Territoriale Dynamik des bewaffneten Konflikts

Nov 30, 2018

Von Fabian Dreher

Das deutsch-kolumbianische Friedensinstitut CAPAZ[1], eine Kooperation von fünf deutschen und fünf kolumbianischen Universitäten, begleitet den Friedensprozess in Kolumbien aus akademischer Sicht. Im Oktober 2018 publizierte das Institut ein Arbeitspapier über die territoriale Dynamik des bewaffneten Konflikts[2] vor und nach dem Friedensabkommen von 2016 in der südlichen Pazifikregion, insbesondere in der Gemeinde Tumaco, die wir hier nachzeichnen wollen.

Die Gemeinde Tumaco liegt im äussersten Südosten Kolumbiens, an der Grenze zu Ecuador und an der Pazifikküste. Auf dem Gebiet von Tumaco leben ca. 210‘000 Menschen, davon über 80 Prozent AfrokolumbianerInnen und etwa 4,6 Prozent Indigene, hauptsächlich Awá. Indigenenreservate und Gemeinschaftsterritorien der AfrokolumbianerInnen machen einen grossen Teil des Gemeindegebiets aus. Bis auf die Strassenverbindung des Hafens von Tumaco mit dem Landesinnern wird Tumaco bis heute vom kolumbianischen Staat vernachlässigt.

Auch für bewaffnete Organisationen war die peripher gelegene Gemeinde lange nicht sonderlich interessant. FARC und ELN kamen erst in den 1980er Jahren in die Region und breiteten sich in den 1990er Jahren zunehmend aus. Erst ab 1999 bauten auch die Paramilitärs mit dem Bloque Libertadores Sur eine Präsenz in der Region auf. Parallel dazu kam es vermehrt zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit der Guerilla der FARC. Die Guerilla konnte sich im Kampf zuerst gegen die Paramilitärs, ab 2006 dann gegen paramilitärische Folgeorganisationen durchsetzen und die territoriale Kontrolle erlangen. Die Gewalt nahm in der Folge ab. Insbesondere auch dank der Friedensverhandlungen zwischen den FARC und der kolumbianischen Regierung. Seit der Demobilisierung der FARC Anfang 2017 nimmt die Gewalt wieder stark zu. FARC-Einheiten, die sich dem Friedensprozess nicht anschlossen, ELN, paramilitärische Organisationen und Drogenkartelle liefern sich einen von Gewalt gezeichneten Streit um die Kontrolle von Territorium und Drogenhandel.

Generell ist die regionale Konfliktdynamik in Kolumbien oft eng mit illegalen Wirtschaftstätigkeiten verbunden: illegaler Bergbau, Kokaanbau und Drogenhandel sowie generell der Schmuggel von legalen und illegalen Waren. So auch an der südlichen Pazifikküste in Tumaco. Bis in die 1990er Jahre ging die Gewalt in Kolumbien vor allem von den Drogenkartellen aus Medellín und Cali aus. Kokaanbau und Drogenhandel konzentrierten sich in anderen Landesgegenden, entsprechend blieben Nariño und Tumaco bis weit in die 1990er Jahre hinein von der Gewalt verschont. Die Mordrate lag deutlich unter dem nationalen Durchschnitt. Die FARC verstärkte schrittweise ihre Präsenz in der Gegend, dies führte jedoch mangels anderer bewaffneter Organisationen kaum zu einer Zunahme von bewaffneten Auseinandersetzungen. Unter Duldung durch die FARC nutzte teils das Calikartell die Region als Schmuggelroute für in Putumayo produzierte Kokainbase. Die staatlichen Sicherheitskräfte zeigten nur sporadisch ihre Präsenz in der Region.

Nachdem die Guerilla der FARC-EP Mitte der 1990er Jahre die Region um Tumaco effektiv kontrollierte, breitete sich ab 1999 der Bloque Libertadores Sur der Paramilitärs in der Region aus. Gleichzeitig verschob sich ein Teil des Kokaanbaus durch die staatliche Bekämpfung aus Caquetá und Putumayo nach Nariño, darunter in die Region Alto Mira y Frontera der Gemeinde Tumaco. 1999 überstieg die Mordrate in Tumaco erstmals den nationalen Durchschnitt, auch kam es zwischen 1999 und 2003 erstmals zu Zwangsvertreibungen der Zivilbevölkerung. Die Zunahme des Kokaanbaus führte zu einem verstärkten Interesse der bewaffneten Organisationen an den Einnahmen aus Drogenproduktion und –handel. Während die FARC eher Gebühren für den Anbau in den von ihnen kontrollierten Gebieten im Hinterland bezogen, kontrollierten die Paramilitärs zunehmend die Schmuggelrouten und den Export und schöpften so grosse Gewinne ab.

