29.04.2018
Fieberträume des ewigen Frühlings
29.04.2018 | Von Lukas BeckerIm Rahmen des Jubiläums zum 30jährigen Bestehen der ask! im August und September 2017 organisierte die Regionalgruppe Bern einen Poetry Slam zu Menschenrechten im Berner Kulturlokal ONO. Vor vollen Rängen präsentierte Lukas Becker seinen Text zu Medellín und der Comuna 13, den er uns hier zur Lektüre zur Verfügung stellt.
In einem fernen Land der Welt
Der Frühling ewig Wache hält
In einem Tal so schön und warm
Die Menschen lebten, oftmals arm
Doch eigentlich ganz ruhig dahin
In einer Stadt namens Medellín
Doch dann legte sich ein Fiebertraum
So langsam auf die Stadt hernieder
Drang bald ein in jede Ritze
Frieden war ihm schwer zuwider
Und schon bald herrscht dort ein Krieg
Vom weissen Pulver ausgelöst
Die Gier der Menschen bald entblösst
Und manche Arme machte zu Reichen
Doch die Viertel füllte und füllte mit Leichen
Der armen Menschen Träume weichen
Giers scheinbar unhaltbarem Sieg
Ja es traf mal wieder all die Armen
Die leben müssen ohne Erbarmen
Und halt Pech, damals als Kind
Nicht reich geboren worden sind
Dort leben sie an steilen Hängen
In kleine Hütten sie sich zwängen
Anstrengende Tage in sonniger Hitze
Das Pulver zu spüren in jeder Ritze
Verdrängt die Träume, die bleiben halt liegen
Man ist froh was zu essen oder keine Kugel abzukriegen
Ihre Entwicklung
Ihr Leben
Gar alles wird verschwiegen
So auch heute an dem Tag
Wo's wieder eskalieren mag
Soldaten sind jetzt angerückt
Die unachtsam, Gewehr gezückt
Die Strassen nun zu säubern suchen
Doch eigentlich nur Kommission abbuchen
Um die Todesquote zu erfüllen
Indem sie Zivilisten als Feinde verhüllen
Die Strassen die sind Feindesland
Ja jegliche Menschlichkeit verschwand
Sobald sie beginnen, wie sie es auch schreien
Die Menschen dort von den Banden zu befreien
Und mal wieder tobt‘s
Soldaten gegen Banden jagen sich durch Gassen
Lassen sich von Massen Zivilisten wieder hassen
Schuss um Schuss sie sich verpassen
Im Versuche sich zu fassen
Und sie schiessen, rennen, schreien
Motivieren ihre Reihen
Sonnen sich in Kampfes Glanz
Und ziehen dann mal kurz Bilanz
Wie durch ein Wunder blieben alle Kontrahenten
Heil, verschont
Aber dafür nicht 4 Kinder
Na dann hat’s sich ja gelohnt
Und eine Mutter die ihr Kind
In diese Welt hat kommen sehen
Sieht es nun wieder langsam
Aus eben dieser gehen
Doch es lohnt sich,
Den dafür kann bei uns der Tom so richtig koksen
Kann sein Glück so voll auslotsen
Die Nacht mal wieder schön durchfeiern
Scheissegal muss er dann reiern
Legendär soll alles sein
Und weisses Pulver ist ganz fein
Schon teuer aber er gönnt sich mal
Wie soll er sonst auch den Geschmack so schal
Des Alltags aus dem Kopfe kriegen
Inspiriert von Eintagsfliegen
Lebt er halt eben an der Grenze
Und fürs Gutmensch sein ist er doch vegan
Ist grundsätzlich zahm
Und war beim Schaman
Sein Karma wieder kurz abchecken
Er weiss ja nicht, dass wegen seinem Hobby Menschen verrecken
Er zieht sich ne Line rein, des Pulvers so rein fein
Das Leben ist dein meint er und rollt sich n Schein klein
