann den staatlichen Behörden keine Missachtung des Urteils vorgehalten werden und das Gericht in Riohacha hat bisher – obwohl es die mangelnde Umsetzung konstatiert – keine Nichtbefolgung des Urteils festgestellt, womit die Verantwortlichen der Nichterfüllung zur Rechenschaft gezogen werden könnten.

Die Situation der Wayúu-Kinder hat sich wegen der COVID19 Pandemie noch verschärft, und trotz all der Frühwarnungen haben viele Gemeinschaften keine humanitäre Hilfe erhalten. Zudem gibt es keine genauen Zahlen zur Sterblichkeit der Wayúu-Kinder während der Pandemie. Bis heute wurden im Jahr 2020 32 Todesfälle von Kindern registriert, aber die Dunkelziffer könnte hoch sein. Bis heute wurde das vom Verfassungsgericht angeordnete Überwachungs- und Informationssystem nicht eingerichtet und gibt es keine verlässliche Datengrundlage. Zudem wurden 91% der Auskunftsbegehren der zivilgesellschaftlichen Beobachtungsgruppe von den Behörden nicht beantwortet, die restlichen 9% nur sehr allgemein.

Die Zivilgesellschaftliche Beobachtungsgruppe (Veeduria Ciudadana) für die Umsetzung des Urteils T-302 von 2017 hat deshalb im Oktober 2020 einen ausführlichen Bericht veröffentlicht. Das oberste Ziel müsse es sein, die Wayúu-Kinder und ihre Gemeinschaften in den Gemeinden Manaure, Riohacha, Maicao und Uribia zu schützen. Der Bericht enthält eine detaillierte Analyse der Information und überprüfte die Situation vor Ort in Bezug auf die Umsetzung. Der Bericht zieht Schlussfolgerungen und gibt Empfehlungen ab für dringliche Massnahmen, um die Auflagen des Urteils umzusetzen. Alles was an Unterstützung für die Kinder in den ersten fünf Jahren nicht gemacht wird, hat lebenslange Konsequenzen für ihre persönliche Entwicklung, aber auch auf die soziale Entwicklung der ganzen Region.

Die Veeduria fordert das Gericht in Riohacha auf, keine weiteren Fristverlängerungen mehr zu gewähren und die Nichtbefolgung des Urteils T-302 festzustellen. Die zuständigen Behörden werden dringlichst aufgefordert, kurz-, mittel- und langfristige Pläne zu erstellen, um die verfassungswidrige Situation zu verbessern. Die Menschenrechts- und Kontrollbehörden werden aufgefordert, das Monitoring der Umsetzung zu verstärken und Disziplinarmassnahmen gegen die Verantwortlichen der mangelnden Umsetzung einzuleiten.

Quelle:

https://www.fucaicolombia.org/informe-veedura-sentencia-t302