Nach über einem Monat der Proteste und der brutalen Repression ist kein Ende der Auseinandersetzungen in Sicht

Mai 18, 2021

Von Stephan Suhner

Am 28. April 2021 haben mit dem Nationalstreik breite Proteste der kolumbianischen Bevölkerung begonnen, die nun seit über einem Monat andauern und trotz massivster staatlicher und parastaatlicher Repression nicht abflauen. So gab es am 28. Mai erneut einen massiven, landesweiten Protesttag. Wie schon früher war Cali ein Epizentrum des Widerstands sowie auch deren brutalen Bekämpfung, es gab 12 Tote und 98 Verletzte, 54 davon mit Schusswaffen. Landesweit hat die Polizei seit dem 28. April offenbar 59 Personen getötet, 866 verletzt, 70 davon mit Feuerwaffen, und 2‘152 Personen willkürlich verhaftet. 346 Menschen sind verschwunden.

Generell hat wohl das Friedensabkommen mit seiner demokratischen Öffnung ermöglicht, dass die Bevölkerung mehr demonstriert und ihre Anliegen auf die Strasse trägt. 2020 waren trotz der Pandemie unter anderem die Studenten, Indigene und auch die Kleinbauern aktiv. Die momentanen Proteste knüpfen an den Nationalstreik vom November 2019 an.
Ursprünglich war der jetzige Streik ausgerufen worden, um gegen eine umstrittene Steuerreform zu protestieren, die schwerpunktmässig die untere Mittelschicht getroffen hätte, v.a. über die Ausdehnung der Mehrwertsteuer auf Güter des täglichen Bedarfs. Gleichzeitig wurden Unternehmen steuerlich begünstigt und eine grosse Summe für Kampfflugzeuge ausgegeben. Die soziale Krise, das schlechte Management der Corona Pandemie, die schleppende Umsetzung des Friedensabkommens sowie die Gewalt gegen soziale Führungspersonen sind weitere Gründe für die Proteste.

Verlauf der Proteste
Nach dem Nationalen Streiktag vom 28. April kam es am 1. Mai zu ersten weiteren massiven Protesten, die in der Folge nicht abbrachen. Die Regierung reagierte mit der Diffamierung der Protestierenden und insbesondere der Organisatoren der Proteste, die in die Nähe der illegalen bewaffneten Gruppen und der Drogenhändler gerückt wurden. Die Regierung sprach denn auch konsequent von urbanem Terrorismus und Vandalismus.
In Cali, einem der Hotspots der Proteste, griffen die Sicherheitskräfte am 3. Mai nachts mit bisher ungekannter Härte ein. Im Viertel Siloé wurde aus Helikoptern Tränengas und scharfe Munition verschossen, die Polizei folgte friedlich Demonstrierende bis in die Häuser hinein und schoss auch auf Flüchtende. In jener Nacht gab es mehrere Tote und Dutzende Verletzte.
Vom 28. April bis am 4. Mai starben in Cali zwischen 11 und 15 Person auf Grund der Polizeigewalt. Trotzdem brachen die Proteste nicht ab, sondern dehnten sich im Gegenteil noch viel weiter aus. Sie zeichnen sich durch die Breite der teilnehmenden sozialen Sektoren und durch die geographische Verbreitung aus: Immer wieder gab es selbst in kleinen Dörfern und abgelegenen Regionen Proteste (in 700 Gemeinden wurden Protestaktionen registriert) und in den grossen Städten wie Medellín, Bogotá, Popayán und Cali gingen Zehntausende auf die Strasse. In der letzten Zeit verlagerte sich das Hauptgewicht der Proteste von Cali in Armenviertel und Vororte von Bogotá wie Usme oder Bosa.

