Die Fehlregierung des Lehrlings: Autoritarismus, Krieg und Pandemie
Von Stephan Suhner
Bericht der Menschenrechtsplattformen über das zweite Regierungsjahr von Präsident Duque
Am 9. September 2020 veröffentlichten die drei Menschenrechtsplattformen Koordination Kolumbien – Europa – USA CCEEU, die Alianza und die Plattform für Demokratie und Entwicklung (Plataforma DESC), die gemeinsam über 500 soziale und Menschenrechtsorganisationen repräsentieren, den Bericht über das zweite Regierungsjahr von Duque. Der Bericht heisst El desgobierno del aprendiz – autoritarismo, guerra y pandemia (Die Fehlregierung des Lehrlings: Autoritarismus, Krieg und Pandemie). In sieben Kapiteln wird auf die Menschenrechtslage, die Umsetzung des Friedensabkommens sowie die soziale Situation angesichts von COVID19 eingegangen. Am 22. September hatten wir von der Plattform Schweiz Kolumbien einen Austausch mit vier VertreterInnen der kolumbianischen Plattformen: Jomary Ortegón und Alirio Uribe vom Anwaltskollektiv CAJAR in Vertretung der Plataforma DESC, Alberto Yepes von der CCEEU und Lida Nuñez von der Alianza.
Alberto Yepes ging in seinem Beitrag auf die katastrophale Menschenrechtslage und die sich verschärfende Sicherheitslage in verschiedenen Landesgegenden ein. Dieses Jahr wurden schon 216 soziale Führungspersonen ermordet, es ist eine eigentliche Ausrottung des Leaderships in den Regionen. Ebenso wurden bisher 43 ehemalige Kämpfer der FARC umgebracht, und es kam zu einem massiven Anstieg an Massakern. Das erste Massaker war dasjenige in El Tandil (Nariño) vom Oktober 2017, als es zu Zusammenstössen wegen der Kokaausrottung kam. Von 11 Massakern in 2017 stiegen die Zahlen auf 29 im Jahr 2018, 36 im Jahr 2019 und 61 bis Mitte September 2020! Die Regierung beschuldigt monokausal den Drogenhandel für die ganze Gewalt, als ob die Regierung mit all dem nichts zu tun hätte. Alberto Yepes betont, dass das Drogenproblem nicht gelöst werde. Der vierte Punkt des Friedensabkommens zur Kokasubstitution werde nicht umgesetzt und der Drogenanbau mit Gewalt unterdrückt. Die Armee wird zur Kokaausrottung und zur gewaltsamen Niederschlagung der Proteste gegen die Ausrottung eingesetzt. Es gibt immer mehr Hinweise auf eine Zusammenarbeit oder zumindest ein Gewährenlassen der staatlichen Sicherheitskräfte mit den Paramilitärs, die wiederum im Dienste des Drogenhandels stehen. Fast scheine es, dass die Armee den Drogenhandel beschützt, und es gebe zahlreiche Verstrickungen von hohen Regierungsfunktionären mit dem Drogenhandel, so Yepes. Sorge bereitet Alberto Yepes auch die Tatsache, dass verschiedene Aufsichts- und Justizbehörden, die unabhängig arbeiten sollten, mit Uribisten besetzt seien, so das Ombudsbüro für Menschenrechte, die Disziplinarbehörde Procuraduria und die Generalstaatsanwaltschaft. Durch die Reaktionen der Regierung auf den vom Obersten Gerichtshof angeordneten Hausarrest von Alvaro Uribe sieht Yepes die Unabhängigkeit der Justiz in Gefahr. Er mahnt an, dass es eine enge Beobachtung dieser Vorgänge und eine Verteidigung der Unabhängigkeit der Richter und Gerichte brauche.
