Der Überlebenskampf der Awá zwischen Pandemie, bewaffnetem Konflikt und drohender Wideraufnahme der Antidrogen-Sprühflüge

Mrz 30, 2021

Von Stephan Suhner

In der ersten Märzhälfte organisierte die Kommission für Frauen und Familie (Consejeria Mujer y Familia) der Indigenen Einheit des Volkes der Awá (UNIPA) mit Unterstützung des Observatoriums der Indigenen Völker Kolumbiens OADPI und der Bewegung für den Frieden MDPL aus Katalonien eine virtuelle Lobbyreise, an der sich die ask! beteiligte. Wir organisierten je einen Austausch mit der Schweizer Botschaft in Bogotá und der Abteilung Frieden und Menschenrechte[1] des Aussendepartements EDA, sowie mit dem Sonderberichterstatter der UNO für Indigene Völker. Bei den Lobbygesprächen nahmen Claudia Pai und Leidy Pai der Kommission für Frauen und Familie teil.

Die Inkal Awá (Menschen der Berge) leben in der Pazifikregion von Nariño. Die UNIPA ist eine der Organisationen des Volkes der Awá. Die Awá sind in 32 Reservaten organisiert und umfassen 133 Gemeinschaften mit 24‘902 Personen. Sie leben in den politischen Gemeinden Tumaco, Barbacoas, Ricaurte, Roberto Payán und Samaniego. 2020 feierte die UNIPA ihr 30-jähriges Bestehen.

Der Konflikt und der Kokaanbau habe das Leben der Awá grundlegend verändert. Claudia Pai, Consejera Awá erinnert sich, wie sie sich als Jugendliche im Wald, an den Flüssen, und im ganzen Territorium frei bewegen konnte. Die Flüsse und Bäche waren sauber, man konnte problemlos darin baden. Sie begleitete ihren Grossvater zum Jagen und Fischen. 1999 begannen plötzlich massive Waldrodungen, 2000 tauchten Kokafelder auf. Tausende Kleinbauern flüchteten vor dem Drogenkrieg aus dem benachbarten Departement Putumayo und liessen sich in der Pazifikregion von Nariño nieder. Auch die FARC hatten in dieser Region ihr Rückzugsgebiet. Viele bauten Koka aus wirtschaftlichen Gründen an, da die Preise für legale Landwirtschaftsprodukte kaum die Anbaukosten deckten, und mit der Koka konnte man Geld verdienen. Auch Awás begannen Koka anzubauen.

Der Krieg und die Koka brachten aber tiefgreifende soziale Veränderungen mit sich und erhöhten die Gewalt gegen die Awá-Frauen. Vor allem kam es zu sexueller Gewalt, zu Vergewaltigungen etc. Claudia erinnert sich, wie sie als Mädchen die ganze Zeit von ihren Eltern vor den FARC und den Soldaten gewarnt wurden, weil diese böse Menschen seien. Sie hatten als Kinder und Jugendliche immer Angst wenn sie Waffen sahen, fürchteten sich vor den Flugzeugen und versteckten sich immer unter Bäumen oder in den Häusern. Sie waren die ganze Zeit auf der Hut, waren auch psychisch sehr angespannt. Die Militarisierung und die vielen Gefechte führten dazu, dass sie zeitweise in den Gemeinschaften eingesperrt waren, dass Antipersonenminen ihre Bewegungsfreiheit einschränkten; es gab auch Morde und Massaker.

Ab 2004 begannen die Sprühflüge mit Glyphosat, die Menschen wurden krank, v.a. Hautkrankheiten und Durchfall, Frauen brachten missgebildete Kinder zur Welt. Die Heilpflanzen gingen verloren, es konnte weniger Nahrung angebaut werden, der Mais ging durch die Besprühungen kaputt. Das ganze Ökosystem litt darunter, die Flüsse wurden vergiftet, die Fischbestände gingen zurück, selbst die heiligen Orte der Awá blieben nicht verschont. Es gab viele bisher unbekannte Krankheiten und viele Familien, v.a. die Kinder, litten unter Unterernährung. Claudia sagt rückblickend, dass Ex-Präsident Uribe mit dem Plan Colombia ihr gutes Leben massiv beeinträchtigt hat. Das viele Geld, das plötzlich zirkulierte, schädigte die sozialen Netzwerke und das Gemeinschafts- und Familienleben der Awá stark. Viele Männer hatten Geld, gingen ins Dorf und konsumierten Drogen und Alkohol, gingen zu Prostituierten und brachten sexuell übertragbare Krankheiten zurück. Auch die Gewalt in der Familie und in den Paarbeziehungen nahm zu. Immer wieder kam es vor, dass Männer mit einer anderen Frau fortgingen, oder mit einer neuen Frau nachhause kamen und die bisherige Frau mit den Kindern fortjagten. So gab es plötzlich viele alleinerziehende Mütter. Auch gab es viele Witwen, da die Männer gefoltert und umgebracht wurden. Die Frauen wurden vergewaltigt und erniedrigt und mussten dann als Überlebende alleine für die Kinder sorgen.

Claudia Pai ist ganz klar für Alternativen zu einer rein militärischen Lösung, mehr Militarisierung führe nur zu mehr Gewalt. Sie setzt auf Dialog zur Lösungssuche, auf die Umsetzung des Friedensabkommens und dem Programm der freiwilligen Kokasubstitution PNIS. Die Awá haben zwar beim PNIS nicht mitgemacht, weil sie nicht vorgängig konsultiert wurden gemäss ILO-Konvention 169 und weil die FARC Dissidenzen Druck gegen die Substitution ausübten. Wenn wieder besprüht wird, wird sich die tragische Geschichte von Hunger und Krankheiten wiederholen. Der Drogenkrieg ist nicht die Lösung und wird die Gefahr des kulturellen und physischen Aussterbens verschärfen.