Der Blick schon ganz wirr scheint
Er sich im Paradies meint
Blickt um sich herum schreit
Das Leben ist geil
Das Leben ist kurz meint
Die Mutter die nun weint
Ihr Kind ist nun tot, wofür weiss sie nicht
Sie kennt keinen Tom, er interessiert sie auch nicht
Und in dem unerwiderten Blick
In dieser Stille und Leere die lauter nicht schreien könnte
Erwacht dieses Kind nun wieder zum Leben
In einem von allen gespürten, metaphorischen Beben
Erwacht nun der Wille
Laut gegen die Stille
Des sozialen Vergessens
Nun zückt sie Mutter, was ihr noch geblieben
Entfaltet ein weisses Tuch und von Wut angetrieben
Geht sie durch die Strassen und schwenkt es als Fahne
Ruft Leute herbei in scheinbarem Wahne
Und in steigender Anzahl entlädt sich im Hasse
Die Waffe der Armen, die Stimme der Masse
Gefüllt nun die Strasse, mit weissen Fahnen
Verstummt die Gewehre, wer konnte es ahnen
Und so bringt Frieden den Tag –
Doch nicht die Geschichte zu Ende
Denn dieser Tag soll stehen als Wende
Als von innen und aussen man beginnt zu entdecken
Dass sich in den Armen auch Menschen verstecken
Sie wollen nicht viel
Sie wollen einfach leben
Wollen, dass man weiss
Wenn sie sich erheben
Wollen mehr sein als Statistik
Eine Randnotiz in der Zeitung
Nicht nur Oper des Handels
Nicht nur Opfer der Zeit
Ungeheuerlich kräftig
Waren sie kurz, und mächtig
Und hat man dort auch auf sie gehört
Der Krieg wurde bald schon von Frieden gestört
Und wirkt‘s in den Strassen dort auch schon viel ruhiger
Geht’s anderswo weiter, wird stetig absurder
Sie standen auf für sich selbst
Wer steht sonst für sie ein
Für die Bauern, für die Umwelt
Für die Welt die so klein
Halt nicht ist
Es geht um ein bisschen Pulver
Weiss und beglückend
Wäre das legal
Wär’s schon nicht mehr so drückend
Dann ginge die Macht dieser Banden bald flöten
Und Tom müsste für sein Hobby nicht mehr aus Versehen Menschen töten.
Hintergrund: Operación Mariscal und Comuna 13
Die Comuna 13 dehnt sich über grosse Teile des westlichen Medellín aus und war lange Zeit der Inbegriff von Gewalt und Illegalität im sogenannten "urbanen Krieg" Kolumbiens. Die Gründung dieses Stadtteils erfolgt in den späten 1960ern und frühen 1970er Jahren und wurde vor allem durch interne Flüchtlinge vom Land vorangetrieben, welche sich in sogenannten "Invasionen", das heisst offiziell nicht anerkannten Siedlungen niederliessen.
Es war diese Abwesenheit staatlicher Anerkennung und Präsenz, welche schon früh zur Folge hatte, dass sich sowohl Bürgervereinigungen als auch eher links gerichtete Milizen bildeten, um das Vakuum öffentlicher Ordnung zu füllen. Aufgrund der strategischen Lage der Comuna 13, welche direkt an der Hauptverkehrsader Medellíns mit dem Westen des Landes liegt, wurde diese schon bald ein strategisches Ziel für die Hauptakteure des Konfliktes in Kolumbien wie den Drogenkartellen, Paramilitärs, Guerillas und schliesslich auch des Staates. Die Guerillas hatten, um in den Verhandlungen mit der Regierung Pastrana Stärke zu zeigen, eine landesweite Offensive begonnen, welche sich zunehmend auf das städtische Umfeld ausrichtete.