Unter Duque seien verschiedene hohe Militärs befördert worden, die wegen Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden, wie der ehemalige Oberkommandierende der Armee, General Nicacio Martinez. Innerhalb der Armeeführung habe sich eine harte Linie durchgesetzt. Das Verteidigungsbudget wurde erhöht, um den hohen Personalbestand von über einer halben Million Militärangehörigen zu finanzieren. Alberto Yepes vertritt die Ansicht, dass die Regierung eine Sicherheitskrise absichtlich herbeiführt und dabei schon auf die Wahlen von 2022 schielt: Inmitten der Unsicherheit wollen sie dann Sicherheit anbieten und so die Wahlen 2022 als reaktionäre, extrem rechte Regierung wieder gewinnen, um Alvaro Uribe Velez Straffreiheit zu garantieren. Yepes hält fest, dass die Massaker seit dem Hausarrest von Alvaro Uribe sprunghaft angestiegen seien, 23 seit dem Urteil des Obersten Gerichts. Zudem werden viele Massnahmen aus der Regierungszeit von Uribe reaktiviert, einerseits der Slogan von der harten Hand, oder mit den Zonas Futuro werden die Rehabilitierungs- und Konsolidierungszonen der Regierungszeit von Alvaro Uribe wiederbelebt. In diesen fünf Zonas Futuro, die sich auch mit den Regionen der PDETs überschneiden, ist die Verwaltung der Armee unterstellt, auch die Entscheidungen über Investitionen. Was zudem auffalle, so Yepes, sei, dass es dort am meisten Massaker und Morde gebe, wo die Regionen am stärksten militarisiert seien. Alberto Yepes schloss seine Ausführungen mit der Bemerkung, es gehe in den nächsten zwei Jahren darum, soweit wie möglich Schaden für die Menschenrechte und den Frieden zu verhindern.
Lida Nuñez von der Alianza befasste sich in ihren Ausführungen mit der simulierten Umsetzung des Friedensabkommens, dass die Regierung vorgebe, das Abkommen zu erfüllen. Dies sei vor allem ein Diskurs für die internationale Gemeinschaft. Tatsächlich gebe es bei vielen Punkten des Abkommens grosse Rückstände. Gerade Mitte September habe die Regierung Duque Rechenschaft abgelegt über den Stand der Umsetzung. Dabei sagte Präsident Duque, dass seine Regierung den Landfonds bisher mit 600‘000 Hektaren Land gespiesen habe, von angestrebten 2 Millionen Hektaren. Bis jetzt hat aber kein einziger Kleinbauer auch nur eine Hektare Land erhalten. Vielmehr gebe es auf Ebene der Gesetzgebung und bei der praktischen Umsetzung Rückschritte. Beispielsweise wird massiv staatliches Brachland, das für die Übertragung an Landlose, Kleinbauern und ethnische Minderheiten vorgesehen ist, an ausländische Unternehmen für Agroindustrie und extraktive Projekte vergeben. Im Endeffekt handle es sich um eine Agrar-Gegenreform.
Duque rühmt die Fortschritte bei den Entwicklungsplänen mit territorialem Fokus PDET. Tatsächlich gebe es 16 Pläne, bestätigt Nuñez, aber die Finanzierung und Umsetzung liege erst bei 2%. Auch stammen viele der Mittel aus dem Programm „Infrastruktur statt Steuern“, in dem Unternehmen anstatt Steuern zu bezahlen, Bauarbeiten verrichten oder finanzieren, Strassen asphaltieren oder Schulen errichten. Der neue Mehrzweck-Kataster mache auch keine grossen Fortschritte, seit drei Jahren gebe es lediglich drei Pilotprojekte. In diesem Bereich brauche Kolumbien dringend finanzielle und technische Unterstützung.