Die Protestformen sind äusserst kreativ, mit Musik, Tanz und Perfomances. Ebenso treten neue Sektoren und soziale Gruppen auf, nach den Jugendlichen der „Primera Línea[1]“ gibt es nun beispielsweise auch „Mamás de la Primera Línea“. Auf Transparenten wird die staatliche Repression angeprangert, mit Slogans wie „Mutter, wenn ich nicht mehr nachhause komme, hat mich der Staat umgebracht“. In Cali kam die Guardia Indígena (Indigene Garde – Sicherheitskräfte der indigenen Gemeinden) den bedrängten Demonstranten zu Hilfe, wurde dann aber ihrerseits von bewaffneten Personen in Zivil angegriffen. In verschiedenen Städten wurden Demonstranten aus zivilen, weissen Offroadern und LKWs angegriffen, wobei sich in vielen Fällen herausstellte, dass es sich um Polizisten handelte oder die Polizei und die Armee die bewaffneten Zivilisten schützte oder begleitete. Zudem kam es zu vielen Festnahmen von Demonstranten, wobei zur Zeit von Hunderten von Personen der Aufenthalt nicht bekannt ist.

Die Verhandlungen
Nebst der Repression versuchte die Regierung Duque die Demonstrationen mit Zugeständnissen und Versprechen zu schwächen. So zog die Regierung nach vier Tagen die umstrittene Steuerreform zurück und der Finanzminister Carrasquilla musste abtreten. Den Demonstranten geht es aber um viel mehr. Viele fordern den Rücktritt der Regierung, «Duque muss weg»; mit weniger geben sie sich nicht mehr zufrieden. Auch das Nationale Streikkommando (Comando Nacional del Paro) hat einen umfangreichen Forderungskatalog erstellt. Die Jugend sehnt sich nach einer Zukunftsperspektive, verlangt eine Bildungsreform und den Erlass der Studiengebühren. Weiter wird immer noch ein Grundeinkommen zur Milderung der sozialen Folgen der Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie gefordert und eine Rücknahme der die Privatisierung begünstigenden Gesundheitsreform. Die vollständige Implementierung des Friedensabkommens und ein Ende der Morde an sozialen Führungspersonen sind weitere Forderungen. Überall im Land tagen Versammlungen der Zivilgesellschaft und eigene Forderungskataloge werden erarbeitet. Präsident Duque offerierte nach etwa zehn Tagen Protest einen Nationalen Dialog, wie er ihn schon 2019 offerierte und der schon damals keine konkreten Ergebnisse zeigte. Insbesondere hat sich Duque aber mit den Wirtschaftsverbänden, mit Gouverneuren und Bürgermeistern, mit den Botschaften und der Kirche sowie mit ein paar handverlesenen Jugendlichen getroffen.  Das Nationale Streikkommando fordert aber richtige Verhandlungen. Das erste Treffen zwischen Nationalem Streikkommando und Regierung vom 10. Mai endete denn auch ohne Ergebnis.

Die Politisierung des Protests
Seither geht die brutale Repression unvermindert weiter. In sozialen Netzwerken wird zu Selbstjustiz aufgefordert, so z.B. zur Zerstörung des Sitzes des Regionalen Rates der Indigenen des Cauca (CRIC) in Popayán. Ex-Präsident Uribe und Mitglieder der Partei Centro Democrático, und Vertreter der Sicherheitskräfte überbieten sich derweil mit Brandreden oder -Tweets und martialischen Ankündigungen, diese und jene Stadt von Vandalen und urbanen Terroristen zu säubern. Am 25. Mai nachts brannte beispielsweise der Justizpalast in Tuluá (Valle) nieder. Sofort wurden Demonstranten dafür verantwortlich gemacht, u.a, die „Primera Linea“. Der Justizminister sprach nicht mehr nur von Vandalismus, sondern von gezielten terroristischen Akten. In Popayán beging eine junge Frau, die von Polizisten vergewaltigt wurde, später Selbstmord. Dies hat wiederum Frauen im ganzen Land auf die Strasse getrieben, da sexuelle Gewalt gegen Frauen eines der Kennzeichen der Repression ist. In Tunja hat die Polizei eine Demonstration von Frauen durch das Zünden von Blend- und Schockgranaten und Tränengas in einer engen Strasse aufgelöst und mehrere Frauen in der Polizeistation festgehalten. Dabei wurden Frauen über den Boden geschleift und gedemütigt. In Cali ist zudem die Rede von illegalen Haftzentren im Bürokomplex der Stadtverwaltung und sogenannten Hackhäusern (casas de pique), wo Festgenommene ermordet und ihre Leichen zerstückelt werden. Diese Modalität war v.a. aus Buenaventura bekannt. Ebenso sollen Jugendliche mit Offroadern mit verdunkelten Scheiben ausserhalb der Stadt gebracht und dort ermordet werden. Zeugen berichten, dass im Caucafluss Leichen treiben würden.