Aufgrund zunehmender Präsenz sowohl der FARC als auch des ELN in der Comuna 13, welche von den dortigen Milizen um Hilfe gerufen worden waren und befeuert vom offensiven Charakter der Präsidentschaft Álvaro Uribes, beschloss die Regierung in den frühen 2000ern die Kontrolle über das Stadtgebiet zu erlangen. Was folgte, war eine Vielzahl militärischer Operationen unter massivem Truppen- und Materialeinsatz sowohl der Polizei als auch des Militärs und der Luftwaffe. Darunter wohl am berüchtigtsten waren die Operationen Mariscal (Marschall) am 21.Mai 2002 und Orión, welche während mehrerer Tage im Oktober desselben Jahres vollzogen wurde. Bei beiden Operationen war es vor allem die Zivilbevölkerung, welche bei den Kämpfen im dicht besiedelten Gebiet zu Schaden kam und so regte sich auch viel Kritik am rücksichtslosen Vorgehen seitens der staatlichen Akteure. Obwohl die staatlichen Kräfte die Kontrolle über die Comuna 13 gewinnen konnten, waren es vor allem die Paramilitärs, welche von diesem Machtwechsel profitierten und sich mit scheinbarer Einwilligung der Regierung an Stelle der Milizen installierten. Was folgte, war eine weitere Welle der Gewalt und der Vertreibung, welche in der Erinnerung vieler Bewohner nun als staatlich gewollt angesehen wird.
Noch bis heute prägen die Erlebnisse dieser Operationen stark das Selbstbild der Comuna 13, als auch ihr Bild nach aussen und es ist diese konstante Assoziation mit Gewalt und Krieg, welche eine Vielzahl von gemeinschaftlichen und künstlerischen Organisationen zu überwinden suchen, um der Comuna eine neue Geschichte jenseits von den Auseinandersetzungen zu geben.
Nimmt man heutzutage die Graffititour des lokalen Hip-Hop Kollektivs Casa Kolacho durch die Comuna 13, so findet man Gemälde, welche über Ereignisse jenseits der Milizen, Militärs, Drogenhändler und Kriminellen erzählen. Geschichten über eine Gemeinschaft von Menschen, welche abseits des Konfliktes einen Anspruch auf ein Leben in Würde und sozialer Anerkennung erhebt und mehr sein möchte, als nur Schauplatz eines Krieges.
Eines dieser Gemälde erzählt eine Geschichte der Operation Mariscal, als eine Mutter, deren junge Tochter im Schusswechsel zwischen Militär und Milizen verwundet wurde, hinausging auf die Strasse, ihr weisses Taschentuch schwenkte und damit ein Ende der Auseinandersetzung forderte. Sie begann alleine, doch ihr folgten mehr und mehr und schlussendlich war die Strasse voll mit wehenden weissen Tüchern. So stark war diese Geste, dass die Kontrahenten ihre Kampfhandlungen einstellten und abzogen. Die Operation Mariscal war beendet.
Auf dem Gemälde zu sehen sind weinende Elefanten, welche weisse Tücher schwenken. Ein Symbol all jener, welche Angehörige und Kinder an diesen Konflikt verloren und niemals vergessen werden, was damals geschah. Und so steht das Bild als Zeichen der Erinnerung und als Zeichen einer Gemeinschaft welche dem Konflikt entgegentrat und einstand für sich selbst und für eine Zukunft ohne Krieg und Tote.
Weiterführende Lektüre:
- Gallo, Héctor/ Jiménez Zuluaga, Blanca Inés, u. A.: Dinámicas de Guerra y Construcción de Paz, Estudio Interdisciplinario del Conflicto Armado en la Comuna 13 de Medellín, Medellín 2008.
- Centro Nacional de Memoria Histórica: Medellín, Memorias de una Guerra Urbana, Medellín 2017.
- http://www.eltiempo.com/archivo/documento/CMS-11784861
- http://www.askonline.ch/fileadmin/user_upload/documents/Kolumbien-aktuell/ka348.pdf