Beim zweiten Punkt des Friedensabkommens gebe es ebenfalls grossen Rückstand: Zwar gebe es Fortschritte beim Rechtsrahmen für die Opposition (estatuto de oposición), aber in der Praxis sei dessen Wirkung sehr beschränkt. Das Gesetz über Rechte und Garantien für sozialen Protest werde im Parlament nicht behandelt, während den Protesten mit zunehmender Repression begegnet werde. Auch das Gesetz Nr. 152 über partizipative Planung mache keine Fortschritte. Besonders gravierend ist für Lida Nuñez, dass es für Protest und Partizipation keine Sicherheitsgarantien gebe. Garantien für die politische Opposition seien für den Frieden aber sehr wichtig, gerade in ländlichen Gemeinden aber sehr prekär. Die ehemaligen FARC-Kämpfer sehen sich ebenfalls grossen Sicherheitsproblemen gegenüber, nicht nur auf individueller Basis, sondern sogar dahingehend, dass gewisse kollektive Wiedereingliederungsräume wegen Sicherheitsproblemen nicht bestehen bleiben können. Lida Nuñez wie auch Alberto Yepes beklagen die mangelnde Umsetzung der Vereinbarungen über eine alternative Drogenpolitik, vor allem was die freiwillige Substitution der Kokapflanzungen anbelangt. Dies und die militarisierte gewaltsame Ausrottungsstrategie seien wesentliche Treiber für die Gewalt gegen soziale Führungspersonen. Kleine Kokapflanzer würden verfolgt, während die grossen Finanzflüsse des Drogenhandels unangetastet bleiben. Abschliessend sagt Nuñez, dass sie im Bericht vom frustrierten Frieden sprechen, das heisst von einer eingefrorenen Umsetzung und von der Weigerung, mit dem ELN wieder Verhandlungen aufzunehmen.
Jomary Ortegón sprach vor allem über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf soziale und wirtschaftliche Rechte. Ins Auge sticht, wie die Regierung Banken und grosse Wirtschaftskonglomerate mit viel Geld unterstützt, die KMUs aber ihrem Schicksal überlässt. Duque habe dank Corona aus seinem Formtief von Ende 2019 herausgefunden, wo seine Zustimmung wegen den Protesten und der mangelnden Regierungseffizienz stark gesunken war. Während der Corona-Pandemie regierte Duque mit dem Ausnahmezustand, erliess viele Dekrete, was zu einer autoritären Tendenz führte. Zudem konnte er viel Geld verteilen und trat praktisch täglich im Fernsehen auf. Die Pandemie hat aber auch schonungslos die Defizite des kolumbianischen Gesundheitssystems aufgedeckt, auch was die äusserst prekären Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals und den Versicherungsschutz der Patienten betreffen.
Auch das Bildungssystem ist durch COVID19 stark beeinträchtigt, da virtuelle Klassen nur bedingt gangbar sind, wenn 50% der Bevölkerung keinen Internetzugang haben. Auf dem Land sind es gar nur 9%. Das verschärft auch die Bildungsbresche zwischen Stadt und Land. Weitere direkt durch COVID19 verursachte oder verschärfte Probleme sind vermehrte Armut und Hunger, stark gestiegene Arbeitslosigkeit und ein Anstieg der häuslichen Gewalt. Die Regierung weigert sich aber beispielsweise, der weitverbreiteten Forderung nach einem Grundeinkommen während der Pandemie nachzukommen.