Neuste Entwicklungen
In den letzten Tagen des Monats Mai hat sich die Situation noch weiter verschärft. Einerseits kam es zwar zu Abgängen in der Regierung: Claudia Blum trat als Aussenministerin zurück und wurde durch die Vizepräsidentin Marta Lucia Ramirez ersetzt, und der Präsidiale Friedensbeauftragte Miguel Ceballos, der auch mit der Streikbewegung verhandeln sollte, warf das Handtuch wegen Unstimmigkeiten mit Ex-Präsident Uribe. Gleichzeitig radikalisiert sich der Diskurs der Regierungspartei und rechten Sektoren. So fordert das Centro Democrático, dass die Armee eingesetzt werden soll, um die Blockaden notfalls mit Gewalt, aber unter Einhaltung der Menschenrechte (sic!) zu räumen. Das nationale Territorium soll militarisiert werden, um so die Demokratie und den Rechtsstaat zu retten. Duque verkündete, dass er nicht mit dem Nationalen Streikkomitee verhandeln werde, solange Blockaden und Gewalt andauern.
Am selben Tag (28. Mai) wie die landesweiten Grossdemos stattfanden, veröffentlichte die Regierung von Iván Duque das Dekret 575, mit dem acht GouverneurInnen und 13 BürgermeisterInnen die Bekämpfung von Streikblockaden Hand in Hand mit dem Militär und der Polizei befohlen wird. Wer sich nicht daran halte, werde sanktioniert, heißt es im Regelwerk. Wie die Amtsträger, die sich der Order verweigern sanktioniert werden, steht im Dekret nicht, aber die Procuraduría (Verwaltungsaufsichtsbehörde) kann Amtsträger, die Bestimmungen zur öffentlichen Ordnung nicht befolgen, für bis zu 60 Tage suspendieren.  Für das Streikkomitee ist das Dekret ein teilweiser De-facto-Ausnahmezustand, weil jegliche institutionelle Aufsicht beseitigt, das Militär an der Kontrolle der Proteste beteiligt und die Zivilbehörden den Militärbefehlshabern unterstellt werden. Dies gleiche einem Putsch, so das CNP. Das Dekret zielt auf Städte und Departemente, in den die Widerstandsbewegung besonders stark ist, wie Valle del Cauca, Cauca und Nariño oder Städte wie Cali, Buga, Yumbo, Buenaventura in Valle del Cauca oder Madrid und Facatativá, ein Vorort von Bogotá, oder Popayán in Cauca.