Dank der Ley de Justicia y Paz demobilisierten die Paramilitärs zwischen 2003 und 2006. Sie wurden jedoch direkt abgelöst durch Folgeorganisationen wie Los Rastrojos, Los Pelusos und den heute noch aktiven Clan del Golfo. Durch die Vermehrung der bewaffneten Akteure nahm auch die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung zu. Zwischen 2007 und 2013 stabilisierte sich der Kokaanbau in der Gemeinde Tumaco auf hohem Niveau. Die Zivilbevölkerung war vor allem im Umfeld von Kokaanbau und Drogenschmuggel von der Gewalt der bewaffneten Gruppierungen betroffen. Los Rastrojos, die 2006 noch grosse Teile der Schmuggelrouten auf den Flüssen kontrollierten, verloren zunehmend an Terrain. So kontrollierten die FARC ab 2013 effektiv nicht nur den Anbau, sondern auch den Handel, Schmuggel und Export von Kokain in Tumaco. In dieser Zeit vervierfachte sich die Kokaproduktion. Durch die faktische Hegemonie der FARC sowie die laufenden Friedensverhandlungen mit der kolumbianischen Regierung kam es zu einer Abnahme der Gewalt in der Region.

Ende 2016 unterzeichneten die FARC gemeinsam mit der Regierung den Friedensvertrag von Havanna. Ab Februar 2017 demobilisierten die FARC-KämpferInnen und zogen sich in den Übergangs- und Normalisierungszonen (heute ECTR) zusammen. Bereits vor 2017 zeigte sich jedoch, dass nicht alle FARC-Einheiten bereit waren zu demobilisieren. In Tumaco bildeten sich zwei dissidente Gruppierungen die auch heute noch aktiv sind. Die sogenannte Frente Oliver Sinisterra befehligt von alias El Guacho und die Guerillas Unidas del Pacifico unter alias David. Während auf nationaler Ebene die Gewalt mit dem Friedensschluss stark abnahm, bleibt sie in Gegenden wie Tumaco, Catatumbo oder Urabá hoch. Dies hängt eng mit der fortgesetzten Präsenz bewaffneter Organisationen zusammen.

In vielen Gegenden, die früher von den FARC kontrolliert wurden, haben andere bewaffnete Organisationen diese abgelöst: ELN und EPL in Catatumbo, der Clan del Golfo in Antioquia und Córdoba, etc. In anderen Gegenden wie z.B. Guaviare und Putumayo kontrolliert eine einzelne dissidente FARC-Einheit das Gebiet weiter. In Tumaco jedoch machen sich zwei dissidente Einheiten Geschäft und Territorium streitig. Auch sind in der Region mehrere paramilitärische Folgeorganisationen wie auch mexikanische Kartelle direkt in den Drogenhandel involviert, was zusätzlich zur Konfliktdynamik beiträgt. In der Summe mischen viele bewaffnete Organisationen auf allen Stufen der Kokaproduktion und des Drogenhandels mit, daraus resultiert die vergleichbar hohe Gewalt. Die enge Verbindung der dissidenten FARC-Einheiten ergibt sich aus dem historischen Kontext: im Gegensatz zu anderen Fronten wurde die sogenannte Columna Móvil Daniel Aldana von den FARC erst 2002 geschaffen mit dem klaren Ziel, mehr Geld aus dem Drogenhandel zu gewinnen. Während andere Fronten den Drogenhandel nebenbei betrieben oder nur „Gebühren“ abschöpften, war die Front in Tumaco von Beginn weg eng in den Drogenhandel involviert. Die dissidenten Gruppierungen führen entsprechend einfach das frühere Geschäft weiter.

Was bedeutet dies für die Zukunft von Tumaco? Leider im Moment nichts Gutes. Solange die Anbauflächen von Koka weiterhin zunehmen und sich auch weiterhin verschiedene bewaffnete Akteure um die Kontrolle von Territorium und Drogenhandel bekämpfen wird die Zivilbevölkerung weiterhin ins Kreuzfeuer geraten. In den ländlichen Gegenden von Tumaco, wo die Koka angebaut wird aber auch in den urbanen Quartieren von Tumaco, wo teils die Schmuggelrouten Richtung Pazifik durchführen.