Bisher gibt es 7‘000 vertriebene und 772 ermordete Awá, 30 davon allein letztes Jahr (2020). Zudem kam es zu 14 Rekrutierungen von Minderjährigen. Während der Pandemie haben die Rekrutierung und die Gewalt zugenommen. Die Gewalt drückt sich in selektiven Morden, Drohungen, gewaltsamer Vertreibung, Zwangsrekrutierung, Gefechten, Umweltschäden und Schäden am Territorium aus. Die Awá-Frauen sind vom bewaffneten Konflikt, der Pandemie und der Gendergewalt betroffen. Sexuelle Gewalt – insbesondere durch illegale bewaffnete Gruppen – ist ein grosses Problem für die Awá-Frauen. Die Gewalt schränkt die Frauen extrem ein in ihrem Leben und den täglichen Verrichtungen wie das Waschen im Fluss oder die Art sich zu kleiden. Die Frauen als tejedoras de vida (Weberinnen des Lebens) sind für den Erhalt der Kultur sehr wichtig und spielen in den Gemeinschaften eine Schlüsselrolle. Die Frauen geben die Kultur weiter, aber auch dies wird durch die Gewaltakteure behindert. Die Kultur und v.a. die Sprache drohen verloren zu gehen und es gibt kulturelle Entwurzelung. Die Frauen versuchen, gegenüber den Gewaltakteuren nicht als indigene Frauen sichtbar zu sein, da sie das mehr gefährdet und eher Übergriffe drohen. Deshalb kleiden sich viele Awá-Frauen nicht mehr traditionell, verwenden die Jigra (Umhängetasche) oder auch die traditionellen Körbe nicht mehr, die sie aus traditionellen Materialien herstellen. Es gibt Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit, wie beispielweise Zeiten um in die Resguardos hinein und hinauszugehen, unsichtbare Grenzen die von den illegalen bewaffneten Akteuren gesetzt werden. Frauen erleiden eine Zunahme an Aggressionen und Gewalt es kommt vermehrt zu Frauenmorde und zur Rekrutierung Minderjähriger. Mitglieder bewaffneter Gruppen versuchen zu erwirken, dass sich junge Frauen in sie verlieben und so in den Konflikt hineingezogen werden. Die negativen externen Einflüsse belasten die Beziehung zwischen Mann und Frau, die Ernährung, die Erziehung der Kinder.

In dieser Situation spielt die Kommission für Frauen und Familie (Consejeria de Mujer y Familia) eine wichtige Rolle, wie Claudia Pai und Leidy Pai in den Gesprächen ausführen. Die Frauen spielen bei den Awá eine wichtige Rolle, sie haben politische Rechte und Mitbestimmung. Die Consejería unterstützt die Frauen darin, sich für Ämter in den Gemeinschaften und Reservaten aufstellen zu lassen. Die Rollen der Frauen sollen gestärkt werden, sie sollen sich wieder getrauen, teilzunehmen und sich zu äussern. Auch gibt es spezielle Ausbildungen im Kommunikationsbereich, damit Frauen Informationen aufarbeiten und verbreiten können, sich getrauen ein Mikrofon zu ergreifen oder auch in einem Radioprogramm mitzuwirken. Weiter gibt es Workshops und Kurse, wo die Frauen allgemein über humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte oder auch z.B. spezifisch über sexuelle Gewalt sensibilisiert werden und ihre Rechte einzufordern lernen. Wichtig ist auch, die Frauen beim Anbau von Heil- und Nahrungspflanzen zu unterstützen und Kurse im Bereich traditionelle Medizin oder Herstellung der traditionellen Kleidung durchzuführen. Besonders wichtig ist es, das Erlernen und Weitergeben der Sprache zu fördern, da wegen des Konfliktes auch die Sprache zu verloren gehen droht, da sich die Awá nicht mehr als Awá zu erkennen geben getrauten. Um diese Punkte einzufordern, haben die Awá einen Plan zur integralen Wiedergutmachung erarbeitet, in dem diese Forderungen enthalten sind.

Gegenüber der Schweizer Regierung erbaten Claudia und Leidy vor allem Unterstützung für Schutzmassnahmen und ein Besuch der Schweizer Botschaft gemeinsam mit anderen Botschaften vor Ort. Der UN-Sonderberichterstatter für indigene Völker Francisco Cali Tzay, ein Maya-Indigener aus Guatemala, kannte die Situation der Awá „leider“ – wie er beim virtuellen Treffen mit ihm sagte – schon. Er sagte ebenfalls einen Besuch zu, sobald es die Pandemie zulasse. Er interessierte sich v.a. für die Situation der Awá-Frauen in Städten und für die Auswirkungen der Sprühflüge auf die Awá. Zu den Awá-Frauen in den Städten führten Claudia und Leidy aus, dass früher Awá-Familien auf dem Markt ihre Töchter Personen aus der Stadt mitgaben, in der Hoffnung das sie dort ein besseres Leben haben und eine Ausbildung bekommen könnten. Viele Mädchen wurden aber beinahe als Haussklaven benutzt und viele auch sexuell missbraucht. Es gibt viele Awá-Frauen in Pasto, die nie mehr zu ihren Familien und in ihr Territorium zurückkehrten. Einige dieser Frauen haben nun aber begonnen, sich an die Consejería zu wenden, um zu ihren Wurzeln zurück zu finden.

 

[1] Ehemals Abteilung Menschliche Sicherheit