Reaktionen aus dem Ausland und Position der ask!
International wird die Repression in unterschiedlicher Deutlichkeit kritisiert und zu Dialog aufgerufen. Sehr deutlich äusserte sich schon in einem frühen Moment Juliette de Rivero vom UNO Menschenrechtsbüro in Bogotá, worauf die kolumbianische Regierung beklagte, dass die UNO das Vertrauen zerstöre. Die EU, verschiedene EU-Länder, die US-Regierung und auch die Schweiz äusserten sich. Teilweise wurden die verschiedenen Gewaltformen (Gewalt durch Sicherheitskräfte und das Randalieren einzelner Demonstranten) auf dieselbe Ebene gestellt oder jegliche Gewalt undifferenziert verurteilt. Wiewohl es wichtig ist, allgemein zu Gewaltfreiheit aufzurufen, kann es doch nicht sein, dass eine zerbrochene Scheibe mit durch Polizeimunition getötete Demonstranten verglichen wird. Die kolumbianische Regierung antwortet auf all diese internationale Kritik damit, dass Kolumbien ein Rechtsstaat sei mit Gewaltentrennung, dass der Gewalteinsatz detaillierten Einsatzregeln folge und das Recht auf friedliche Demonstration absolut gewährt sei. Die kolumbianische Demokratie sei durch Vandalismus und urbanen Terrorismus bedroht. Diese Ausflüchte sind der Gipfel des Zynismus. Ein Problem ist gerade, dass die Regierung Duque die Gewaltenteilung ein Stück weit aufgehoben hat und wichtige Kontrollinstitutionen wie die Defensoría oder die Procuraduría in der Hand von Freunden Duques sind. Die Menschenrechtsplattformen beklagen, dass das Ombudsbüro für Menschenrechte (Defensoría) die Proteste nicht genügend begleitet und sich weigert, Klagen über Gewalt und Missbrauch aufzunehmen und auch die Generalstaatsanwaltschaft nur sehr selektiv Untersuchungen anstrengt (vorwiegend gegen Demonstranten und nicht gegen die Sicherheitskräfte). Lange Zeit hat die kolumbianische Regierung es auch abgelehnt, internationale Beobachter der UNO oder der Interamerikanischen Menschenrechtskommission CIDH ins Land zu lassen. Nun hat die Regierung ihre Haltung geändert: in der 2. Juniwoche wird eine Delegation der CIDH nach Kolumbien reisen und die Menschenrechtssituation überprüfen.

Die ask! ist zutiefst besorgt über die massive staatliche Gewalt und Repression sowie über die Stigmatisierung und Verleumdungen, denen die Protestierenden ausgesetzt sind. Der Regierung Duque fehlt es an Dialogwillen und elementarstem Verständnis für die Sorgen, Ängste und Träume der Jugend und der benachteiligten Bevölkerungskreise. Die ask! fordert einen sofortigen Stopp der Repression und der Militarisierung der Städte, die Freilassung aller inhaftierten friedlichen Demonstranten und die Bekanntgabe der Aufenthaltsorte der in Polizeihaft Verschwundenen, eine juristische Aufarbeitung der übertriebenen Gewaltanwendung durch die zivile und nicht durch die Militärjustiz, sowie der Beginn nationaler und regionaler Verhandlungen über die berechtigten Forderungen der Demonstranten. Ebenso ist es wichtig, dass die Regierung internationale Verifizierungsmission der UNO oder der Interamerikanischen Menschenrechtskommission bedingungslos und rasch zulässt.

 

Recht aktuelle Zahlen, Bulletins und Pressemitteilungen zu den Protesten sind bei defendamos la libertad zu finden: https://defenderlalibertad.com/

Die NGOs Temblores (https://www.temblores.org/) und Indepaz (http://www.indepaz.org.co/) veröffentlichen ebenfalls Analysen und aktuelle Zahlen zur staatlichen Repression gegen die Proteste.

Auf der Seite des Gewerkschaftsdachverbandes CUT sind die Communiqués des Nationalen Streikkommandos zu finden: https://cut.org.co/comunicado-del-comite-nacional-de-paro-lo-que-vamos-a-decir-al-presidente-de-la-republica/

Empfehlenswert ist ebenfalls die Webseite des Indigenen Regionalrates des Cauca CRIC: https://www.cric-colombia.org/portal/

Die Plataforma Colombiana de Derechos Humanos, Democracia y Desarrollo https://ddhhcolombia.org.co/

Für Infos auf Deutsch ist die Seite von kolko e.V. in Berlin empfehlenswert: https://www.kolko.net/

Auch Amerika21 berichtet regelmässig über die Proteste: https://amerika21.de/geo/kolumbien

 

[1] Die ‘Primera Linea’ ist eine Gruppe von Jugendlichen (seit Kurzem gibt es auch eine Gruppe von Müttern, die das gleiche Ziel verfolgen), die nur mit selbstgebastelten Schutzschildern und rudimentären Masken und Handschuhen die Protestierenden vor der Staatsgewalt schützen wollen. Sie sind als Antwort auf die übermässige Gewalt entstanden, die seitens der öffentlichen Sicherheitskräfte während der landesweiten Proteste seit November 2019 immer wieder ausgeübt wurde.