Die Präsentation dieses Berichtes erfolgte in Kolumbien am 9. September, am Nationalen Tag der Menschenrechte. An jenem Tag starb Javier Ordoñez durch Polizeigewalt, weil er Corona-Ausgangsregeln missachtete. Daraufhin kam es zu spontanen Protesten, die teilweise auch gewalttätig wurden. So wurden mehrere lokale Polizeistationen CAI angezündet. Die Polizei ihrerseits reagierte mit verhältnisloser Gewalt auf die doch meist friedlichen Proteste. Es wurde gezielt auf Demonstrierende und Passanten geschossen. Alberto Yepes bezeichnete diese Erschiessungen von Passanten als vorsätzliche Tötungen, die mit Billigung der Regierung geschahen. Alirio Uribe betonte, dass es seit Beginn der Amtszeit von Duque viele Proteste gab, dass diese aber 2019 massiv anstiegen. Kaum wurde die Isolierung wegen COVID19 aufgehoben, kam es wieder zu Protesten. Angesichts der vielen Probleme, der Armut und der fehlenden staatlichen Unterstützung in der Krise, werden die Proteste weitergehen. Die Frage sei lediglich, ob der Angstdiskurs der Regierung Duque oder die Wut über die vielen Lügen der Regierung mehr Leute beeinflusst. Die Proteste werden durch die Regierung massiv deslegitimiert, es kommt zu brutaler Repression. Dabei ist das Recht auf Protest ein Grundrecht. Seit August 2019 gab es bei Protesten 1600 Festnahmen, 120 Strafanzeigen (judicializaciones) und über 500 Verletzte. 28 junge Menschen verloren wegen den Handlungen des ESMAD ein Auge. Hinter den Protesten sieht die Regierung wahlweise Dissidenzen der FARC, das ELN oder den Drogenhandel. Anlässlich der Studentenproteste 2019 sagte der Verteidigungsminister, 20 öffentliche Universitäten seien vom ELN infiltriert und stigmatisierte damit sämtliche Studentenproteste. Angesichts der Übergriffe des ESMAD und der Polizei im Herbst 2019 und nun im September 2020 sei eine Reform der Polizei unerlässlich, so Alirio Uribe. Die Polizei müsse aus dem Verteidigungsministerium herausgelöst und ziviler Kontrolle unterstellt werden. Die Einsatzdoktrin von Polizei und Armee müsse ebenfalls überarbeitet werden. Vor allem müsse das Bild vom inneren Feind, das noch so präsent und einsatzbestimmend sei, überwunden werden. Die Polizei müsse unterstützt werden bei der Schulung in der menschenrechtskonformen Handhabung der Proteste. Die Verwendung tödlicher Waffen oder die Verwendung nicht tödlicher Waffen aus nächster Nähe müssen verboten werden.
Die vier ReferentInnen gaben auch verschiedene Empfehlungen ab. Die internationale Unterstützung von Regierungen, Botschaften und internationalen Organisationen sei wichtig und sichtbar. Sie sind aber der Meinung, dass sich die internationale Gemeinschaft noch deutlicher äussern dürfte, insbesondere die europäischen Staaten. Sie könnten das auch indirekt tun, beispielweise über die UNO, in den entsprechenden Instanzen wie dem Menschenrechtsrat, und indem sie die in Kolumbien präsenten UNO-Organisationen und das UNO-Menschenrechtsbüro stärken. Dringend sei, den Schutz von sozialen Führungspersonen und MenschenrechtsverteidigerInnen zu stärken, es brauche Sicherheitsgarantien für die Partizipation in den Regionen. Unter anderem wäre öffentlicher Rückhalt für das Recht auf friedliche Proteste wichtig, und die Anwendung des Dekretes 1190 über das Recht auf Protest sollte eingefordert werden. Zehn Besuche von UNO-Sonderberichterstattern sind ausstehend und wurden bisher von der kolumbianischen Regierung nicht bewilligt. Die internationale Gemeinschaft müsse auf der Durchführung dieser Besuche beharren und auch den Empfehlungen von Michel Forst, dem ehemaligen Sonderberichterstatter für MenschenrechtsverteidigerInnen Nachdruck verleihen. Insbesondere seine Empfehlungen zur Auflösung und Bekämpfung des Paramilitarismus und über die Funktionsweise der Nationalen Kommission für Sicherheitsgarantien sind enorm wichtig. Zudem sollte die internationale Gemeinschaft die Regierung bei der Reform der Sicherheitskräfte unterstützen. Ein Auge sollte die internationale Gemeinschaft auch auf die Unabhängigkeit der Justiz werfen. Spezifisch an die Schweiz gerichtet wünschen sich die vier NGO-VertreterInnen eine Fortsetzung der Unterstützung bei der Umsetzung des Friedensabkommens, in humanitären Belangen und in der Stärkung der zivilgesellschaftlichen Stimmen sowie Unterstützung für politische Reformen in Bereichen wie Drogenpolitik oder Handel mit Edelmetallen.